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Vor dem Referendum
Die Türkei streitet über Erdogans Präsidialsystem

Im April entscheiden Bürger der Türkei per Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems, das auf den Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zugeschnitten ist. Befürworter des neuen Systems versprechen sich von einer solchen Machtkonzentration mehr Stabilität in der Türkei. Kritiker befürchten das Ende der Demokratie.

Von Luise Sammann | 11.02.2017
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Das Archivbild zeigt ihn während einer Demo umgeben von roten türkischen Fahnen.
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan strebt ein Präsidialsystem an, dass die Gewaltenteilung aufhebt. (AFP / Ozan Kose)
    Gerade einmal zwanzig Minuten braucht die Istanbuler Bosporusfähre für ihre Fahrt zwischen Asien und Europa. Zwanzig Minuten – fast immer begleitet von wechselnden Musikanten, die den Fahrgästen für ein paar Münzen die Zeit verkürzen. Die Sänger aber, die vergangene Woche an Board gingen, wollten kein Geld für ihr Ständchen.
    "Was ist bloß los mit diesem Land? Ach, wenn doch alle einfach nein sagten! Los, sag's auch du, für eine lebenswerte Türkei", schmetterten die jungen Leute, die sich an verschiedenen Stellen unter die Passagiere gemischt hatten. Dem Lied folgte ein kurzer Aufruf, beim für April geplanten Referendum gegen das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem zu stimmen.
    Fahrgäste auf einer Metrofähre zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil von Istanbul, Türkei.
    Fahrgäste auf einer Metrofähre zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil von Istanbul. (imago / Felix Abraham)
    Die meisten Fahrgäste nickten zustimmend, nur einige schauten betont unbeteiligt aus dem Fenster. Die Fähre, die die Studenten für ihr Konzert ausgewählt hatten, verkehrt zwischen den Ufervierteln Beşiktas und Kadiköy. Beides überwiegend liberale, säkulare Bezirke, in denen Erdogan und die AKP es traditionell schwer haben. Die Macht aber haben sie auch hier: Als die Fähre nach 20 Minuten den Anleger von Kadiköy erreicht, wartet bereits die Polizei auf die Sänger. Der Vorwurf: Beleidigung des türkischen Präsidenten!
    Beleidigung, weil man Nein sagt? Beleidigung, weil sie dagegen sind, die gesamte Macht im Staat in die Hände einer einzelnen Person zu legen – wie die Anhänger des Systemwechsels es dieser Tage selbstbewusst propagieren? Politikstudentin Buse lacht bitter.
    "Vizepremier Numan Kurtulmuş hat gerade verkündet: Selbst türkische Beamte sollten sich in den nächsten Wochen frei an Kampagnen für das Referendum beteiligen dürfen. Es sollte für sie keine Einschränkung der Meinungsfreiheit geben. Aber für alle, die mit Nein stimmen wollen, gilt diese Freiheit nicht! Wir werden entweder von Erdogan-Anhängern angegriffen oder von der Polizei eingesperrt, sobald wir uns äußern."
    Viele behalten ihre Meinung lieber für sich
    Die 22-jährige Buse gehört zu einer Gruppe linker Studenten, die sich selbst "Hayircilar" – "Neinsager" nennt. Einmal in der Woche treffen sie sich in einem alternativen Kulturzentrum nahe des Istanbuler Taksim-Platzes, planen Aktionen wie die Gesangseinlage auf der Bosporusfähre.
    Daran, dass das fast immer im Kontakt mit der Polizei endet, sind sie längst gewöhnt. Mert, 23, zuckt mit den Schultern.
    "Die fürchten sich vor uns, nicht andersherum! Schon, wenn wir nur ein paar harmlose Flyer verteilen, kommt die Polizei. Würden wir aber eine Ja-Kampagne betreiben, würde garantiert nichts passieren. Und genau das ist einer der Gründe, warum wir die Leute aufrufen, im April mit Nein zu stimmen. Diese Regierung stellt sich doch mit jedem Einsatz gegen Leute wie uns noch mehr bloß."
    Polizeikräfte am 9. Januar 2017 bei der Festnahme einer Person, während Dutzende Demonstranten vor dem türkischen Parlament in Ankara gegen die geplante Verfassungsänderung protestieren, die dem türkischen Präsidenten Erdogan weitreichende Befugnisse geben würde.
