Donnerstag, 18. April 2024

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Vor 20 Jahren in Nürnberg
Das erste Mordopfer des NSU

Es begann mit dem Mord an dem 39-jährigen Blumenhändler Enver Şimşek heute vor 20 Jahren in Nürnberg. Über ein Jahrzehnt lang mordete danach der Nationalsozialistische Untergrund. Dabei war die rechtsextreme Szene von Informanten des Verfassungsschutzes durchsetzt.

Von Andreas Baum | 09.09.2020
    Eine Gedenktafel an den vom NSU ermordeten Enver Simsek am Tatort in Nürnberg (Bayern).
    Eine Gedenktafel an den vom NSU ermordeten Enver Şimşek am Tatort in Nürnberg (Bayern). (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
    Am 9. September 2000 steht, wie an jedem Samstag, im Nürnberger Stadtteil Langwasser ein weißer Kastenwagen in einer Parkbucht, davor Schnittblumen in Kübeln und Eimern. Immer wieder halten Autofahrer, um Blumen zu kaufen, aber weit und breit ist kein Verkäufer zu sehen. Erst nach 15 Uhr ruft einer von ihnen die Polizei. Als die eintrifft, findet sie im Lieferwagen einen schwer verletzten Mann. Ermittler werden feststellen, dass der 39-jährige Enver Şimşek zu diesem Zeitpunkt bereits seit mindestens einer Stunde am Boden liegt. Acht Kugeln aus zwei Pistolen haben ihn getroffen. Zwei Tage später ist er tot.
    "Wer tötete Enver Şimşek? Das ist die Frage, vor der die Beamten der Kripo Nürnberg stehen."
    Hörspielgroteske über den NSU-Prozess - Verfahren
    Es war das spektakulärste Strafverfahren der Nachwendezeit: Im Prozess um die NSU-Morde konnten in fünf Jahren längst nicht alle Fragen geklärt werden. Ein Gerichtsverfahren als gespenstische Groteske.
    Verdacht in eine bestimmte Richtung gelenkt
    Im Jahr darauf wird der Fall in der Fernsehsendung Aktenzeichen XY aufgerollt.
    "Der Mann hatte weitreichende Verbindungen. Şimşek kaufte seine Blumen in den Niederlanden ein und verkaufte sie an seinem Wohnort in Fulda, aber auch an Ständen in Süddeutschland."
    Moderator Butz Peters lenkt den Verdacht von Anfang an in eine bestimmte Richtung. Die Möglichkeit eines politisch motivierten Anschlags blendet er, wie auch Albert Vögeler von der Kripo Nürnberg, konsequent aus.
    "Die möglichen Motive sind vielfältig und reichen von einer Beziehungstat bis zur Blumenhändlerkonkurrenz. Aufgrund unserer Ermittlungen kann jedoch auch eine Abrechnung im Rauschgiftbereich nicht ausgeschlossen werden."
    Bei einer Demo gedenken Aktivisten der Menschen, die vom NSU ermordet wurden.
    Demo gegen Nazi-Terror und Rassismus (Foto: imago images / Alexander Pohl)
    Şimşeks Tochter wundert sich über die Art der Fragen
    Die überwiegende Mehrheit aller Morde in Deutschland sind Beziehungstaten, weshalb die Polizei intensiv in Şimşeks Familie ermittelte. Seine Tochter Semiya, damals 14 Jahre alt, wurde aus ihrem Internat zu ihrem sterbenden Vater ins Krankenhaus gebracht – ohne ihr mitzuteilen, was genau mit ihm geschehen war.
    "Dann kam mir schon ein Beamter entgegen, der hat mir dann die ersten Fragen gestellt, ob er denn eine Waffe bei sich hatte, ob wir bedroht wurden und sowas. Dann dachte ich, wieso stellt der mir so komische Fragen. Was hat das jetzt damit zu tun?"
    Dokumentarfilm "Spuren - die Opfer des NSU" - "Es hört ja nicht auf"
    Auch nach den Urteilen im NSU-Prozess sind noch viele Fragen offen - nicht nur für die Hinterbliebenen der Opfer. Aysun Bademsoy hat ihre Verletzungen dokumentiert.
    "Auf dem rechten Auge einfach blind"
