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Vor 70 Jahren
Als die Welt den Transistor kennenlernte

Die wohl größte Revolution der jüngeren Industriegeschichte wurde von einem Strom-/Spannungsverstärker ausgelöst, der unscheinbarer kaum daherkommen konnte: dem Transistor. Damit konnte man Rechenmaschinen und Radios bauen, wie es sie bald überall geben sollte.

Von Mathias Schulenburg | 30.06.2018
    Das im Jahr 1950 entwickelte Transistorradio TR-55. Der japanische Unternehmer Masura Ibuka erkannte rechtzeitig die Bedeutung des Transistors, erwarb Patente und legte mit dem batteriebetriebenen und 560 Gramm leichten Sony TR-55 den Grundstein für die Weltmacht des Unternehmens.
    Basierend auf den neuen Transistortypen entwickelten Elektronikfirmen leichtgewichtige Radios (picture alliance / dpa / Bertelsmann Lexikon Verlag)
    Die Patente waren erteilt, das Militär hatte die Erfindung zur Veröffentlichung freigegeben. Die Zeit war gekommen, endlich, der Welt den Transistor vorzustellen. Am 30. Juni 1948 veranstalteten die Bell Telephone Laboratories in New York eine Pressekonferenz. In der Mitteilung dazu hieß es:
    "Das Bauelement [...] arbeitet nach einem völlig neuen physikalischen Prinzip, das von den Laboratorien im Zuge der Grundlagenforschung über die elektrischen Eigenschaften von Kristallen entdeckt wurde. [...] Bell-Wissenschaftler und Ingenieure erwarten, dass es weitreichende Bedeutung in der Elektronik und der elektrischen Kommunikation hat."
    Das war eher unter- als übertrieben. Man hätte sie auch die wichtigste Erfindung des 20. Jahrhunderts nennen können, aber so bedeutend sah der Transistor zu Beginn tatsächlich nicht aus:
    "Seine grundlegende Einfachheit weist jedoch auf die Möglichkeit einer weitverbreiteten Verwendung hin, was zu einer Massenproduktion führt."
    Radios für unterwegs
    Dann kam, was das mäßig beeindruckte Publikum wirklich interessierte - dann "hörte das Publikum eine Radiosendung von einem Set, das gänzlich ohne Vakuumröhren konstruiert war, aber statt dessen mehrere der winzigen Transistoren zur Verstärkung verwendete."
    Das Transistorradio war in die Welt gekommen, erst einmal als Prototyp, nicht erwerbbar.
    Natürlich war das Radiowesen in den USA und anderswo schon vor der Erfindung des Transistors gut entwickelt, nur: Wirklich mobil waren die damaligen Röhrenradios nicht, mobile wurden folgerichtig "Kofferradios" genannt. Die Röhrentechnik benötigte viel Strom und teils hohe Spannungen, was bei mobilen Geräten mit Röhren von vergleichsweise massigen und teuren Batterien bereitgestellt werden musste. Transistorgeräte ließen sich dagegen sparsam und so klein bauen, dass sie in eine Hemdtasche passten. Damit die Geräte im Hemd auch klein wirkten, stattete eine große japanische Firma anfangs die Hemden ihrer Mitarbeiter an der Verkaufsfront mit übergroßen Taschen aus.
    Tragbare Popkultur
    Die neuen Radios erfreuten sich bei der Jugend großer Zustimmung und transportierten die Popkultur der USA nach Europa. Die Erwachsenen bemäkelten neben Musik und Radios auch die Kopfhörer:
    "Mit Kopfhörern könnten die einzelnen Familienmitglieder unabhängig voneinander den Fernsehton, den Rundfunk, Schallplatten oder ein Tonband im Wohnzimmer abhören. Der Kopfhörer bedeutete also auch eine Atomisierung der häuslichen Gemeinschaft", schreibt Heike Weber in ihrer "Kultur- und Technikgeschichte von Kofferradio, Walkman und Handy". Eine "Atomisierung" wurde in den 1960er-Jahren tatsächlich gefürchtet, merken Michael Riordan und Lillian Hoddeson in ihrer Monografie "Crystal Fire" an.
    Ratschläge für den Atomkrieg
    Die in den USA verkauften Transistorradios trugen auf ihren Skalen Markierungen, die für den atomaren Angriffsfall auf Rundfunkstationen verwiesen. Hier konnten die Hörer Ratschläge der US- Zivilverteidigungsbehörde erhalten, etwa: sich unter den Tisch zu ducken.
    Rock'n' Roll wie Rüstung und das Computerwesen sorgten schließlich dafür, dass Transistoren - vor allem in den immer größer werdenden Computerchips - zu Billionen entstanden. Heute finden sie sich in nahezu jedem technischen Gerät, selbst im Küchenmixer und der elektrischen Zahnbürste. Die Autoren von "Crystal Fire" zitieren eine Ikone der Elektronik:
    "Wie Gordon Moore registriert hat, gibt es jedes Jahr mehr Transistoren als Regentropfen, die auf Kalifornien fallen, und es kostet weniger, einen herzustellen, als einen einzigen Buchstaben auf dieser Seite zu drucken."
    Transistoren werden auch bei der Modernisierung des Verkehrswesens und der Energieversorgung eine Schlüsselrolle spielen. Leistungstransistoren aus Siliziumkarbit etwa schalten starke elektrische Ströme nahezu verlustfrei und werden die vielen Quellen der erneuerbaren Energien effektiv bündeln können.