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Vor 40 Jahren
Als China seine Wirtschaft öffnete

Im Jahr 1978 war China ein verarmter Bauernstaat. Doch auf dem zunächst wenig beachteten dritten Plenum vor 40 Jahren leitete die Kommunistische Partei die Liberalisierung der Wirtschaft ein. Damit beginnt der Aufstieg des Landes zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt.

Von Ruth Kirchner | 18.12.2018
    Zu Beginn der Plenarversammlung des chinesischen Volkskongresses in Peking gedenken die Delegierten am 1.3.1997 mit einer Schweigeminute des gestorbenen Deng Xiaoping.
    Reformer: Unter der Führung von Deng Xiaoping löste sich China von der Planwirtschaft - 1997 gedachte der Volkskongress mit einer Schweigeminute des gestorbenen Politikers (picture alliance / dpa-Fotoreport)
    Die Xidan-Straße im Westen Pekings 1978. Männer in blauen Baumwolljacken drängen sich vor Wandzeitungen und studieren handgeschriebene Aufrufe zu Reformen. Nicht weit entfernt: das Mao-Mausoleum, wo der einst allmächtige Führer einbalsamiert in einem gläsernen Sarg liegt. Mao ist seit zwei Jahren tot, das Land bitterarm und rückständig. Jutta Lietsch gehört zu den ersten ausländischen Studenten, die 1978, nach dem Ende der Kulturrevolution, ins Land dürfen. Sie und ihre Kommilitonen finden sich im eisigen Pekinger Winter in Wohnheimen ohne Heizung wieder.
    "Man konnte kein Öl, kein Getreide, keine Nudeln, keinen Reis kaufen, keine Seife, wenn man nicht ein Rationsmärkchen hatte, das einen berechtigte, so etwas zu kaufen. Das war die Zeit, in der es überhaupt keine Werbung gab, keine Hochhäuser gab, kaum Autos. Es war grau. So eine richtig graue Stadt."
    Die Kommunistische Partei kontrolliert alles: die Produktion in den Fabriken, die Produktionsquoten, die Preise. Arbeitsplätze werden zugeteilt.
    Machtkampf hinter verschlossenen Türen
    Und doch liegt Veränderung in der Luft. Im Fernsehen gibt es nach Jahren der reinen Propaganda wieder klassische Peking-Opern; in Untergrundzeitschriften erzählen Menschen von den Schrecken der Kulturrevolution. Die "Mauer der Demokratie" in der Xidan-Straße mit ihren regimekritischen Wandzeitungen zieht tausende Menschen an. In diesem Klima treffen sich am 18. Dezember 1978 die 200 Mitglieder des 11. Zentralkomitees der Kommunistischen Partei zu ihrem dritten Plenum. Ein Treffen, dem kaum jemand Beachtung schenkt. Im Jiangxi-Hotel in Westpeking geht es vier Tage lang hinter verschlossenen Türen um innerparteiliche Machtkämpfe, um den Umgang mit dem Erbe Maos, vor allem um die Wirtschaftsmisere und die schlechten Lebensbedingungen der Menschen. Das allein ist ein Bruch mit Mao, der jahrzehntelang Klassenkampf verordnet hatte, sagt die China-Wissenschaftlerin Doris Fischer von der Universität Würzburg.
    "Es war ein Wendepunkt, wir hatten vorher das sozialistische Wirtschaftssystem und hier jetzt die Entscheidung, das massiv zu reformieren. Und die Reformer hatten vorher immer schon mal Versuche gemacht, es gab einen Richtungsstreit auch schon vorher, aber sie hatten sich halt nicht durchsetzen können, und das war jetzt der Moment, wo man gesagt hat, doch, wir müssen massiv etwas verändern. Es war kein Startschuss hin zu einer Marktwirtschaft; es ging um Reformen des planwirtschaftlichen Systems."
    Wachstum der Produktivkräfte
    Gleichwohl rechnet das dritte Plenum mit dem ideologischen Irrsinn und Führerkult der Mao-Jahre ab. Im Abschluss-Kommuniqué ist von einem "kräftigen Wachstum der Produktivkräfte" die Rede, von "Veränderungen in allen Methoden des Lenkens, Handelns und Denkens." So soll es nach Jahren der Kollektivwirtschaft den Bauern wieder erlaubt werden, auch in Eigenregie Reis und Gemüse anzubauen und zu verkaufen. In vier Sonderwirtschaftszonen sollen ausländische Firmen investieren dürfen. Ein klarer Bruch mit der Vergangenheit, doch einen Plan für die Zukunft gibt es nicht.
    "Man hatte ja keine Blaupause, sondern man hat sich eigentlich entschieden, wir machen das schrittweise, wir machen das experimentell, wir experimentieren regional, wir experimentieren sektoral, und dann gucken wir mal, und was funktioniert, kann man dann ausdehnen. Und was nicht funktioniert, das ist dann auch sang- und klanglos verschwunden."
    Liberalisierung ja, politische Reformen nein
    "Die Steine beim Überqueren des Flusses ertasten", nennt Vizepremier Deng Xiaoping dieses Vorgehen. Er, der unter Mao wiederholt in Ungnade gefallen war, kann seinen pragmatischen Kurs gegen den Widerstand der Maoisten um Regierungschef Hua Guofeng durchsetzen und avanciert zum mächtigen Architekten der Reform- und Öffnungspolitik. Sein Grundprinzip: wirtschaftliche Liberalisierung ja, politische Reformen nein. Die Mauer der Demokratie in Peking hat daher nicht lange Bestand. Dennoch kommt auch von den wirtschaftlichen Beschlüssen des dritten Plenums zunächst wenig bei den Menschen an, erinnert sich Jutta Lietsch.
    "Wirtschaftlich geändert hat sich nur ganz peu à peu etwas, Ende der 70er Jahre noch kaum, dann erst Anfang der 80er Jahre. Es gab keine freien Geschäfte, es gab die staatlichen Geschäfte, es gab Märkte mal hier und da, aber der wirkliche Wandel kam erst viel später."
    Und doch: Ohne das dritte Plenum hätte es diesen Wandel nicht gegeben. Das kaum beachtete Treffen gilt daher bis heute als Keimzelle für den beispiellosen Aufstieg Chinas vom verarmten Bauernstaat zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt.