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Vor 150 Jahren geboren
Philipp Scheidemann - ein Cicero der SPD

Am 26. Juli 1865 kam der spätere Sozialdemokrat Philipp Scheidemann in Kassel zur Welt. Aus armen Verhältnissen stammend, erarbeitete er sich einen allseits anerkannten Ruf als bedeutender Redner und Politiker. Im historischen Gedächtnis ist er vor allem mit einer ganz bestimmten Rede verankert.

Von Bernd Ulrich |
    Der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann (1865-1939) ruft am 09.11.1918 in Berlin vom Westbalkon des Reichstagsgebäudes die Republik aus.
    "Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik!" (9. November 1918) (picture alliance / ZB - Stefan Sauer)
    Philipp Scheidemann, geboren am 26. Juli 1865 in Kassel, entstammte ärmsten Verhältnissen. Wenn er sich nach seiner Geburt, wie er in seinen Erinnerungen schreibt,
    "... der ganzen Umgebung wegen sofort tot gelacht hätte, so wäre das vielleicht das Gescheiteste gewesen. Mancher spätere Verdruss wäre mir erspart gewesen. Aber – ich hatte wohl Verständnis für die Komik meiner Umwelt."
    Den Humor bewahrte er sich fast bis an das Ende seines Lebens – das sich indessen, nach einer Lehre als Schriftsetzer, rasch auf die Politik und den Journalismus fokussierte. Mit 18 Jahren trat er der SPD bei, 1903 zog er erstmalig in den Reichstag ein - und wurde zu einer Art Cicero der SPD, oft polemisch in seinen Reden, meist humorvoll, aber immer präzise und stilsicher.
    "Wir verzichten auf die Fortsetzung dieses Krieges"
    Das zeigte sich besonders während des Ersten Weltkriegs. Erwähnt sei nur die Friedens-Rede am 15. Mai 1917, in der er sich gleichermaßen gegen das bedingungslose "Weiter so" der Alldeutschen wandte wie gegen deren Vorwurf, der Ruf nach einem Frieden der Verständigung liefe auf einen "Verzichtfrieden" hinaus. Noch heute wirkt überzeugend, was Scheidemann darauf unter anderem antwortete:
    "Wir verzichten auf die Fortsetzung dieses Krieges, wir verzichten auf Hunderttausende Tote, Hunderttausende Krüppel, wir verzichten auf tägliche Lasten von Hundertmillionen, wir verzichten auf die weitere Verwüstung Europas, wir verzichten auf das, was wir gar nicht besitzen, wir verzichten auch auf die Illusion, dass der Krieg einen Gewinn bringen wird, der uns nicht zusteht, für den wir weitere furchtbare Opfer bringen müssten, und den wir doch nicht erreichen würden. Wir verzichten aber nicht darauf, dass das deutsche Volk als ein freies Volk aus diesem entsetzlichen Krieg hervorgeht."
    Es war diese Rede, die Philipp Scheidemann Zeit seines Lebens zum Hassobjekt aller Militaristen und Nationalisten werden ließ. In ihrer Wirkung übertroffen nur noch von seiner Rede am 9. November 1918, als er aus einem Fenster des Reichstags heraus die Republik ausrief:
    "Arbeiter und Soldaten! Alles für das Volk, alles durch das Volk! Nichts darf geschehen, was der Arbeiterbewegung zur Unehre gereicht. Seid einig, treu und pflichtbewusst! Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik!
    Als "Reichsministerpräsident" – ein Begriff, der kurzzeitig den des "Reichskanzlers" ersetzte – amtierte Scheidemann zwischen Februar und Juni 1919. Die Annahme des Versailler Vertrags, den er entschieden ablehnte, führte zu seinem Rücktritt. Am 19. Dezember 1919 nahm er das Angebot an, Oberbürgermeister seiner Heimatstadt Kassel zu werden. Ein Amt, das er bis Ende 1925 ausübte – und in dessen Verlauf er beinahe Opfer eines Attentats werden sollte.
    Öffentlicher Brief an die "hoch verehrten Mörder"
    Rechtsradikale Täter, für die er das verhasste "Weimarer System" verkörperte, lauerten ihm am Pfingstsonntag 1922 auf. Scheidemann überlebte den Säure-Anschlag nur mit viel Glück. Was ihn indessen nicht hinderte, einen öffentlichen Brief an die beiden "hoch verehrten Mörder" zu verfassen. Beim nächsten Attentat
    "... bitte ich mir nicht an den Hals zu kommen, weil ich da zu kitzlich
    bin. Da die Zigarren sehr knapp sind, bitte ich auch von Stechversuchen auf die linke Brustseite abzusehen, weil ich da meine Zigarrentasche trage."
    Nach dem Rücktritt als Oberbürgermeister versank Scheidemanns Leben in politischer Bedeutungslosigkeit, während er zunehmend mit der Politik seiner Partei haderte. Seine Ausbürgerung durch die Nationalsozialisten erlebte er im August 1933 schon in der Tschechoslowakei. Ein Jahr später nahm er Quartier in Kopenhagen. Dort starb er am 29. November 1939. Ein rezidiver Magenkrebs – physische Manifestation all dessen, was dem sozialistischen Patrioten auf den Magen geschlagen war – führte zum Tod des 74-Jährigen.
    In einem seiner letzten Wünsche bat Scheidemann, in Berlin, an der Seite seiner Frau, beerdigt zu werden. Das war damals nicht möglich und blieb es auch nach 1945, da der Friedhof im Ostteil der Stadt lag. So brachte denn im Dezember 1953 der Oberbürgermeister Kopenhagens, ein alter Freund des Verstorbenen, die Urne nach Kassel. Fast ein Jahr später erhielt Scheidemann auf dem Hauptfriedhof ein Ehrengrab – ein Vorgang, der ihn gewiss zu einem ironischen Einwurf motiviert hätte. Es war diese humorvolle Wahrnehmung der Welt, die Scheidemanns historische Bedeutung in der deutschen Politik noch vertiefte.