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Vor 175 Jahren
König Friedrich Wilhelm IV. hebt die "Turnsperre" auf

Am 6. Juni 1842 wurde per Kabinettsorder durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. die so genannte Turnsperre aufgehoben. Leibesübungen gehörten von nun an zum anerkannten "Bestandtheil der männlichen Erziehung". Der Erlass verhalf der zuvor lange Jahre verbotenen Turnbewegung in Deutschland zum Durchbruch.

Von Bernd Ulrich | 06.06.2017
    Der preußische König Friedrich Wilhelm IV im Porträt. Er lebte von 1795 bis 1861. Am 6. Juni 1842 hob er die sogenannte Turnsperre auf. Foto: imago stock&people
    Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. galt als liberaler Reformer. Er hob die Turnsperre zwar auf, bevorzugte aber die unpolitisch scheinende Gymnastik. (imago stock&people)
    "Dann den Jahnschen Turnplatz in der Hasenheide besucht, welcher mich recht bezaubert. 1000 Knaben und junge Leute – Studenten, Offiziere – sind eingeschrieben. Es sind da alle Alter von 5 – 40 Jahren und ein Frohsinn unter den Kindern, der beweiset, wie sie das Ding so recht mit Lust treiben."
    Der westfälische Verwaltungsbeamte Ludwig Freiherr von Vincke aus Münster konnte sich am 30. Mai 1816 in seinem brieflichen Bericht an die Frau Gemahlin kaum beruhigen. Es muss aber auch zu eindrücklich gewesen sein, was er auf dem Turnplatz in der Hasenheide, dem ersten überhaupt in Preußen, am damaligen Rand von Berlin, betrachten konnte. Was er sah, war mehr als die bloße Lust an der Bewegung – es war ein politisches Programm. Vinckes Freund, der in Berlin als Hilfslehrer arbeitende Friedrich Ludwig Jahn, hatte bereits 1810 damit begonnen, aus seinen Ideen zur "Volkserziehung" ein auf deutsche Patrioten zugeschnittenes Gymnastik-Konzept zu destillieren: das Turnen. Ein Begriff aus dem Althochdeutschen – und was er bedeuten sollte, erklärte Jahn gleich selbst:
    "Turn in turnen, Turner usw. ist ein deutscher Urlaut, der auch in mehreren deutschen Schwestersprachen vernommen wird, in ausgestorbenen und noch lebenden, und überall drehen, kehren, wenden, lenken, schwenken, großes Regen und Bewegen bedeutet."
    Turnen für die Wehrhaftigkeit und Vaterlandsliebe
    Das "große Regen und Bewegen" sollte gleichermaßen die Wehrhaftigkeit der Jugend bilden wie deren Vaterlandsliebe fördern. 150 Jahre später klingt das in den Worten der Professorin für Sportsoziologie an der Universität Kopenhagen, Gertrud Pfister, sehr viel prosaischer:
    "Turnen war ein umfassendes Konzept von im Alltag und im Krieg nützlichen Bewegungsaktivitäten. Dazu zählten neben Übungen an Geräten sogenannte volkstümliche Übungen wie Laufen, Springen und Werfen. Am auffälligsten waren die hohen Kletterbäume mit Leitern, Stangen und Tauen. Umliegendes Waldgelände wurde zu Kriegsspielen genutzt."
    Vor allem das "Kriegsspielen" hatte durchaus einen realen Hintergrund. So hatte sich Jahn 1813 freiwillig zu den Befreiungskriegen gegen die Franzosen gemeldet und mit ihm viele Turner. Denn die "Turnbewegung" zielte politisch auf die Vertreibung der napoleonischen Besatzungsmacht, die Abschaffung der feudalen deutschen Kleinstaaterei und die Entstehung eines deutschen Nationalstaates.
    Der Kriegseinsatz dynamisierte zwar nach 1813 die Verbreitung des Turnens im Jahn‘schen Sinne. Aber dieser Höhepunkt der Entwicklung markierte zugleich auch den vorläufigen Niedergang der Turnbewegung. Ihre politischen Ziele waren im beginnenden Zeitalter der Restauration kaum wohlgelitten. Schließlich wurde im Zuge der gegen alle liberalen und nationalen Bestrebungen gerichteten Karlsbader Beschlüsse Anfang 1820 die Turnbewegung verboten, die Schließung aller Turnplätze verfügt und Ludwig Jahn verhaftet. Die königliche Kabinettsorder vom 21. November 1819 lautete unmissverständlich:
    "Alles Turnen hat schlechterdings zu unterbleiben. Nicht allein diejenigen, die dagegen handeln sind durch Strafe und Härte davon abzuhalten, sondern auch die, welche darüber berichten."
    Gymnastik statt Turnen
    Auch die Turngerätschaften in der Berliner Hasenheide wurden abgerissen. Erst über zwanzig Jahre später erfolgte die Wiederzulassung der "Leibesübungen" durch den zunächst als liberalen Reformer geltenen preußischen König Friedrich Wilhelm IV. Allerdings immer noch mit einer scharfen Volte gegen das "frühere Turnwesen" und einer Bevorzugung der unpolitisch scheinenden Gymnastik. Sie vor allem solle nun, wie es im Kanzleideutsch einer preußisch-königlichen Kabinettsorder vom 6. Juni 1842 heißt:
    "durch eine harmonische Ausbildung der geistigen und körperlichen Kräfte dem Vaterlande tüchtige Söhne erziehen. Da nun die Gymnastik, wenn von ihr alles entfernt gehalten wird, was die physischen und insbesondere die moralischen Nachtheile des früheren Turnwesens herbei geführt hat, besonders geeignet erscheint, die Erreichung des angegebenen Zieles zu befördern, so genehmige ich, dass die Leibesübungen als ein nothwendiger und unentbehrlicher Bestandtheil der männlichen Erziehung förmlich anerkannt und in den Kreis der Volkserziehungsmittel aufgenommen werden."
    Friedrich Wilhelm IV., der damit die von Ludwig Jahn so genannte Turnsperre aufhob, konnte nicht ahnen, in welchem Ausmaß er mit seinem Erlass der deutschen Turnbewegung zum Durchbruch verhalf. Schon gut 50 Jahre später hatten sich in nahezu 6.000 Vereinen über eine halbe Million Mitglieder organisiert.