"Nylon und Perlon haben, weil beide zur Gruppe der Polyamid-Fasern gehören, ganz ähnliche Eigenschaften! Der interessierende, entscheidende Unterschied besteht nun darin, dass ich bei meiner Erfindung einen ganz anderen Weg gegangen bin."
Mit seiner Erfindung der Perlonfaser hat Paul Schlack eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass in der Chemie viele Wege zum Ziel führen können – vorausgesetzt, man hält an diesem Ziel hartnäckig fest. Seit 1926 leitete Schlack das Forschungslabor in der Berliner Kunstseidenfabrik Aceta, einem Betrieb der IG Farben, wo er sich mit dem Färben von Zellulose befasste - während er insgeheim von einer synthetischen Faser träumte, die als vollwertiger Ersatz für Wolle, Seide oder Baumwolle würde dienen können.
Ausgehend von der Erkenntnis, dass Naturfasern aus Kohlenstoffverbindungen bestehen, die sich kettenförmig zu Makromolekülen aneinanderreihen, vertiefte sich der junge Mann in die Materie. 1937 fiel ihm eine Patentschrift aus den USA in die Hände. Darin schilderte Wallace Hume Carothers von der Firma DuPont sein Verfahren zur Herstellung des "Polyamid 6.6", später Nylon genannt - der ersten Textilfaser aus dem Reagenzglas.
"Trotz der Breite seiner Forschungen konnte Carothers nicht alle Möglichkeiten erschöpft haben."
Schlacks Ehefrau streifte sich die ersten Perlonstrümpfe über
Schlack machte sich mit schwäbischer Gründlichkeit auf die Suche nach einer Lücke im Patent des US-Kollegen.
"Ausgangspunkt meiner Versuche war das sogenannte Caprolactam - eine chemische Verbindung, die man zwar schon mehr als 30 Jahre kannte, mit der aber niemand etwas Besonderes anzufangen gewusst hatte."
Carothers hatte das Caprolactam als Ausgangsmaterial für eine synthetische Faser sogar ausdrücklich ausgeschlossen. Schlack fügte der Substanz, die aus Steinkohleteer gewonnen wird, etwas Wasser und einen Katalysator hinzu, von dem er glaubte, dass er sich für seine Zwecke eignen könnte. Das Ganze wurde in ein Glasrohr eingeschmolzen und dieses dann über Nacht auf rund 240 Grad erhitzt.
"Als ich am anderen Morgen, also am 29. Januar 1938, in mein Laboratorium kam, da konnte ich feststellen, dass die Flüssigkeit vom Abend zuvor sich inzwischen in eine hornartige Masse verwandelt hatte, die äußerst zäh und elastisch war. Sie ließ sich in der Hitze wieder aufschmelzen, und dann konnte ich aus der Schmelze einen feinen Faden abziehen, der sich in der Kälte ebenso wie der Nylonfaden noch auf das Mehrfache seiner ursprünglichen Länge nachrecken ließ. Und dann eine überraschend hohe Reißfestigkeit aufwies. Damit war der Versuch im Prinzip gelungen."
Wenig später konnte sich Schlacks Ehefrau Sigrid die ersten Perlonstrümpfe überstreifen. Andere Musterstrümpfe gingen später als Weihnachtsgeschenke an Vorstandsmitglieder der IG-Farben. Einer von ihnen schrieb zurück:
"Meine Frau läßt Ihnen vielmals danken für die Perlon-Strümpfe. Sie sind 1a! Wäre es sehr unbescheiden, wenn ich Sie bitten würde, mir 'unter dem Tisch' auch für Lily ein solches Paar Strümpfe Größe 9 ½ zu schicken?"
Die Frauen konnten endlich Bein zeigen
Schlacks Sohn Niels zog als erster Soldat mit Perlonsocken an den Füßen in den Krieg. Der Vater ließ sich einen dunkelblauen Anzug aus der glänzenden Faser schneidern. Im Übrigen unterlag die Forschung an dem neuen Material strenger Geheimhaltung, weil es sich auch für militärische Zwecke eignete – etwa als Fallschirmwerkstoff, Hochdruckschlauchgewebe oder, in Form von Borsten, für die Reinigung von Geschützen. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gingen die meisten Produktionsstätten verloren.
"Jetzt sind an mehreren Stellen in Westdeutschland Perlonproduktionen im Gang, und die Entwicklung ist in vollem Fluss", erklärte Paul Schlack 1951, nachdem er die Perlonfabrikation mit Mitteln aus dem Marshallplan im schwäbischen Bobingen wieder aufgebaut hatte.
Oft wurde die pflegeleichte Kunstfaser auch mit Wolle, Baumwolle oder Zellwolle zu Mischgarnen versponnen, die in fast alle Bereiche der Textilindustrie Eingang fanden.
"So zum Beispiel für Strickwollen, Damensportstrümpfe, Unterwäsche, Handschuhe, ferner für Sport- und Uniformtuche, Arbeitsanzüge, Möbelstoffe, Bett- und Tischwäsche, Förderbänder, Fischereinetze."
In der Feinstrumpfindustrie herrschte Goldgräberstimmung. Die Zeit der groben, kratzenden Strickstrümpfe aus Wolle oder Baumwolle war vorüber. Auch in Deutschland konnten die Frauen endlich "Bein zeigen" - so wie in den USA, wo die Nylonstrümpfe längst zum Alltag gehörten.