    Demonstranten und Polizeikräfte vor dem türkischen Parlament in Ankara. Daran, dass Nein-Sagen fast immer mit der Polizei endet, sind sie gewöhnt. (picture alliance / dpa / AP / Burhan Ozbilici)
    Tatsächlich sind die Studenten nicht die einzigen, die in den letzten Tagen erfahren mussten, wie unerwünscht Kritik am geplanten Präsidialsystem ist. So groß ist der Druck auf die so genannten Neinsager, dass viele ihre Meinung lieber für sich behalten, sich in einer Zeit, in der in der Türkei weiter der Ausnahmezustand herrscht, in der mehr als 150 Journalisten im Gefängnis sitzen und Tausende Menschen unter Terrorverdacht stehen, von allem fernhalten, was Aufsehen erregen könnte. Buse, Mert und ihre Freunde jedoch wollen sich gerade jetzt nicht einschüchtern lassen. Jede ihrer Aktionen – egal ob nächtliches Stickerkleben, Flyer verteilen oder Lieder singen – nehmen sie mit ihren Handys auf, verbreiten die Videos per Facebook, Twitter und Youtube. Es geht vor allem darum, Aufmerksamkeit zu erregen, sagt Buse.
    "Durch die Dekrete der letzten Monate sind ja alle kritischen Medien ausgeschaltet worden. Pünktlich zum Referendum sozusagen. Jemand, der abends von der Arbeit kommt und den Fernseher einschaltet, sieht also nichts anderes als die Ja-Propaganda des Erdogan-Lagers. Deswegen machen unsere Aktionen sie so nervös."
    Das Beispiel zeigt: Zwei Monate vor dem für Mitte April erwarteten Referendum ist die Spannung in der Türkei groß. Die Worte "Evet" oder "Hayir" – "Ja" oder "Nein" – beherrschen Zeitungskolumnen und Facebookprofile, Teehausdiskussionen und Freitagspredigten. Und das, obwohl laut Umfragen vier von fünf Türken gar nicht wissen, worüber genau sie eigentlich abstimmen sollen. Wie so oft in den letzten Jahren scheint es vor allem die Person Erdogans, die die Menschen bei ihrer Entscheidung motiviert. Typisch, findet der Istanbuler Wahlforscher Adil Gür.
    Wer verstehen will, muss selbst aktiv werden
    "Die Polarisierung der türkischen Bevölkerung sorgt dafür, dass die Menschen wählen, ohne zu hinterfragen. Nach den letzten Referenden konnten uns mehr als 70 Prozent der Befragten hinterher nicht sagen, für oder gegen was sie gerade abgestimmt hatten. Es geht nicht mehr um Inhalte. Es geht um Zugehörigkeit."
    Das gilt besonders für die Regierungs-Anhänger, die den türkischen Präsidenten bei seinen Auftritten kultartig verehren, kompromisslos zu ihm halten, was auch immer er sagt. Und so überrascht es kaum, dass man dieser Tage vor allem unter den so genannten Ja-Sagern vergeblich nach Argumenten für ihre Entscheidung sucht, Mitte April mit Ja zu stimmen. Bestes Beispiel sind die Selfie-Videos Erdogan-loyaler Promis, die seit einigen Wochen im türkischen Netz kursieren
    "Für eine starke Türkei", lautet die simple Erklärung, die Stars wie Popsänger Murat Boz oder Fußballer Arda Turan darin für ihr demonstratives Ja geben.
    Wer sich wirklich mit den geplanten Änderungen an 18 Artikeln der türkischen Verfassung auseinandersetzen will, der muss selbst aktiv werden, muss sich durch Paragraphensammlungen kämpfen, wie sie zum Beispiel einer der größten Fernsehsender des Landes, CNN Türk, auf seiner Seite veröffentlicht. In langen Schachtelsätzen und oft schwer verständlichem Amtstürkisch wird er dort auf folgende Kerninhalte stoßen:
    "Im geplanten System wird der Präsident nicht mehr nur Staats- sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt."
    "Der Präsident darf in Zukunft Mitglied seiner Partei bleiben. Das Gebot der Überparteilichkeit wird abgeschafft."
    "Der Präsident ist für die Ernennung und die Absetzung seiner Stellvertreter und aller Minister zuständig. Auch kann er jederzeit Ministerien neu einrichten oder abschaffen."
