Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Vor 400 Jahren starb Thomas Harriot
Der verkannte englische Galileo

Thomas Harriot ist ein Vergessener der Wissenschaftsgeschichte. Der englische Mathematiker leistete Wegweisendes etwa für Arithmetik und Astronomie. Doch weigerte sich der geniale Eigenbrötler zeitlebens, seine Manuskripte zu veröffentlichen. Nachdem er am 2. Juli 1621 starb, geriet sein Werk fast vollständig in Vergessenheit.

Von Irene Meichsner | 02.07.2021
    Die 1609 von Thomas Harriot erstellte Zeichnung der Mondoberfläche, hängt anlässlich einer Ausstellung zum 400. Jubiläum 2009 im Londoner British Science Museum.
    Die erste erhaltene Zeichnung der Mondoberfläche, angefertigt 1609 von Thomas Harriot (picture-alliance/ dpa / Frantzesco Kangaris)
    "Es ist eine interessante Frage, wie Harriot sich selber bezeichnet hätte - vermutlich nicht als Mathematiker, obwohl so gut wie alle Themen, mit denen er sich befasste, etwas mit Mathematik zu tun hatten. Dazu gehörten nicht nur Arithmetik, Algebra und Geometrie, sondern auch Astronomie, Optik und Ballistik, dazu ein bisschen Alchemie und einige physikalische Experimente."
    Auf einer Liste der meistverkannten, und zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Wissenschaftler, stünde Thomas Harriot, ganz obenan. Der um 1560 in Oxford geboren wurde, war vermutlich der Erste, der ein Fernrohr zur wissenschaftlichen Himmelsbeobachtung benutzte – und zwar schon einige Monate vor Galileo Galilei, dem dieses Verdienst gemeinhin zugeschrieben wird.
    Von Harriot stammen die ersten erhaltenen Zeichnungen der Mondoberfläche, er beobachtete die vier hellsten Jupiter-Monde und die Sonnenflecken, doch anscheinend fehlte ihm jeder Ehrgeiz, damit an die Öffentlichkeit zu treten.

    Genialer Eigenbrötler

    Jackie Stedall, eine Spezialistin für die Mathematik des 16. und 17. Jahrhunderts, sagte dazu 2012 in einem Podcast über den Beruf des Mathematikers, den Forscher aus Birmingham und Greenwich für ihre Studenten organisierten.
    "Harriot arbeitete im Wesentlichen für sich allein. Er hatte gute Freunde, mit denen er sich austauschte. Manche seiner Texte wurden von ihnen in Auszügen kopiert und fanden dadurch Verbreitung. Aber Harriot ließ keines seiner Manuskripte drucken, sodass sie in dem Sinne, wie wir es heute verstehen, auch nicht veröffentlicht wurden. "
    Die vier größten Jupitermonde: Io, Europa, Ganymede und Callisto, die sogenannten Gallileischen Monde
    Entdeckung vor 410 Jahren - Galilei, Marius, Harriot und vier Monde
    Vor 410 Jahren, am Abend des 7. Januar 1610, richtete Galileo Galilei sein Teleskop auf den Jupiter. Er bemerkte neben dem Planeten einige Lichtpunkte, die von Abend zu Abend ihre Position veränderten: Galilei hatte die vier größten Jupitermonde entdeckt.

    Sir Walter Raleigh in die Neue Welt navigiert

    Als Einzelgänger, der er nun einmal war, strebte Harriot auch keine akademische Karriere an. Nach seinem Studium in Oxford, das er vermutlich mit dem Titel eines Bachelors abschloss, trat er zunächst in die Dienste des englischen Entdeckungsreisenden Sir Walter Raleigh, den er 1585 auf einer Fahrt in die Neue Welt begleitete – als Experte für Fragen der Navigation, einem der "heißesten" wissenschaftlichen Themen der damaligen Zeit.
    Harriot lebte ein Jahr lang im heutigen Virginia und North Carolina, wo er sich intensiv mit den Sitten und Gebräuchen der Ureinwohner beschäftigte. Nachdem Raleigh bei der Königin in Ungnade gefallen war, fand er 1598 einen neuen Mäzen: Sir Henry Percy, den Earl of Northumberland – einen Freigeist und Freund der Wissenschaften, der Harriot auf seinem Landsitz "Syon House" an der Themse, rund zwölf Kilometer westlich von London, unterbrachte und ihm eine lebenslange, großzügig bemessene Pension zahlte, so Jackie Stedall.
    Porträt des Autors Thomas de Padova.
    Thomas de Padova: "Alles wird Zahl" 
    Wir alle benutzen die Symbole +, – und = mit großer Selbstverständlichkeit. Dass es dafür aber Mönche, Kaufleute, Drucker, Glücksspieler und Künstler brauchte, erzählt der Wissenschaftsjournalist Thomas de Padova in seiner spannenden Zeitgeschichte.
    "Es ist nicht ganz klar, was sich diese Patrone von den Leuten eigentlich erhofften, die sie unterstützten. Zum Teil ging es um praktische Fragen, wie etwa bei der Navigation oder in der Astronomie. Aber viel von dem, woran Harriot arbeitete war vermutlich nicht von allzu großem Allgemeininteresse. Andererseits gab es eben auch Leute, die es wichtig fanden, die Mathematik zu fördern, selbst wenn sie nicht wirklich verstanden, worum es dabei ging."

    Vergebliche Versuche, Harriots Nachlass zu sichten

    Harriot erkannte die Gesetzmäßigkeiten bei der Brechung des Lichts und entwickelte eine Theorie des Regenbogens. Er vertiefte sich in algebraische Gleichungen, berechnete Flugkurven und machte Versuche zum freien Fall.
    Ein Stapel Orangen
    Mathematiker Thomas Hales - Die Kunst, Orangen zu stapeln
    Stell dir vor, du findest einen lange gesuchten Beweis – und keiner versteht ihn. Zuletzt sah sich der Mathematiker Thomas Hales in dieser misslichen Lage und ohne die Hilfe eines Algorithmus hätte die Sache wohl kein glückliches Ende genommen.
    Am 2. Juli 1621 starb Thomas Harriot in "Syon House" – nachdem er sich sein Leben lang beharrlich geweigert hatte, auch nur eines seiner mathematischen Manuskripte für eine Veröffentlichung freizugeben. Mehrere Versuche, seinen Nachlass zu sichten, schlugen fehl und so geriet Harriot, den man heute auch den "englischen Galileo" nennt, allmählich in Vergessenheit.
    Erst Ende des 18. Jahrhunderts wurden einige seiner Manuskripte wiederentdeckt, aber das Material blieb noch bis vor kurzem ungeordnet. Seit 2012 wird an einer Online-Edition von Harriots weit verstreuten Texten und Textfragmenten gearbeitet - die späte Anerkennung für ein wissenschaftliches Lebenswerk, das von seiner Vielseitigkeit und Weitsicht her seinesgleichen sucht.