Sankt Petersburg kurz nach dem Ende der Sowjetunion. Mehr als 150 Menschen drängen sich im "Haus der Demokratie": Es sind überwiegend alte Frauen, aber auch einige junge Männer. Vorn spricht eine rothaarige Frau in ein Mikrofon: "Wer von euch liebt das Gesetz?" Viele Frauen nicken. "Und wer kennt das Gesetz?" Nun blicken die meisten zu Boden. Die Frau mit dem Mikrofon heißt Ella Poljakowa. "Würdet ihr das Gesetz kennen, wüsstet ihr, wie ihr eure Söhne und Enkel aus der Armee fernhaltet."
Kurz vor dem Ende der Sowjetunion, am 10. November 1991, hat Ella Poljakowa in Sankt Petersburg das Komitee der Soldatenmütter gegründet. Tausende junge Männer sind seither zu ihr gekommen, um sich vor den systematischen Misshandlungen in der russischen Armee zu retten. Zum Beispiel Wladimir Romanow, der seinen Wehrdienst nahe der finnischen Grenze versah:
"Neulich Nacht hat sich ein Teil der Berufssoldaten betrunken. Etwa um vier Uhr nachts haben sie angefangen, uns Wehrpflichtige aus den Betten zu jagen und zu verprügeln. Erst haben sie sich uns einzeln vorgenommen. Dann haben sie alle Wehrpflichtigen antreten lassen und der Reihe nach verprügelt. Das ging so bis elf Uhr vormittags."
"Dedowschina" heißt das sadistische System in der Armee
Zahlreiche Rekruten kamen bei solchen Gewaltexzessen ums Leben oder brachten sich um, weil sie keinen Ausweg mehr sahen. Dedowschina wird das sadistische Unterdrückungssystem in der Armee genannt - die Herrschaft der Dedy, der Großväter. Die Dienstälteren quälen die Jüngeren.
Und, so Ella Poljakowa: "In den allermeisten Fällen kommt es gar nicht zu einem Strafverfahren. Es gibt da eine freundschaftliche Mauer des Schweigens. Die Ermittler sind den Kommandeuren unterstellt, und anstatt für Ordnung zu sorgen, vertuschen sie die Verbrechen gemeinsam mit den Kommandeuren."
Poljakowas Schlüsselerlebnis war Anfang 1991 in Litauen. Die Menschen im Baltikum forderten Unabhängigkeit und Demokratie, Moskau schickte die Armee. In der Zeit sprach Aktivistin Ella Poljakowa mit einem sowjetischen Offizier:
"Der sagte mir: Wissen Sie, wir haben keine Angst, wenn wir schießen und wenn auf uns geschossen wird - damit können wir umgehen, dafür wurden wir ausgebildet. Aber wenn mir ein friedlicher Mensch entgegentritt, betet oder mir Blumen schenkt, dann ist das schrecklich."
Poljakowa beschloss, mit friedlichen Mitteln gegen die Armee zu kämpfen, die, davon war sie überzeugt, Reformen in der Sowjetunion und später in Russland blockierte. Sie beobachtete mit Sorge, wie die extrem grausamen Tschetschenienkriege in den 90er-Jahren die Armee weiter entmenschlichten.
2010 sagte sie:"Sie sind es gewöhnt, ungestraft zu töten, ungestraft zu erniedrigen. Unmenschlichkeit, Kriminalität und Diebstahl haben die Armee infiziert wie ein Virus."
Drohungen gegen die Aktivistinnen
Als Russland 2014 in die Ukraine einmarschierte, zählte Ella Poljakowa zu den wenigen Menschen in Russland, die offen von einem Krieg Russlands sprachen. Sie und ihre Organisation erhielten Drohungen. Poljakowa erklärte das so: "Es gibt sehr viel Aggression in der Gesellschaft. Der Zorn wird auf uns, auf die Menschenrechtsorganisationen, umgeleitet."
Mittlerweile erschweren auch die russischen Behörden ihre Arbeit. Einem Erlass des Geheimdienstes zufolge bedroht es die nationale Sicherheit, Informationen über die Zustände in der russischen Armee zu sammeln. Um keine Gefängnisstrafe zu riskieren, haben die "Soldatenmütter St. Petersburg" nach fast 30 Jahren ihre Beratung für Wehrdienstleistende eingestellt. Schweren Herzens, beteuert Oksana Paramonowa, seit diesem Jahr Vorsitzende der Organisation. Denn die russische Armee besitze zwar neue Waffen, habe sich aber nicht grundlegend reformiert:
"Das Leben und die Gesundheit eines Wehrpflichtigen sind weiterhin nichts wert. Er hat keine Bürgerrechte, er gilt oft nicht mal als Mensch."
Kampf für einen Zivil-Ersatzdienst dauert an
Noch mehr als das Vorgehen des Staates erschüttere sie, dass die Angst zurück sei, für die eigenen Rechte einzustehen, sagt Oksana Paramonowa: "Es gibt eine enorme Angst, und sie führt zu Tatenlosigkeit."
Weiterhin kämpfen die Soldatenmütter St. Petersburgs für die Möglichkeit, einen Zivilersatzdienst zu leisten, der diesen Namen wirklich verdient.