    "Der Präsident kann per Dekret neue Gesetze erlassen. Eine Zustimmung des Parlaments ist nicht erforderlich."
    "Das Misstrauensvotum wird abgeschafft. Parlamentarische Anfragen können nur noch schriftlich an den Vizepräsidenten oder die Minister gestellt werden."
    "Parlament und Präsident werden alle fünf Jahre am selben Tag vom Volk gewählt. Der Präsident kann das Parlament bei Bedarf auflösen."
    Binali steht vor zwei Mikrofonen und hat die rechte Hand am Herzen. Hinter ihm sieht man die Fahnen der Türkei und der AKP.
    Der türkische Verkehrsminister und designierte Ministerpräsident sowie AKP-Vorsitzende Binali Yildirim bei einer Pressekonferenz am 19.5.2016 in Ankara. (Afp / Adem Altan)
    Politikprofessor Tanju Tosun gehört zu den wenigen Menschen in der Türkei, die sich genau mit dem vorliegenden Verfassungsentwurf auseinandergesetzt haben. Dass er zu mehr Demokratie führen soll, nur weil das Volk den Regierungschef in Zukunft selbst wählen darf, hält er für einen Irrglauben der Erdogan-Anhänger.
    "Zwei generelle Aspekte verleihen den geplanten Änderungen allergrößte Bedeutung: Die Abschaffung der Gewaltenteilung und der Wegfall des so genannten "Checks-and-Balance-Systems", also der gegenseitigen Kontrolle der Verfassungsorgane, um einer Diktatur vorzubeugen"
    So Tosun, der trotz seiner kritischen Haltung Internationale Beziehungen an der staatlichen Ege-Universität in Izmir lehrt.
    "Ein Beispiel: In den Präsidialsystemen Nord- und Südamerikas hat der Präsident ganz bewusst nicht das Recht, das Parlament aufzulösen. Warum? Weil Legislative und Exekutive dort klar voneinander getrennt sind. Bei uns aber wäre die Legislative durch dieses Recht abhängig von der Exekutive. Oder nehmen wir das Beispiel, dass der Präsident per Dekret Gesetze erlassen kann. Diesen Dekreten sind inhaltlich keine Schranken gesetzt und sie bedürfen keiner Bestätigung durch das Parlament. Der Präsident wird also direkt in die Legislative eingreifen bzw. Legislative und Exekutive in einem sein. Es heißt nun, es wird keine Dekrete zu Grundrechten und Freiheiten der Bürger geben. Aber der Entwurf liefert keine Antwort auf die Frage, was passiert, wenn es eben doch dazu kommt?"
    Ein beispielloses System
    Was also, wenn Präsident Erdogan am Tag nach seiner Wahl beschließen sollte, das Demonstrationsrecht in der Türkei abzuschaffen? Oder gar das Wahlrecht? In anderen demokratischen Systemen würde hier die dritte Gewalt im Staat, die Judikative, eingreifen. Das Verfassungsgericht könnte Erdogans Dekrete für ungültig erklären – so wie jüngst in den USA geschehen, wo das von Präsident Trump verfügte Einreiseverbot gegen Bürger aus sieben überwiegend muslimischen Staaten nach einer richterlichen Entscheidung zur Zeit nicht angewendet werden darf. Doch auch diese Möglichkeit entfiele in Erdogans Präsidialsystem. Denn die Unabhängigkeit der türkischen Judikative wäre mit der neuen Verfassung praktisch aufgehoben. Ein Beispiel liefert Artikel 159 des Entwurfs:
    "Der Präsident entscheidet mit der Ernennung des Justizministers über den Vorsitzenden des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte."
    "Außerdem wählt er weitere sechs der insgesamt dreizehn Mitglieder dieses Rates. Die übrigen fünf bestimmt das Parlament."
    Kritikern gegenüber verwaist Präsident Erdogan gern auf die USA oder Frankreich, die trotz ihrer Präsidialsysteme als Demokratien anerkannt werden. Wer seine Pläne anfechte, messe mit zweierlei Maß. Ein unpassender Vergleich, so der Politikprofessor.
