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Vor 40 Jahren gestorben
Herbert Marcuses Kampf gegen das Konsumglück

Auch andere Denker haben den Kapitalismus so entschieden kritisiert wie Herbert Marcuse. Die starke Wirkung dieses Sozialphilosophen jedoch beruhte auf seinem anthropologischen Optimismus: In der Radikalität der Jungen sah er die Kräfte für eine "Große Weigerung".

Von Mathias Greffrath | 29.07.2019
    Der deutsch-amerikanische Philosoph und Soziologe, geistiger "Altvater" der linken deutschen Studentenbewegung der 60er Jahre, spricht während einer Kundgebung des Angela-Davis-Solidaritätskomitees am 3. Juni 1972 auf dem Frankfurter Opernplatz.
    Kapitalismuskritiker Marcuse bei einer Kundgebung im Juni 1972 auf dem Frankfurter Opernplatz (picture-alliance / dpa / DB)
    "Jede Opposition kann heute nur im globalen Rahmen betrachtet werden, als isoliertes Phänomen ist sie von Anfang an verfälscht."
    Sein Denken ging aufs große Ganze. Auch deshalb wurde der Sozialphilosoph Herbert Marcuse zum intellektuellen Mentor der weltweiten Studentenbewegung der Sechziger Jahre: der Hippies, der Neomarxisten, der Kapitalismuskritiker.
    Geboren wurde Herbert Marcuse 1898 als Sohn eines pommerschen Textilfabrikanten. Philosophie studierte er bei Martin Heidegger. Zunächst faszinierte ihn dessen radikale Zivilisationskritik, aber dann entdeckte er die philosophischen Frühschriften von Karl Marx. Entfremdung - bei Marx war das kein abstraktes Heideggersches Verhängnis, keine "Seinsvergessenheit", sondern etwas Historisches und sehr Konkretes: Nicht Technik und Wissenschaft als solche entfremden die Menschen ihrem "wahren Wesen", sondern die Herrschaft, die mit den Eigentumsverhältnissen und dem Kapitalismus einhergeht.
    1933 ging Marcuse ins Exil, schloss sich Max Horkheimers Institut für Sozialforschung an, das in den USA eine Bleibe gefunden hatte. Seine Schriften gegen die Blut-und-Boden-Ideologie im Heideggerschen Denken, über Autorität und Familie, über den Zusammenhang von Kultur und Triebunterdrückung gehören zu den wichtigen Arbeiten der Kritischen Theorie, in der Marxismus, Psychoanalyse und bürgerliche Emanzipationsphilosophie eine neue Verbindung fanden.
    In den Kriegsjahren arbeitete Herbert Marcuse für den Nachrichtendienst des amerikanischen Kriegsministeriums, erst mit 56 Jahren wurde er Philosophieprofessor. In Kalifornien schrieb er sein bekanntestes Buch, den "Eindimensionalen Menschen". In ihm analysiert er illusionslos die spätkapitalistische Gegenwart, in der Massenkonsum das Freiheitsverlangen erstickt, die Kunst ihren kritischen und utopischen Stachel verloren hat, eine Gesellschaft, zu der es scheinbar keine Alternative gibt:
    "Wir kämpfen gegen eine außerordentlich gut funktionierende Gesellschaft, und - was mehr ist - wir kämpfen gegen eine Gesellschaft, der es in der Tat gelungen ist, Armut und Elend in einem Maße zu beseitigen, wie es früheren Stadien des Kapitalismus nicht gelungen ist."
    "Das Ende der Utopie"
    Aber, so Marcuses Kritik: das Konsumglück der reichen Länder beruht auf der Ausbeutung der Dritten Welt, und in den Regionen des entwickelten Kapitalismus übertüncht die kommerzialisierte Massenkultur das Unglück und die Leere.
    1967 verkündete Herbert Marcuse in einem Vortrag vor Berliner Studenten "Das Ende der Utopie": Alle objektiven Voraussetzungen für eine Gesellschaft ohne Not und Unterdrückung seien gegeben: eine andere Welt sei möglich. Aber wer baut sie, wenn das Bürgertum und die Arbeiterklasse zu Garanten des Kapitalismus geworden sind? Marcuse setzte auf die "neue Arbeiterklasse" der aufgeklärten Wissenschaftler und Experten und auf die radikale Opposition der Jugendlichen und der Studenten.
    "Es ist eine Opposition gegen den ganzen sogenannten way of life dieses Systems, eine Opposition gegen den Druck, gegen den allgegenwärtigen Druck des Systems, das durch seine repressive und destruktive Produktivität immer unmenschlicher alles zur Ware degradiert, deren Kauf und Verkauf den Lebensunterhalt und Lebensinhalt ausmacht."
    Herbert Marcuse starb am 29. Juli 1979. Heute, mehr noch als zu seinen Lebzeiten, muss eine radikale, an die Wurzel gehende Opposition global denken, um realistisch zu sein; und gegen die Mächte des status quo kann sie auch heute nur auf wenig mehr als auf die Einsicht der Funktionseliten setzen - und auf den Protest der Jungen, deren Zukunft sich verdüstert.
    "Und selbst, wenn wir nicht sehen, dass die Opposition hilft, müssen wir weitermachen, wenn wir noch als Menschen arbeiten und glücklich sein wollen - und im Bündnis mit dem System können wir das nicht mehr."