Mittwoch, 24. April 2024

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Vor 60 Jahren
Beginn der legendären Langzeitdokumentation "Die Kinder von Golzow"

Vor 60 Jahren begann der Regisseur Winfried Junge in der ostdeutschen Kleinstadt Golzow mit den Dreharbeiten für ein Projekt, das als "Die Kinder von Golzow" weltberühmt werden würde. Nach 44 Jahren Drehzeit schloss er die längste dokumentarische Beobachtung der Filmgeschichte ab.

Von Katja Nicodemus | 28.08.2021
    Fünf Filmrollen mit Sequenzen aus "Die Kinder von Golzow". Das Material war 2008 in einer Ausstellung in Golzow zu sehen
    Ein minimaler Ausschnitt der mehr als 70 Kilometer Filmrollen, die im Laufe der Langzeitdokumentation "Die Kinder von Golzow" angefallen sind (imago /epd)
    "Freut Ihr euch denn auf die Schule?"
    Ja!"
    Die erste Langzeitbeobachtung der Kinogeschichte beginnt als 13-minütiger Kurzfilm. Winfried Junge, DEFA-Nachwuchsregisseur und Absolvent der Babelsberger Filmhochschule, beobachtet eine Gruppe von Kindern an ihrem ersten Schultag. Es ist der 28. August 1961, wenige Tage nach dem Bau der Mauer. Schauplatz: die Kleinstadt Golzow im Oderbruch.

    Video: "Die Kinder von Golzow" (Youtube)

    Man schaut beim Aufwachsen und Erwachsenwerden zu

    Winfried Junge wird die Kinder von Golzow mit weiteren Kurzfilmen begleiten, es kommen lange Gruppen- und Einzelporträts hinzu. Geboren sind die Kinder zwischen 1953 und 1955. Man schaut ihnen beim Aufwachsen, Erwachsenwerden zu, erlebt Jugendweihen, Abschlussprüfungen, Klassentreffen, erste Liebe, lernt ihre Familien, ihre Sorgen, ihre Hoffnungen kennen. In "Ich sprach mit einem Mädchen" aus dem Jahr 1975 besucht Marieluise ihren in Ostberlin lebenden Freund:
    "Wir sehen uns ja entweder nur in seinem Zimmer da, ein ziemlich kleines, oder bei seiner Tante. Und bei mir zu Hause, da liefert er mich bloß immer ab, vorm Zaun bei uns."
    "Gab’s Krach mit den Eltern?"
    "Ja."

    Vielleicht ein filmisches Weltkulturerbe

    Immer fragt Regisseur Junge spontan nach, denkt Situationen und Lebenswege mit nachdenklichen Off-Kommentaren weiter. Man könnte die Golzow-Reihe als ein filmisches Weltkulturerbe ansehen: Die Kamera blickt voller Neugier und Zuneigung auf Menschen – und erzählt ein Universum. Nicht frei von teilnehmender Beobachtung, so Winfried Junge.
    "Wir waren auch DDR-Bürger, wir kennen das Land, wir können nicht so tun als wären wir nicht dabei gewesen. Wir müssen uns stellen, kenntlich machen und uns nicht hinter der Kamera verstecken."
    Und Winfried Junges Frau Barbara, die seit 1983 die Montage der Golzow-Filme betreut, ergänzt:
    "Es war der Unterschied, weil wir von außen kamen. In der Familie kann man manches nicht sagen, was man Außenstehenden sagen kann. Also, das ist auch ganz wichtig gewesen, dass wir manchmal mehr Vertraute waren als die Familie selber."
    Insgesamt 44 Jahre Drehzeit, 19 Filme und 42 Stunden umfasst das Golzow-Projekt. Wir sehen, wie sich LPGs in GmbHs verwandeln, wie Arbeiter Angestellte werden, wie die Wohnungen größer werden, sich die Einrichtungen und Autos ändern. Seit 1992 führen Winfried und Barbara Junge gemeinsam Regie. Die Langzeitbeobachtung, meint Barbara Junge, "ist ja wirklich eine Möglichkeit des Dokumentarfilms, die der Spielfilm nicht so in dem Maße hat."
    Für ihn bestehe der Reiz in den Zeitsprüngen, sagt Winfried Junge, "die in der Sache liegen, erklären ja auch Entwicklung: Warum ist der so geworden, der mal so redete, wenn er jetzt das denkt oder das macht."
    Szene aus der Generationen-Langzeitbeobachtung "20-40-60: Unser Leben!" des ZDF: Der 20-jährige Ehsan ist mit seiner 93-jährigen Großmutter, mit der er gemeinsam in einer Wohnung lebt, in der Küche zu sehen.  
    ZDF-Langzeitdoku "20-40-60: Unser Leben!" - 
    Die Langzeitbeobachtung "20-40-60: Unser Leben!" begleitet Menschen aus drei Generationen zwei Jahre lang. In Folge eins stellen drei 20-Jährigen erstmals Weichen in ihrem Leben.
    Die mehrstündigen Einzelporträts innerhalb des Golzow-Projekts sind eine Mischung aus Familienchronik und Zeitbild, Gesellschaftspanorama und Alltagsleben. Im Zentrum von "Eigentlich wollte ich Förster werden, Bernd aus Golzow" aus dem Jahr 2003 steht Bernd Österreich, der seinen Traumberuf nicht ergreifen konnte und nun in der Mineralölstadt Schwedt mit Frau und Tochter lebt. Der Film beginnt im Juli 1991, es ist der erste Reisesommer nach der deutschen Einheit. Zu Beginn fragt Winfried Junge Bernd im Urlaub auf dem Großglockner, weshalb er einen Toyota fahre:
    "Vom Aussehen her gefällt er mir am besten, vom Fahren her, vom Komfort her…"
    "Habt ihr lange überlegt?"
    "Na klar haben wir lange überlegt, das war ja nun Thema Nummer eins für jeden DDR-Bürger."
    Ortsschild von Golzow, Haus im Hintergrund
    Integration im Oderbruch - Die neuen Kinder von Golzow
    Die DDR-Langzeitdokumentation "Die Kinder von Golzow" machte den kleinen Ort in Brandenburg bekannt. Weil die Grundschule dort vor dem Aus stand, fuhr der Bürgermeister ins nahegelegene Flüchtlingslager – und konnte zwei syrische Familien überzeugen, nach Golzow zu ziehen.
    Auch hier arbeiten die Junges mit Zeitsprüngen. Sie filmen das Werden und Gewordensein von Persönlichkeiten, Charakteren, gehen immer wieder zurück zum Ursprung von allem: in den kleinen Klassenraum.

    Inzwischen Mutter zweier halbwüchsiger Kinder

    Ein weiteres Einzelporträt aus dem Jahr 2007 trägt den Titel "Da habt ihr mein Leben. Marieluise, Kind von Golzow". Marieluise ist inzwischen Mutter zweier halbwüchsiger Mädchen. Fast melancholisch kommentiert Winfried Junge ältere Aufnahmen, die die Familie kurz nach der Wende in den Ferien zeigen:
    "Als diese Aufnahmen entstehen, haben Kamera und Mikrophon Marieluise bereits 30 von 37 Jahren ihres Lebens begleitet. Neue Jahre werden dazukommen, bis in die heutige Zeit.

    Ein Menschheitsbild

    In den Golzow-Filmen sind die Bilder auch Erinnerungsspeicher. Sie halten Zeit fest, dokumentieren Vergänglichkeit. Aus einer Langzeitbeobachtung wird ein soziales Dokument, ein Menschheitsbild, entstanden in einer Kleinstadt im Oderbruch.