    "Es gibt kein einziges demokratisches Beispiel auf der Welt, das dem hier geplanten Präsidialsystem gleicht. Denn auch dort, wo die Exekutive allein in der Hand eines Führers liegt, hat das Parlament immer noch die Macht der Kontrolle. Eine Exekutive, die nicht mehr von der Legislative kontrolliert werden kann, bedeutet den Wechsel zum Autoritarismus. Es geht also in der Türkei letztendlich nicht um einen System – sondern um einen Regimewechsel."
    Das Bild zeigt den türkischen Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, Chef der sozialdemokratischen Partei CHP. Er steht an einem Rednerpult vor rotem Hintergrund.
    Der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, Chef der sozialdemokratischen Partei CHP. (dpa / picture alliance / Sedat Suna)
    Kein Zufall, dass Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu deshalb von einer "Katastrophe" sprach, als das Parlament in Ankara den Verfassungsentwurf im Morgengrauen des 21.Januar mit 339 zu 142 Stimmen annahm und ihn damit zur Abstimmung an das türkische Volk weitergab. Die nationalistische MHP hatte der regierenden AKP Schützenhilfe geleistet und so für die nötige Mehrheit von mindestens 330 Stimmen gesorgt. Im Gegenzug, so heißt es, habe Präsident Erdogan den angeschlagenen Parteiführer der Nationalisten, Devlet Bahceli, vor einem Amtsenthebungsverfahren durch seine eigene Partei bewahrt. Ein Deal, der die ohnehin schwache Linke im Land vorerst vollständig zu Zuschauern degradiert hat. Dem sozialdemokratischen Abgeordneten Eren Erdem blieb gerade noch Zustände "wie in einer afrikanischen Diktatur" zu prophezeien. Und selbst dafür bedurfte es einiger Anstrengung:
    "Leider haben wir eine Art Medienembargo. Kritische Gedanken wie unsere auszudrücken ist dort nicht mehr möglich, deshalb müssen wir unsere Meinung über die sozialen Medien kundtun."
    So Erdem wenige Tage nach der Parlamentsabstimmung in einem selbstgedrehten Handyvideo, dass er über Facebook verbreitete. Sein Appell, so betonte er, richte sich besonders an die AKP-Wähler im Land.
    "Diese Verfassung beinhaltet große Gefahren und große Fehler. Es geht hier deshalb nicht darum, ob man die AKP und Erdogan unterstützt oder nicht. Für die Türkei, für die Unabhängigkeit und die Demokratie der Türkei, für die Republik und dafür, dass wir unser Leben gleichberechtigt und frei leben können, sollten wir niemals "ja” zu einer solchen Verfassung sagen."
    200.000 Mal wurde die flammende Rede des bekannten Oppositionspolitikers inzwischen auf Facebook angeklickt. Doch gerade die AKP-Wähler, die er eindringlich bittet, sich die 18 Artikel der neuen Verfassung genauestens anzusehen anstatt nur blind Erdogan zu folgen, dürfte das Video samt seinen Warnungen kaum interessiert haben. Denn was für Oppositionelle wie Eren Erdem eine Horrorvorstellung sein mag, ist in den Augen vieler regierungstreuer Türken genau das, was die Türkei braucht:
    "Nehmen Sie eine Familie: So, wie dort Chaos herrscht, wenn es keinen starken Vater an der Spitze gibt, so ist es auch in unserem Staat. Wir brauchen hier keine Pluralität, das führt nur zu Streit. Was wir brauchen, ist eine komplett zentrale Führung. Ein starker Präsident, hinter dem wir uns vereinen können."
    Die Befürworter erhoffen sich eine Person, die am Ende entscheidet
    Auch der Istanbuler Kolumnist Halil Arslan – knapp zwei Meter groß, gestutzter Vollbart, hellwache Augen – kann das Gerede vom Ende der türkischen Demokratie nicht erschrecken. Im Gegenteil.
    "Die Türken wurden traditionell immer von einer einzelnen Person regiert. Ihre ganze Geschichte hindurch. Sogar, als Atatürk die Republik ausrief, gab es bis zum Jahr 1946 nur eine Partei in dieser Republik. Und die wiederum wurde von einem einzelnen Mann geführt. Nicht das Ein-Mann-System, sondern die fünfzig Jahre seitdem sind also eigentlich die Ausnahme, in der es plötzlich einen Präsidenten und einen Premier gab. Und in genau dieser Zeit hatten wir drei Militärcoups und einen Putschversuch! Das zeigt doch: Unserem Volk steht eine zentrale Führung ganz einfach besser."
