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Vor 95 Jahren
Der Reichstag verabschiedet das erste Jugendgerichtsgesetz

Bis ins 20. Jahrhundert reagierte die Justiz auf Straftaten von Kindern und Jugendlichen mit blinder Härte. Das Jugendgerichtsgesetz vom 16. Februar 1923 räumte mit dieser Praxis auf. Erziehung und Strafe sollen den einzelnen jungen Menschen bessern und dadurch die Gesellschaft schützen.

Von Christoph Schmitz-Scholemann | 16.02.2018
    Der Reichstag in Berlin, ca. 1919, auf einer zeitgenössischen Postkarte
    Der Reichstag in Berlin, ca. 1919, auf einer zeitgenössischen Postkarte (imago/United Archives International)
    Es war ein fundamentaler gesellschaftspolitischer Kampf, der am 16. Februar 1923 mitten im Chaos von Inflation und Massenarbeitslosigkeit zur Verabschiedung des Jugendgerichtsgesetzes im Reichstag führte. Dieses Gesetz brach mit einer rabiaten Rechtstradition: Jahrhunderte lang hatte man Kinder und Jugendliche nach denselben Paragrafen bestraft und in dieselben Gefängnisse gesperrt wie Erwachsene.
    Jedes Verbrechen, so dachte man damals, trägt seine Strafe gewissermaßen von Natur aus in sich – Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dagegen war am Ende des 19. Jahrhunderts der liberale Strafrechtler Franz von Liszt aufgestanden. In seinem berühmt gewordenen "Marburger Programm" schrieb er:
    "Es gibt nichts Widersinnigeres als unsere kurzzeitigen Freiheitsstrafen gegen die Lehrlinge auf der Bahn des Verbrechens. Wenn irgendwo trägt hier die Gesellschaft den Löwenanteil an der Schuld, unter der der künftige Gewohnheitsverbrecher zusammenbricht."
    Rechtsauffassung von Franz von Liszt war prägend
    Als späterer Reichtstagsabgeordneter forderte Franz von Liszt ein eigenes Jugendstrafrecht, das die zügellose Strafgewalt beschränken und stattdessen vom Erziehungsgedanken geleitet sein sollte. Diesen Vorschlag griff 1912 sogar die kaiserliche Reichsregierung auf - und zog sich prompt von konservativer Seite den Vorwurf zu, sie entehre die Staatsanwälte.
    So blieb es beim alten Recht, bis, zehn Jahre später, ein Schüler Franz von Liszts Justizminister wurde: Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch brachte das Jugendgerichtsgesetz in den Reichstag ein und begründete die Notwendigkeit der Reform gerade in Zeiten herumstreunender Jugendlicher in den Großstädten kurz nach Kriegsende:
    "Väter waren zum Heere eingezogen, Mütter hatten in der wirtschaftlichen Not nicht die Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern, Schulen mussten monatelang geschlossen werden. Liegt aber der Grund für die Verwahrlosung in einem Mangel an Erziehung, so ist es jetzt umso mehr geboten, Erziehung in den Vordergrund zu stellen."

    "Neu ist die Vorstellung, dass Kinder und Jugendliche nicht kleine Erwachsene sind, sondern dass Kindheit und Jugend eine eigenständige Lebensphase sind, die eine eigenständige Behandlung erfordert."
    Theresia Höynck ist Professorin für das Recht der Kindheit und der Jugend in Kassel und Vorsitzende der deutschen Jugendgerichtsvereinigung.
    Der Rechtsphilosoph, Strafrechtslehrer und SPD-Politiker, Reichsjustizminister 1921-22 und erneut 1923, Gustav Radbruch (1878-1949), in einer zeitgenössischen Aufnahme
    Der Rechtsphilosoph, Strafrechtslehrer und SPD-Politiker, Reichsjustizminister 1921-22 und erneut 1923, Gustav Radbruch (1878-1949), in einer zeitgenössischen Aufnahme (picture-alliance / dpa)
    "In der Sache brachte das neue JGG 1923 einerseits die Heraufsetzung der Strafmündigkeitsgrenze auf 14 Jahre. Es gab die Einführung der Bewährungsstrafe, also als so eine Idee von noch einer zusätzlichen Chance. Und dann natürlich ganz, ganz zentral die erzieherischen Maßnahmen, eine völlig andere Art der Sanktionierung als die reinen Freiheitsstrafen."
    "Härte allein ist völlig nutzlos"
    Statt förmlicher Strafen konnten nun Verwarnungen ausgesprochen, Heimunterbringung angeordnet oder besondere Pflichten auferlegt werden, zum Beispiel gemeinnützige Arbeit. Gericht, Eltern, Polizei, Schule und Jugendamt sollten das schaffen, was jungen Straffälligen oft fehlt: Halt und Vertrauen in einem ihnen zugewandten, verlässlichen und gesetzestreuen Umfeld. Diese damals bahnbrechende Idee bestimmt unser Recht bis heute. Aber hat sie sich auch bewährt? Oder sollten wir, wie immer wieder gefordert, zur "harten Hand" zurückkehren?
    "Ohne Strafen geht es nicht, aber Härte allein ist völlig nutzlos. Systeme, die sehr punitiv sind, Todesstrafe haben und so weiter, nehmen Sie die USA, glänzen nicht durch besonders niedrige Zahlen an Straftaten."
    Kriminalität lässt sich niemals ganz besiegen. Für unser System, nämlich: zu strafen, wo nötig, und zu erziehen, wo möglich, spricht immerhin eine über lange Jahre hinweg rückläufige Entwicklung in der Jugendkriminalität.
    "Die ganze Idee des Jugendstrafrechts funktioniert nur, wenn alle, die das in der Praxis machen müssen, Staatsanwälte, Richter, Sozialarbeiter, Polizisten, wenn das Menschen sind, die entsprechend ausgebildet sind und diese Tätigkeit in einer Weise machen können, wo sie in ihren jeweiligen beruflichen Systemen unterstützt werden."
    Das Gesetz will den blinden Vergeltungsimpuls, den wohl jeder von uns empfindet, solange es nicht um eigene Sünden geht, überwinden und in vernunftgesteuertes Tun umwandeln. Es geht um Humanisierung und Besserung - der jungen Straftäter und der Gesellschaft.