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Vor 70 Jahren in Den Haag
Die Zukunft Europas auf dem "Haager Kongress"

Nach zwei Weltkriegen stieß die Idee eines geeinten Europas auf große Begeisterung. In welcher Form, ob als Staatenbund oder als Bundesstaat, darüber war man sich nicht einig. Ein großer Kongress im niederländischen Den Haag sollte die Vertreter der unterschiedlichen Vorstellungen zusammenbringen. Am 7. Mai 1948 war es soweit.

Von Monika Köpcke |
    Europa auf einem geografischen Globus
    Winston Churchill, der ehemalige Kriegspremier und nun Oppositionsführer der britischen Konservativen, war der Schirmherr des Haager Kongresses (picture-alliance / dpa / Felix Hörhager)
    "Strahlende Sonne über dem tulpengeschmückten Den Haag. Und die Holländer taten ein Übriges, dem Tage Glanz zu verleihen. Sie säumten die Straßen und den Hof des Parlaments, schwenkten Fahnen und grüßten die Staatsmänner und Politiker."
    7. Mai 1948: Der Korrespondent der "Zeit" ist begeistert. Zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg kommen Menschen aus ganz Europa in dem holländischen Regierungssitz [*] zusammen.
    "Der gute Wille hat sie zusammengeführt. Sozialisten wie Konservative, Liberale wie Syndikalisten, Professoren, Schriftsteller, Industrielle und Studenten. Drinnen, im teppichbehängten Rittersaal, erhoben sich die Delegierten, als Churchill den Saal betrat."
    Winston Churchill, der ehemalige Kriegspremier und nun Oppositionsführer der britischen Konservativen, war der Schirmherr des Haager Kongresses und hielt die Eröffnungsrede:
    "Dies ist keine Bewegung der Parteien, sondern der Völker. Wir können auf nichts Geringeres zielen als auf die Vereinigung Europas als Ganzem. Und wir blicken voll Zuversicht auf den Tag, an dem diese Einheit verwirklicht sein wird."
    Keine neue Idee
    Die Idee einer europäischen Einigung war nicht neu. Seit fast 200 Jahren hatte sie Philosophen, Schriftsteller und Politiker immer wieder fasziniert. In der politischen Praxis spielte sie allerdings keine Rolle. Erst die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs ließ verschiedene Initiativen entstehen. Als Vertreter der aktiven Politik war es vor allem Winston Churchill, der unermüdlich für die europäische Einigung warb. Bereits 1946 hatte er in Zürich vor Studenten die berühmten Worte gesagt:
    "Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa schaffen." Das war eine visionäre, aber zugleich vage Formulierung, in der sich die unterschiedlichen europapolitischen Vorstellungen wiederfinden konnten. Churchill wollte sie zusammenbringen und ein Forum für offene Diskussionen anbieten. Eine niederländische Bank erklärte sich bereit, die Kosten für einen solchen Kongresses zu übernehmen; also wurde Den Haag der Veranstaltungsort.
    17 europäische Staaten schickten insgesamt 700 Delegierte nach Den Haag. Darunter viele prominente Politiker wie Paul-Henri Spaak, Robert Schuman oder Anthony Eden. Es kamen Gewerkschaftler, Künstler, Wissenschaftler. Auf Churchills ausdrücklichen Wunsch durfte auch Deutschland teilnehmen, wenn auch nur als Zuhörer. Der französische Wirtschaftspolitiker Jean Monnet notierte in sein Tagebuch:
    "Mancher Teilnehmer war mir gänzlich unbekannt, so ein gewisser Konrad Adenauer oder ein Professor aus Frankfurt, Walter Hallstein."
    Forderung nach einem radikalen Neuanfang
    Vor allem Vertreter aus Frankreich, Italien oder den Niederlanden sprachen in Den Haag für die sogenannte föderalistische Position: Sie wollten einen radikalen Neuanfang und plädierten für ein supranationales Europa, in dem die einzelnen Mitgliedsstaaten auf ihre nationale Souveränität zugunsten gemeinschaftlicher Institutionen verzichteten.
    Das traf vor allem den Nerv der Jugend. Charles Rutten, für die niederländische katholische Volkspartei in Den Haag, erinnert sich:
    "Viele Tausend junge Leute kamen nach Den Haag, um an Demonstrationen und Versammlungen teilzunehmen. Sie wollten etwas komplett anderes als das, was bereits existierte, als das, was nach ihrer Auffassung zum Krieg geführt hatte, nämlich der Nationalstaat. Dementsprechend war das Ergebnis von Den Haag für sie sehr enttäuschend, denn es wurde nichts fundamental Neues geschaffen."
    Tatsächlich stimmte nach vier Tagen intensiver Diskussion die Mehrheit der Delegierten für ein Abschlussdokument, das die Position der sogenannten Unionisten vertrat. Ihr Konzept eines geeinten Europas: Souveräne Staaten sollten in freiwillig geschlossenen Abkommen Schritt für Schritt gemeinsame Grundlagen vereinbaren. Als einzige konkrete Maßnahmen einigte man sich auf die Schaffung des Europarats und einer Menschenrechtscharta.
    Fahrplan für eine europäische Einigung
    Der Fahrplan für die europäische Einigung war damit vorgegeben - nicht zu schnell und nicht zu eng. Dieses Ergebnis war ganz im Sinne von Winston Churchill. Ihm ging es um Frieden und Stabilität auf dem europäischen Festland und um ein Bollwerk gegen den Kommunismus. Dass Großbritannien keinesfalls Mitglied eines wie auch immer geeinten Europas werden sollte, daraus hatte er nie einen Hehl gemacht.
    [*] Anmerkung der Redaktion:
    In einer ursprünglichen Version dieses Textes wurde Den Haag als Hauptstadt der Niederlande bezeichnet; wir haben den Fehler korrigiert.