    Die "Sonderkommission Şimşek" durchsuchte die Wohnung der Familie im Beisein der Witwe. Immer wieder äußerten die Polizeibeamten den Verdacht, sie könnte, gemeinsam mit Brüdern in der Türkei, ihren Ehemann ermordet haben. Für Semiya Şimşek, die später ein Buch über ihren Vater schrieb, ergibt sich aus den Akten, dass Vorurteile gegen Türken jahrelang die Ermittlungen beeinflussten.
    "Als wir gesagt haben, bitte ermitteln Sie doch mal gegen rechts, dann kam immer so ne Antwort, jeder Mensch hat eine dunkle Seite, und woher wollt ihr als Familie wissen, dass er doch nicht mit Drogen gehandelt hat. Man war, jetzt wissen wir das, auf dem rechten Auge einfach blind. Und die Ausrede kam immer: Es fehlt ein Bekennerzeichen."
    Die Bildkombo zeigt undatierte Porträtfotos der zehn Neonazi-Mordopfer Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic und Polizisten Michele Kiesewetter (oben, v.l.), sowie Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodorus Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat (unten, v.l). 
    Porträtfotos der zehn Neonazi-Mordopfer Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic und Polizisten Michele Kiesewetter (oben, v.l.), sowie Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodorus Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat (unten, v. (dpa / Polizei-Handouts, Norbert Försterling)
    Zerstörerische Unterstellungen
    Genau dies aber, die so genannte Propaganda der Tat, war das Markenzeichen der Terroristen, die in Wirklichkeit für den Tod Şimşeks verantwortlich waren: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe und ihr selbst ernannter "Nationalsozialistischer Untergrund" bekannten sich bis zu ihrem Ende nie zu ihren Verbrechen. Auch als weitere Morde an Migranten verübt wurden, immer nach ähnlichem Muster, suchte die Polizei die Täter ausschließlich im Umfeld der Opfer. Das Klima der Unterstellung war so zerstörerisch, dass Şimşeks Sohn Abdulkerim fortan schwieg.
    "Ich hab immer versucht zu verheimlichen, dass mein Vater ermordet wurde. Viele haben mir gesagt, okay, nicht umsonst sterben so viele Leute. Die müssen was gemacht haben. Und die Zeitungen, die Polizei, mit diesen ganzen Drogensachen. Automatisch waren wir schuldig."
    Richtige Schlüsse nach einem Jahrzehnt des Mordens
    Enver Şimşek war das erste Opfer des NSU. Bis 2011 ermordeten die Terroristen neun Migranten und eine Polizistin, verübten über 40 Mordversuche und drei Bombenattentate, hinzu kamen mindestens 15 Raubüberfälle. Obwohl das polizeilich gesuchte Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bereits zum Jahreswechsel 1997/98 in den Untergrund gegangen war, dauerte es bis zum Selbstmord der beiden Männer am 4. November 2011, bis die Strafverfolgungsbehörden und ihr oberster Dienstherr, Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, die richtigen Schlüsse zogen.
    "Es sieht so aus, als ob wir es tatsächlich mit einer neuen Form des rechtsextremistischen Terrorismus zu tun haben. Es wird jetzt darum gehen herauszufinden, welche Dimension das Ganze hat, was sich da auch seit den letzten Morden, die unter der Bezeichnung "Dönermorde" stattgefunden haben, entwickelt hat."
    Abschlussbericht zum NSU Die NSU-Morde hätte durch bessere Ermittlungsarbeit verhindert werden können. Zu dem Ergebnis kommt der 2. Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss.
    Vermutungen über mindestens 100 NSU-Unterstützer
    Der Begriff "Dönermorde" wurde 2011 zum Unwort des Jahres erklärt. Bis heute ist umstritten, ob wirklich nur drei Personen an den Taten beteiligt waren. Beobachter gehen von einem Netzwerk von mindestens 100 Unterstützern und Mitwissern aus, mit dem der NSU über ein Jahrzehnt lang unentdeckt morden konnte.