Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Vor 140 Jahren
Waghalsiger Rekordversuch durch den Ärmelkanal

Für viele Experten ist es die Geburtsstunde des modernen Sports. Vor 140 Jahren durchschwamm der Brite Matthew Webb als erster Mensch den Ärmelkanal zwischen Dover und Calais. Doch seine Abenteuerlust, nach der Kanaldurchquerung längst nicht gestillt, wurde ihm zum Verhängnis. 1883 starb er beim Versuch, die Niagarafälle zu durchschwimmen.

Von Thomas Jaedicke | 25.08.2015
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Als erster Mensch durchschwimmt der 27-Jährige Matthew Webb den Ärmelkanal ohne Hilfsmittel. (picture alliance / dpa / Franz-Peter Tschauner)
    Anders als der Name verheißt, ist Shakespeare Beach in Dover kein mondäner Ort. Nichts als schlammgrauer, grobkörniger Sand. Nur der Geruch toten Fischs weht am 24. August 1875 vom Hafen herüber. Aber die See ist ruhig und glatt, als sich Matthew Webb, in roter Seidenbadehose und mit einer dicken Schicht Fischtran eingeschmiert, bereit macht. Als erster Mensch will der 27-Jährige den Ärmelkanal ohne Hilfsmittel durchschwimmen.
    32 Kilometer Luftlinie sind es von dieser Stelle der englischen Küste bis nach Frankreich.
    "Um 12 Uhr 56 sprang Matthew vom Admiralty Pier ins Wasser", schreibt Malcolm Peel in seiner Biografie über Matthew Webb.
    "Begleitet von dem Heringstrawler "Ann" und zwei kleinen Ruderbooten begann er, mit Brustschwimmstößen Richtung Calais zu schwimmen."
    Auf der Themse geübt
    Der junge Mann ist in exzellenter Form. Als Sechsjähriger hat Matthew Webb im Severn, dem längsten Fluss Großbritanniens, der ganz in der Nähe seines Elternhauses fließt, schwimmen gelernt. Nur einen Monat vor seinem waghalsigen Rekordversuch über den Ärmelkanal schwimmt er zur Vorbereitung dieselbe Distanz in fünf Stunden auf der Themse. Doch natürlich lässt sich die Herausforderung auf dem ruhigen Fluss nicht mit den gewaltigen Strapazen vergleichen, die ihn jetzt auf dem offenen Meer erwarten.
    "Nach der ersten Stunde beginnt es wehzutun. Deine Arme schmerzen, deine Schultern schmerzen,"
    berichtet Alison Streeter. Die 51-jährige Britin hat den Ärmelkanal bisher 43 Mal durchschwommen, so oft wie kein anderer Mensch auf der Welt. 1990 bewältigt sie als erste Frau die Strecke drei Mal nonstop!
    "Dein Hirn muss ignorieren, was dein Körper mitteilt, denn dein Körper meldet Dir: Hör auf! Nach der dritten Stunde bekommst du Krämpfe. Aber nach der sechsten Stunde fängt alles an, sich zu drehen. Dein Hirn ist vom restlichen Körper abgekoppelt."
    Beginn des modernen Sports
    Viele Experten sehen in der Durchquerung des Ärmelkanals den Beginn des modernen Sports.
    "Im Großen und Ganzen gilt ja der Sport gerade in der Sicht seiner Bewunderer und Liebhaber als das Feld, in dem alles viel besser und viel schöner ist als in der Wirklichkeit."
    Der Philosoph Gunter Gebauer sieht in den Figuren der bekanntesten Sportler die wahren Helden der Moderne.
    "Und in ihnen kristallisieren sich bestimmte Figuren der Moderne, bestimmte Typen, bestimmte Kräfte, die man sehr schätzt und die in diesen Persönlichkeiten in Reinkultur vorhanden sind. Da siegt eben jemand, der über enorme Kräfte verfügt und ist im Wesentlichen über allen Zweifel erhaben."
    Zu Tode erschöpft
    Im Ärmelkanal kämpft Matthew Webb einen verzweifelten Kampf: gegen Schmerzen, Erschöpfung und Durst im 16 Grad kalten Salzwasser. Zu Beginn seines Rekordversuchs schwimmt er 20 Züge pro Minute. Jetzt - nach über 20 Stunden Anstrengung – sind es nur noch zwölf. Die Begleiter in den Booten, unter ihnen drei Journalisten und ein Zeichner, der Bilder für die Illustrated London News fertigt, muntern den einsamen, fast zu Tode erschöpften Schwimmer auf. Sie reichen Brandy, Bier und Tee. Dann ist es geschafft.
    "Um 10 Uhr 41 erreichte er am 25. August schließlich in der Nähe von Calais Land."
    Notiert Biograf Malcolm Peel über Matthew Webbs sportliche Großtat.
    "Der erste Mann, der den Englischen Kanal durchschwamm! Insgesamt war er 21 Stunden und 45 Minuten im Wasser. Und wegen der wechselnden Gezeiten musste er schließlich sogar eine Strecke von 63 Kilometern zurücklegen."
    Bei seiner Heimkehr nach England wird Matthew Webb wie ein Volksheld empfangen. Dank großzügiger Gönner hat er finanziell ausgesorgt. Doch seine Abenteuerlust, nach der Kanaldurchquerung längst nicht gestillt, wird ihm zum Verhängnis. 1883 stirbt er beim Versuch, die Niagarafälle zu durchschwimmen.
    Doch das Kanalschwimmen hat überlebt. Seit den 1920er-Jahren regelt die britische Channel Swimming Association den Ablauf. Pro Saison stürzen sich rund 70 Männer und Frauen in die Fluten. Die britische Küstenwache sieht das nicht gern. Denn der Ärmelkanal ist viel befahren. Riesige Tanker und Containerschiffe sind eine große Gefahr. Das Abenteuer, das Matthew Webb 1875 ins Leben rief, ist für jeden Teilnehmer so riskant, als würde ein Fußgänger im Berufsverkehr auf der Autobahn spazieren gehen.