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Vor 225 Jahren gestorben
J. M. R. Lenz' Theaterstücke faszinieren bis heute

Jakob Michael Reinhold Lenz war eines der großen Genies der deutschen Literatur. Zwei seiner Theaterstücke sind bis heute aktuell: Ihr Tempo und ihr gnadenloser Realismus verfehlen ihre Wirkung auch im 21. Jahrhundert nicht. Vor 225 Jahren verstarb der Schriftsteller in Moskau.

Von Christoph Schmitz-Scholemann | 04.06.2017
    Bücherstapel
    Jakob Michael Reinhold Lenz freundete sicht mit Johann Wolfgang von Goethe an. (imago stock&people)
    In den Morgenstunden des 4. Juni 1792 fanden Passanten auf einer Straße in Moskau den Leichnam eines 41-jährigen Mannes. Es war, wie sich bald herausstellte, der deutsche Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, über den ein russischer Kollege später sagte:
    "Ach... wer sieht nicht ... in allem, was er bis zum 25. Jahre geschrieben hat, die Morgenröte eines großen Geistes ... einen jungen Shakespeare?"
    1751 war Lenz in dem kleinen Ort Seßwegen im heutigen Lettland zur Welt gekommen. In seinem Vater, einem deutschen Pfarrer, lernte Lenz schon als Kind die eisige Kälte kennen, deren ein rigoroser Protestantismus damals fähig war.
    "Ich bitte um ein Wort - und sag ich mehr,
    So lächelt eine Welt von Prügel auf mich her."
    Zum Studium der Theologie nach Königsberg
    Als Lenz 17 ist, schickt ihn der Vater nach Königsberg, wo der Sohn Theologie studieren soll. Das tut er natürlich nicht, sondern hört bei Kant die Philosophie der europäischen Aufklärung, begeistert sich für Shakespeare, beginnt selbst zu dichten und als der Vater den Geldhahn absperrt, verdingt er sich gegen freie Kost und Logis als Reisebegleiter bei zwei jungen Baronen. Dieses Brüderpaar wollte Karriere beim Militär machen und zwar in Straßburg. Das gefiel Lenz, denn Straßburg war damals das Zentrum einer blutjungen literarischen Bewegung, die man heute "Sturm und Drang" nennt. Der Weimarer Literaturwissenschaftler Lothar Ehrlich:
    "Der ‚Sturm und Drang‘ ist eine innovative literarische Bewegung in den 70er-Jahren des 18. Jahrhunderts. Eine deutsche literarische Revolution. Zur Aufklärung, zum Verstand kam die Empfindung stärker hinzu, auch die Volkstümlichkeit, eine stärkere Negierung von Gesetzen und Regeln."
    Freundschaft mit Goethe
    Zu dieser Gruppe gehört auch der junge Goethe, mit dem sich der schüchterne Lenz rasch anfreundet. Literarische Debatten, bittersüße Liebeserlebnisse und nebenher das Treiben der beiden Soldaten-Barone, denen Lenz den Haushalt führt - all das bildet den Stoff, aus dem Lenz nun in einem wahren Schreibrausch Literatur schafft, vor allem Theaterstücke. Zwei davon, die Tragikomödien "Die Soldaten" und "Der Hofmeister" stehen bis heute auf den Spielplänen.
    "Diese Dramen sind heutzutage noch sehr aktuell, weil sie auch die modernen Weltgefühle und die modernen Konfliktkonstellationen ... zur Darstellung bringen ... weil die persönlichen Konflikte zwischen den Figuren ... auch existentielle Fragen wie Sexualität, zwischenmenschliche Beziehungen in diesen beiden Dramen von Lenz ... erfasst und beschrieben werden."
    In den beiden Stücken geht es um die Liebe und ihre Gefährdungen durch falsche Erziehung und Krieg. Lenz jagt sein Personal, ganz gegen die klassischen Regeln, durch einen mitreißenden Wirbel kurzer und kürzester Szenen; Komisches wechselt mit Schrecklichem, es wird geschrien und gezecht, geflirtet und gelacht, es gibt Familienkräche und sogar die Selbstkastration eines Lehrers - ein chaotischer Kampf zwischen Konvention und jugendlicher Lebensglut.
    "Und Lenz konstruiert nichts. Er lässt die Widersprüche stehen, unversöhnt stehen. Und das fasziniert auch heute, vor allem auch das jugendliche Publikum, das sich ja vor ähnliche Fragen gestellt sieht."
    Qualvolle Wanderschaft
    Der Straßburger Glückstaumel dauert fünf Jahre. 1775 geht Goethe nach Weimar und steigt rasch zum Hofbeamten auf. Ein Jahr später kommt Lenz nach. Ein paar Wochen lang lassen die beiden Freunde die alten Zeiten hochleben, bis Lenz, man weiß bis heute nicht genau warum, mir nichts dir nichts des Landes verwiesen wird. Das trifft ihn tief. Der Rest seines Lebens wird eine qualvolle Wanderschaft. Ob Straßburg, Zürich oder bei dem Pfarrer Oberlin im Elsass - Lenz hält es nirgendwo lange aus. Das Gefühl, verfolgt zu werden, steigert sich zum Wahn.
    "Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte."
    Lenz, der seinen Vater immer wieder vergeblich um Versöhnung bat, verbrachte seine letzten Jahre in Russland. Vielleicht hat er hier, wo es zur religiösen Tradition gehört, in geistesverwirrten Menschen Heilige zu sehen, hin und wieder etwas Frieden gefunden.