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Vor 150 Jahren geboren
Gertrud Grunow - die "heilende" Bauhaus-Lehrerin

Die Musikpädagogin Gertrud Grunow unterrichtete als einzige Frau offiziell am Weimarer Bauhaus. Sie versuchte, mit ihrer Harmonisierungslehre die, wie es heißt, an innerer Verhärtung leidende Jugend zu heilen und beeinflusste dabei auch die Bauhaus-Meister Johannes Itten, Wassily Kandinsky und Paul Klee

Von Carmela Thiele | 08.07.2020
    Der markante Bauhaus-Schriftzug an der Fassade des Bauhausgebäudes in Dessau-Roßlau leuchtet in bunten Farben.
    Dem Unterricht von Bauhaus-Musikpädagogin Gertrud Grunow lag eine komplexe Systematik zugrunde, die auf einem von ihr zusammengestellten Farbkreis beruhte (picture alliance/Hendrik Schmidt/dpa-Zentralbild/dpa)
    Das Leben war hektisch geworden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte der technische Fortschritt Kommunikation, Produktion und Verkehr. Der Erste Weltkrieg hatte eine ganze Generation junger Männer traumatisiert. Reformbewegungen aller Art kamen auf, seriöse und weniger seriöse. Die Menschen sehnten sich nach Ausgleich, nach Heilung, die auch in der Kunst als Vorbedingung für einen Neuanfang galt. Von Heilung sprach auch die Musikpädagogin Gertrud Grunow in den wenigen Notizen, die aus ihrer Zeit als Bauhaus-Lehrerin überliefert sind. Sie unterrichtete nicht nur, sie "heilte" die an innerer Verhärtung leidende Jugend, erläutert die Kunsthistorikerin Linn Burchert.
    "Gertrud Grunow hat eine große Rolle gespielt am frühen Bauhaus als Pädagogin. Und sie hat im Prinzip die Schülerinnen und Schüler am Bauhaus auf die gesamte Lehre und ihre gesamte Tätigkeit am Bauhaus vorbereitet. Sie hat nicht mit ihnen das Töpfern oder Architekturentwürfe oder das Malen oder dergleichen geübt, sondern sie hat eine sehr komplexe Körper- und Geistpraxis entwickelt, mit der sie die Schülerinnen und Schüler auf die kreative Praxis vorbereitet hat."
    Grunows Ziel: die Harmonisierung von Körper, Seele, Geist
    "Diese Woche hatten wir die ersten rhythmischen Tanzstunden, es gefällt mir ausgezeichnet und es ist auch eine Weiterentwicklung der schon durch Itten eingeschlagenen Richtung. Durchbildung des Körpers, die schwere Masse ganz vom Geist, ganz vom Gefühl zu beherrschen, dass die Linie, eine Empfindung von Härte oder Schärfe wirklich durch den ganzen Körper geht und nicht im Kopf stecken bleibt",
    notierte die Bauhausschülerin Gunta Stölzl 1919. Gertrud Grunow, geboren am 8. Juli 1870 in Berlin, hatte bereits 20 Jahre als ausgebildete Gesangslehrerin im Rheinland gewirkt. Ein Sommerkurs bei dem Schweizer Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze 1908 regte sie zu eigenen Forschungen an. Am Bauhaus spielte sie am Klavier Töne an, ließ ihre Schüler Farben imaginieren und ermunterte sie, den sich einstellenden Bewegungsimpulsen zu folgen. Ihrem Unterricht lag eine komplexe Systematik zugrunde, die auf einem von ihr zusammengestellten Farbkreis beruhte. Das Ziel war die Harmonisierung von Körper, Seele und Geist.

    "Ein wichtiger Konnex zwischen ganz vielen Persönlichkeiten am Bauhaus ist die Idee, dass Farben eine heilsame Kraft entfalten können und dass Farben und Töne einander irgendwo entsprechen. Und diese Konzepte der Synästhesie und der Intermodalität, die spielen eine große Rolle bei Künstlern wie Paul Klee oder auch Wassily Kandinsky und Johannes Itten", erklärt Kunsthistorikerin Burchert.
    Besondere Nähe zu Klee
    Besonders nahe stand Gertrud Grunow der Maler Paul Klee, der selbst virtuos Geige spielte. Als Grunows Vertrag nach vier Jahren Tätigkeit am Bauhaus nicht mehr verlängert wurde, schenkte er ihr zum Abschied eine in matten Farben kolorierte Zeichnung mit dem Titel "Vorhang". Das Hochformat ist mit rhythmisch angeordneten Zeichen gefüllt und in sechs farblich abgesetzte rechteckige Segmente unterteilt.
    "Es wird nichts so richtig dargestellt. Und diese Faszination für etwas, was irgendwie verborgen ist, etwas, was verrätselt ist, was irgendwie zu etwas Innerlichem führt, das verbindet die beiden auch", so Burchert.
    Nach ihrer Bauhaus-Zeit unterrichtete Gertrud Grunow privat in ihrer Heimatstadt Berlin. Sie entwickelte ihre Harmonisierungslehre weiter, knüpfte an alte Kontakte an, etwa zu dem Entwicklungspsychologen Hans Werner, der an der Hamburger Universität im Bereich nichtkulturell geprägter Wahrnehmung forschte.
    1944 starb Gertrud Grunow 73-jährig in Leverkusen. Ihre Harmonisierungslehre, der viele Bauhäusler entscheidende Impulse verdankten, geriet in Vergessenheit. Ihr Beitrag am Erfolg der legendären Reformhochschule verblasste. Sie sei eine eher stille Persönlichkeit gewesen, sagt Linn Burchert, zwar ungemein kommunikativ und reisefreudig, doch sei es ihr nicht gelungen, ihre Lehre in einer programmatischen Schrift zusammenzufassen und zu publizieren.