Freitag, 19. April 2024

Archiv

Vor 300 Jahren starb Gottfried Wilhelm Leibniz
Der letzte Universalgelehrte

"Ein Stück des Lebens ist verloren, so oft eine Stunde vergeudet wird", stand auf dem Sarg von Gottfried Wilhelm Leibniz. In seinem Wissenschaftlerleben ist er diesem Leitsatz stets gefolgt. Mit vielen seiner genialen Gedanken war der Universalgelehrte seiner Zeit um Jahrhunderte voraus.

Von Andrea Westhoff | 14.11.2016
    Eine Statue von Gottfried Wilhelm Leibniz auf dem Innenhof des Campus der Universität Leipzig
    Eine Statue von Gottfried Wilhelm Leibniz auf dem Innenhof des Campus der Universität Leipzig (picture alliance / dpa / Peter Endig)
    "Beim Erwachen hatte ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben."
    So hat Leibniz sich selbst einmal charakterisiert. Und in der Tat finden sich in seinem riesigen Nachlass Pläne für Wasserpumpen, Straßenbeleuchtung, ja sogar für ein Unterseeboot. Vor allem aber zeigen die vielen theoretischen Abhandlungen, dass er in nahezu allen Wissenschaftsgebieten seiner Zeit bewandert war, erzählt Professor Eberhard Knobloch, einer der Herausgeber der Leibniz-Schriften:
    "Er war promovierter Jurist. Aber er ist natürlich als Mathematiker vor allen Dingen auch berühmt wegen der Erfindung der Differential- und Integralrechnung. Er ist natürlich vor allen Dingen auch Philosoph; er hat die moderne Geschichtswissenschaft mitbegründet, und er war politischer Berater."
    Außerdem beschäftigte sich Leibniz mit Physik und Arzneikunde und mehrere Sprachen beherrschte er sowieso.
    "Er hat sich mit technischen Problemen befasst, er hat also insbesondere die erste gangfähige Rechenmaschine konstruieren lassen, die alle vier Rechenarten ausführen konnte. Kurz: er hat tatsächlich alle Wissenschaften seiner Zeit betrieben, auch natürlich Physik und andere Naturwissenschaften. Und das bedeutet tatsächlich: er war Universalhistoriker und in dieser Form wohl auch der letzte."
    Inspirationen in Paris
    Der 1646 in Leipzig geborene Gottfried Wilhelm Leibniz, Spross eines protestantischen gebildeten Elternhauses, studiert an verschiedenen Universitäten, aber das meiste Wissen erwirbt er autodidaktisch. In jungen Jahren verdient er sein Geld als kurfürstlicher Berater im diplomatischen Dienst und reist nach Paris. Hier entwickelt Leibniz seine bahnbrechenden mathematischen Theorien, inspiriert vom Fortschrittsgeist dieser Stadt:
    "Man findet dort in allen Wissenschaftsbereichen die versiertesten Männer der Zeit, und es ist viel Arbeit und ein wenig Beharrlichkeit nötig, um dort seinen Ruf zu begründen."
    Aber das gelingt Leibniz nicht. Und so nimmt er, offenbar von Existenzangst getrieben, 1676 eine Stelle als Hofbibliothekar in Hannover an – und bleibt dort bis zu seinem Lebensende. Um der Enge zu entkommen, sucht er den Gedankenaustausch mit über 1000 Briefpartnern in aller Welt und initiiert die Gründung einer "Sozietät der Wissenschaften" in Berlin. Sie ist die Keimzelle aller modernen Wissenschaftsakademien.
    "Theoria cum praxi"
    "Die Welt verstehen und dementsprechend handeln" - mit diesem Leitspruch seiner Gelehrtengemeinschaft nimmt Leibniz ein zentrales Motiv der Aufklärung vorweg. Denn er ist auch ein bedeutender Philosoph – ein Grenzgänger zwischen Altem und Neuem:
    "Er war Rationalist. Aber er sah nie einen Widerspruch darin, zugleich Gott eine entscheidende Rolle zuzuweisen. Das spiegelt sich darin, dass Gott diese Welt geschaffen hat – und zwar als beste der möglichen. Alles andere wäre ja Gotteslästerung, dass Gott unter seinen Möglichkeiten geblieben ist."
    Diese Kernaussage der Leibnizschen Philosophie ist oft missverstanden und belächelt worden. Aber seine Idee von der "besten aller möglichen Welten" war eben kein naives Lob der bestehenden Verhältnisse, sondern so etwas wie ein "Gottesbeweis". Sie findet sich in seiner Schrift "Theodizee", die aus Gesprächen mit Sophie Charlotte entstand, der Tochter des Hannoverschen Kurfürsten und späteren ersten preußischen Königin.
    "Die Theodizee ist eine Leibnizsche Wortprägung und heißt eben 'Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen in der Welt'."
    Denn Leibniz war klar, dass die Vorstellung einer von Gott so perfekt konstruierten Welt sofort die Frage aufwirft: Warum gibt es dann soviel Leid und Schrecken? Seine Antwort ist einfach und existentiell zugleich:
    "Der Mensch ist frei in seiner Entscheidung. Und damit er frei ist, muss Gott das Böse zulassen."
    "Übergroßer Reichtum an kreativen Ideen"
    Die "Theodizee" ist die einzige größere, von Leibniz selbst veröffentlichte Schrift. Ansonsten hat sich das Universalgenie im wahrsten Sinne des Wortes "verzettelt": Als der 70-Jährige am 14. November 1716 stirbt, hinterlässt er ein schier unüberschaubares Werk: allein rund 20.000 Briefe und weit über 100.000 handschriftliche Notizen.
    "Grundsätzlich hatte er einen übergroßen Reichtum an kreativen Ideen. Die wir ja noch gar nicht alle kennen."
    Denn auch heute sind noch nicht einmal die Hälfte seiner Schriften gesichtet, geschweige denn ediert worden. Aber: Irgendwie passt das auch. Denn mit einigen seiner genialen Gedanken war Gottfried Wilhelm Leibniz seiner Zeit um Jahrhunderte voraus: So hat er beispielsweise ein binäres System entwickelt, das die Darstellung aller Zahlen mit Hilfe der Null und der Eins ermöglicht — die Grundlage der modernen Computertechnologie.