    Halil Arslan macht eine Pause, rührt Zucker in seinen Cay. Der junge Mann hat Jura studiert, arbeitet bei der AKP-nahen Tageszeitung "Dirilis Postasi" in Istanbul. Das geplante Ein-Mann-System und der Begriff der Demokratie schließen sich für ihn nicht aus. In seinen Kolumnen preist er Recep Tayyip Erdogan als den demokratischsten Führer, den die Türkei je hatte. Gewählt und bestätigt durch den Willen von Millionen Türken.
    "Die Menschen in der Türkei fürchten sich vor Koalitionen. Unsere politische Kultur ist dafür nicht gemacht. Könnten die pro-kurdische HDP und die nationalistische MHP jemals einen Kompromiss finden? Nein! Und genau deshalb brauchen wir einen Anführer, der sagt: Was immer hier los ist, am Ende entscheide ich. Es geht um Stabilität. Denn nur in einem stabilen Land, lassen sich die Probleme anpacken."
    In Istanbul trauern die Menschen um die Getöteten der Bombenanschläge vom 10. Dezember
    Wegen der zahlreichen Toten nach Anschlägen in der Türkei, wünschen sich viele Türken mehr Stabilität. (picture alliance / dpa / Sedat Suna )
    Probleme, davon sieht nicht nur Journalist Halil Arslan mehr als genug in der aktuellen Türkei.
    Mehrere Hundert Menschen sind am Bosporus in den letzten Monaten bei Terroranschlägen ums Leben gekommen. Das Trauma des Putschversuchs vom vergangenen Sommer sitzt weiter tief – das nächtliche Dröhnen der Düsenjets und die Bombardierung des Parlaments in Ankara, haben die Türken noch lange nicht verwunden. Mit Schrecken beobachten sie zudem, wie der Krieg im Nachbarland Syrien immer öfter über ihre Grenze schwappt, IS und PKK ihr Land in die Zange nehmen, die Landeswährung auf Ramschniveau fällt… Kurz: Angst und Unsicherheit prägen den Alltag in der Türkei – und sind zum wichtigsten Wahlkampfinstrument des Erdogan-Lagers geworden. Kein Tag, an dem der Präsident nicht vor obskuren Mächten im In- und Ausland warnt, die die Türkei vernichten oder zumindest am wohlverdienten Aufstieg hindern wollten. Mal in Form des zur Terrororganisation erklärten Gülen-Netzwerks, mal in Gestalt der EU oder gar der Deutschen Bank, die von Erdogan-Medien verantwortlich für die Währungskrise gemacht wird.
    "Was wir das "Präsidialsystem" nennen, ist eigentlich eine Strategie, um diesen Staat und diese Nation wieder zu stärken." Erklärte in diesem Sinne der regierungstreue Journalist Kurtulus Tayiz vergangene Woche im türkischen Fernsehen.
    "Während der gesamte Nahe Osten unter Beschuss steht, während versucht wird unsere Nation zu teilen und zu schwächen, tun wir etwas, um wieder als starkes Land dazustehen. Lassen Sie sich nicht durch das Gerede von der nahenden Diktatur täuschen. All das soll die Menschen nur noch mehr verwirren."
    Entscheidend dürften die Unentschlossenen sein
    Kann Erdogan die Türkei mit dem geplanten Präsidialsystem wirklich aus ihrer aktuellen Krise herausführen? Kann ein Systemwechsel den Türken die erhoffte Stabilität bringen, den Terror besiegen, Investoren beruhigen und die Talfahrt der türkischen Lira beenden? Oder hätte er, dem auch jetzt schon eine Art Allmacht nachgesagt wird, all das dann nicht längst geschafft haben müssen?
    Noch weiß niemand, wie das für Mitte April geplante Referendum in der Türkei ausgehen wird. Aktuelle Umfragen prophezeien ein knappes Rennen: Auf je 35-Prozent werden die Lager der Ja- und der Nein-Sager geschätzt. Entscheidend dürften am Ende die Unentschlossenen sein, die – wohl gemerkt in einer Zeit, in der ihr Land sich weiterhin im Ausnahmezustand befindet, in der Journalisten im Gefängnis sitzen und Gegner des Systemwechsels als Vaterlandsverräter gebrandmarkt werden – eine Entscheidung treffen sollen, die die Türkei für immer verändern dürfte