"Freut Ihr euch denn auf die Schule?"
Ja!"
Ja!"
Die erste Langzeitbeobachtung der Kinogeschichte beginnt als 13-minütiger Kurzfilm. Winfried Junge, DEFA-Nachwuchsregisseur und Absolvent der Babelsberger Filmhochschule, beobachtet eine Gruppe von Kindern an ihrem ersten Schultag. Es ist der 28. August 1961, wenige Tage nach dem Bau der Mauer. Schauplatz: die Kleinstadt Golzow im Oderbruch.
Video: "Die Kinder von Golzow" (Youtube)
Man schaut beim Aufwachsen und Erwachsenwerden zu
Winfried Junge wird die Kinder von Golzow mit weiteren Kurzfilmen begleiten, es kommen lange Gruppen- und Einzelporträts hinzu. Geboren sind die Kinder zwischen 1953 und 1955. Man schaut ihnen beim Aufwachsen, Erwachsenwerden zu, erlebt Jugendweihen, Abschlussprüfungen, Klassentreffen, erste Liebe, lernt ihre Familien, ihre Sorgen, ihre Hoffnungen kennen. In "Ich sprach mit einem Mädchen" aus dem Jahr 1975 besucht Marieluise ihren in Ostberlin lebenden Freund:
"Wir sehen uns ja entweder nur in seinem Zimmer da, ein ziemlich kleines, oder bei seiner Tante. Und bei mir zu Hause, da liefert er mich bloß immer ab, vorm Zaun bei uns."
"Gab’s Krach mit den Eltern?"
"Ja."
"Gab’s Krach mit den Eltern?"
"Ja."
Vielleicht ein filmisches Weltkulturerbe
Immer fragt Regisseur Junge spontan nach, denkt Situationen und Lebenswege mit nachdenklichen Off-Kommentaren weiter. Man könnte die Golzow-Reihe als ein filmisches Weltkulturerbe ansehen: Die Kamera blickt voller Neugier und Zuneigung auf Menschen – und erzählt ein Universum. Nicht frei von teilnehmender Beobachtung, so Winfried Junge.
"Wir waren auch DDR-Bürger, wir kennen das Land, wir können nicht so tun als wären wir nicht dabei gewesen. Wir müssen uns stellen, kenntlich machen und uns nicht hinter der Kamera verstecken."
"Wir waren auch DDR-Bürger, wir kennen das Land, wir können nicht so tun als wären wir nicht dabei gewesen. Wir müssen uns stellen, kenntlich machen und uns nicht hinter der Kamera verstecken."
Und Winfried Junges Frau Barbara, die seit 1983 die Montage der Golzow-Filme betreut, ergänzt:
"Es war der Unterschied, weil wir von außen kamen. In der Familie kann man manches nicht sagen, was man Außenstehenden sagen kann. Also, das ist auch ganz wichtig gewesen, dass wir manchmal mehr Vertraute waren als die Familie selber."
Insgesamt 44 Jahre Drehzeit, 19 Filme und 42 Stunden umfasst das Golzow-Projekt. Wir sehen, wie sich LPGs in GmbHs verwandeln, wie Arbeiter Angestellte werden, wie die Wohnungen größer werden, sich die Einrichtungen und Autos ändern. Seit 1992 führen Winfried und Barbara Junge gemeinsam Regie. Die Langzeitbeobachtung, meint Barbara Junge, "ist ja wirklich eine Möglichkeit des Dokumentarfilms, die der Spielfilm nicht so in dem Maße hat."
Für ihn bestehe der Reiz in den Zeitsprüngen, sagt Winfried Junge, "die in der Sache liegen, erklären ja auch Entwicklung: Warum ist der so geworden, der mal so redete, wenn er jetzt das denkt oder das macht."
Für ihn bestehe der Reiz in den Zeitsprüngen, sagt Winfried Junge, "die in der Sache liegen, erklären ja auch Entwicklung: Warum ist der so geworden, der mal so redete, wenn er jetzt das denkt oder das macht."
Die mehrstündigen Einzelporträts innerhalb des Golzow-Projekts sind eine Mischung aus Familienchronik und Zeitbild, Gesellschaftspanorama und Alltagsleben. Im Zentrum von "Eigentlich wollte ich Förster werden, Bernd aus Golzow" aus dem Jahr 2003 steht Bernd Österreich, der seinen Traumberuf nicht ergreifen konnte und nun in der Mineralölstadt Schwedt mit Frau und Tochter lebt. Der Film beginnt im Juli 1991, es ist der erste Reisesommer nach der deutschen Einheit. Zu Beginn fragt Winfried Junge Bernd im Urlaub auf dem Großglockner, weshalb er einen Toyota fahre:
"Vom Aussehen her gefällt er mir am besten, vom Fahren her, vom Komfort her…"
"Habt ihr lange überlegt?"
"Na klar haben wir lange überlegt, das war ja nun Thema Nummer eins für jeden DDR-Bürger."
"Vom Aussehen her gefällt er mir am besten, vom Fahren her, vom Komfort her…"
"Habt ihr lange überlegt?"
"Na klar haben wir lange überlegt, das war ja nun Thema Nummer eins für jeden DDR-Bürger."
Auch hier arbeiten die Junges mit Zeitsprüngen. Sie filmen das Werden und Gewordensein von Persönlichkeiten, Charakteren, gehen immer wieder zurück zum Ursprung von allem: in den kleinen Klassenraum.
Inzwischen Mutter zweier halbwüchsiger Kinder
Ein weiteres Einzelporträt aus dem Jahr 2007 trägt den Titel "Da habt ihr mein Leben. Marieluise, Kind von Golzow". Marieluise ist inzwischen Mutter zweier halbwüchsiger Mädchen. Fast melancholisch kommentiert Winfried Junge ältere Aufnahmen, die die Familie kurz nach der Wende in den Ferien zeigen:
"Als diese Aufnahmen entstehen, haben Kamera und Mikrophon Marieluise bereits 30 von 37 Jahren ihres Lebens begleitet. Neue Jahre werden dazukommen, bis in die heutige Zeit.
"Als diese Aufnahmen entstehen, haben Kamera und Mikrophon Marieluise bereits 30 von 37 Jahren ihres Lebens begleitet. Neue Jahre werden dazukommen, bis in die heutige Zeit.
Ein Menschheitsbild
In den Golzow-Filmen sind die Bilder auch Erinnerungsspeicher. Sie halten Zeit fest, dokumentieren Vergänglichkeit. Aus einer Langzeitbeobachtung wird ein soziales Dokument, ein Menschheitsbild, entstanden in einer Kleinstadt im Oderbruch.