Archiv


Vor 100 Jahren wurde der Geiger Nathan Milstein geboren

Ich mochte die Geige nicht. Überhaupt konnte ich mir nicht recht vorstellen, dass ein normales Kind Freude daran finden könne, auf einem Instrument zu üben - außer, es war ein bisschen verrückt. Ich jedenfalls war ein völlig normales Kind und wollte Fußballer werden.

Von Michael Stegemann |
    Aus dem "normalen Kind” Nathan Milstein, der am 31. Dezember 1904 in Odessa zur Welt kam, wurde dann doch kein Fußballer, sondern einer der größten Geiger des 20. Jahrhunderts - der letzte Vertreter jener legendären russischen Violin-Tradition, der er über seine Lehrer Piotr Stoljarsky und Leopold Auer verbunden war. Schon das Debüt des Zehnjährigen machte Sensation: Alexander Glasunows Violinkonzert unter der Leitung des Komponisten - ein Werk, das zeit seines Lebens eines von Milsteins "Schlachtrössern” bleiben sollte.

    Milstein wurde schnell berühmt und begann, kreuz und quer durch das alte Russland und die junge Sowjetunion zu touren - seit 1921 im Duo mit einem drei Monate jüngeren Pianisten aus Kiew, Vladimir Horowitz. Als "Kinder der Revolution” feierte sie die Presse, doch beide hielt es nicht lange in der Heimat, die immer tiefer im Chaos versank; 1925 emigrierte Milstein erst nach Berlin und vier Jahre später in die USA, wo er mit Horowitz und dem Cellisten Gregor Piatigorsky ein hochkarätiges Klaviertrio bildete. Als Konzertsolist wurde er freilich zunächst eher zurückhaltend aufgenommen: Sein Spiel sei zwar technisch souverän, musikalisch aber nicht wirklich berührend.

    So kam es, ja. Die Technik des Geigenspiels ist ja nicht sehr schwierig - ich beherrschte sie mit sieben Jahren -, es ist die Musik; man braucht Jahre, ein ganzes Menschenleben, um sie zu meistern.

    Tatsächlich war es wohl Nathan Milsteins unsentimental geradliniges, intensives Spiel - ohne alle Manierismen und Effekte -, an dem sich die Geister schieden. Bei aller künstlerischen Freiheit, die er sich als Interpret erlaubte, war Milstein alles andere als ein "Show”-Geiger: keine süßlichen Portamento-Schluchzer, kein exzessives Vibrato, keine virtuose Willkür, sondern ein ganz im Dienst der Musik stehender Ausdruckswille. Seinen Schülern an der New Yorker Juilliard School vermittelte er dasselbe Credo, zu dem sich auch der kanadische Pianist Glenn Gould bekannte:

    Üben Sie nicht mit den Fingern - üben Sie mit dem Kopf!

    In der Ernsthaftigkeit und Schlichtheit seines Spiels war Nathan Milstein einer der modernsten Geiger seiner Zeit - ein souveräner Grandseigneur der Violine, dessen Rang man erst nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte. Sein Repertoire umfasste von Bach bis Prokofjew alle großen Konzerte und Sonaten der Literatur, aber auch viele kleinere, zum Teil selbst arrangierte Picen, mit denen er bis ins hohe Alter sein Publikum begeisterte.

    Das verdanke ich wohl meiner guten Gesundheit. Ich habe gute Nerven und Energie, und ich war nie in meinem Leben krank, auch als Kind nicht. Glauben Sie mir, das hat es in der Geschichte des Violinspiels noch nie gegeben, dass ein Geiger in meinem Alter noch ziemlich gut spielt.

    Sein letztes Konzert auf seiner "Ex-Goldmann”-Stradivari, die er auf den Vornamen seiner Frau und seiner Tochter in Marie-Thérse umgetauft hatte, gab Nathan Milstein mit 82 Jahren, gut sechs Jahre vor seinem Tod; er starb am 21. Dezember 1992 in London.