Heimat des Schmerzes wird Armenien manchmal genannt: Jahrhundertelange Verfolgung, Vertreibung und vor allem der Völkermord 1915 im Osmanischen Reich haben sich tief ins kollektive Gedächtnis gegraben. Und auch, nachdem das kleine Land am Südhang des Kaukasus Teil der Sowjetunion wurde, hörten die Bedrohungen nicht auf. So kam es 1988 vor dem Hintergrund des Bergkarabach-Konfliktes in der aserbaidschanischen Stadt Sumqayit zu einem Pogrom an den Armeniern – im selben Jahr, als eine Naturkatastrophe das leidgeprüfte Volk traf:
Spitak wird Symbol der Tragödie
Am 7. Dezember, genau um 11 Uhr 41, erschüttert ein Erdbeben der Stärke 6,9 auf der Richter-Skala den Nordosten Armeniens. Es dauert weniger als eine Minute, aber die Folgen sind verheerend, die meisten Gebäude - nicht erdbebensicher gebaut - fallen wie Kartenhäuser zusammen. In der "Tagesschau" berichtet der Korrespondent vor Ort:
"Besonders betroffen ist auch Spitak, ein kleinerer Ort, in dem sich in der letzten Woche aber Tausende von armenischen Flüchtlingen aus Aserbaidschan gesammelt hatten. Es wird berichtet, dass aus einer zusammengefallenen Schule 50 tote Schulkinder geborgen wurden, und das ist nur ein Beispiel für das Ausmaß der Zerstörung."
Eisiger Winter fordert Menschenleben
Taguhi Tahiryan, heute Mitglied der Armenischen Gemeinde zu Berlin, lebte damals noch in Jerewan:
"Es hat auch in Jerewan gebebt, und ich bin dann nach Leninakan gefahren, weil, da haben wir auch Verwandte gehabt, und es war Horror. Es war Winter und sehr kalt, und Menschen, die so unter diesen Trümmern geblieben sind, vielleicht hätten auch eine Chance, in zwei, drei Tagen da rausgeholt zu werden, aber durch die Kälte sind viele trotzdem gestorben."
Anfangs sprechen Schätzungen von 80.000 oder sogar 100.000 Toten, heute geht man von mindestens 25.000 aus. Und eine kleine Stadt wurde zum Symbol der armenischen Tragödie.
"Spitak bleibe ein ewiger Friedhof, hieß es heute. Die am schwersten zerstörte Stadt werde eingeebnet."
Mitgefühl über Grenzen des Kalten Krieges hinweg
Aber das Erdbeben von Spitak ist nicht nur wegen der großen Opferzahlen in die Geschichte eingegangen.
"Im Gegensatz zu früheren Katastrophen wird diesmal über das Ausmaß des Unglücks in den sowjetischen Medien berichtet."
Staats- und Parteichef Michael Gorbatschow bricht seinen USA-Besuch ab und fährt ins Erdbebengebiet. Angesichts des unsagbaren Elends dort bittet die UdSSR zum ersten Mal seit 1945 um internationale Unterstützung. Trotz des Kalten Krieges öffnet sie ihre Grenzen auch für amerikanische und westeuropäische Erdbebenhelfer.
Riesengroß war auch die private Spendenbereitschaft, erinnern sich Achim und Rita Peilert von der Armenischen Gemeinde zu Berlin:
"Unsere Gemeinderäume waren nicht mehr zu nutzen, weil bis unter die Decke Kartons mit Kleiderspenden aufgestapelt waren, Lebensmittel kamen aus Frankreich, und ich kann mich ganz doll erinnern, dass diese berühmte Antonov in Tegel landete, dieses Riesenflugzeug wurde dann beladen, mit dem was hier in Berlin aus Westdeutschland auch ankam. Gelder, die wir hier gesammelt haben, dann wurde drüben ein Krankenhaus errichtet. Dass man ideologisch keine Bedenken mehr hatte hinter den Eisernen Vorhang zu spenden, das war für mich das Eindrucksvollste."
Und Charles Aznavour, der französische Chansonnier mit armenischen Wurzeln, sang mit über 80 Künstlern das Lied "Pour toi Armenie", das um die ganze Welt ging:
"Après l'hiver - Après l'enfer - Poussera l´arbre de vie - Pour toi Arménie!"
Doch so schnell wie hier erhofft, konnte Armenien den Winter und die Hölle von 1988 nicht hinter sich lassen. Während man noch mit den Folgen des Erdbebens rang, brach 1991 die Sowjetunion auseinander, es folgten zahlreiche politische und wirtschaftliche Krisen.
In Leninakan, das heute Gyumri heißt, leben noch immer einige der Erdbebenopfer in den provisorischen Container-Dörfern von 1988. Spitak wurde ganz neu errichtet, ein paar Kilometer vom alten Stadtkern entfernt. Dort ist heute nur noch ein riesiger Friedhof – Erinnerungsort für die vielen Tausend Toten und für ein weiteres großes Trauma der Armenier.