Wagener: Frau Röstel, eine Zwei-Drittel-Mehrheit für das Atomausstiegspapier der Regierung mit der Industrie und ebenso klare Verhältnisse bei der Wahl zu den Parteivorstandssprechern Fritz Kuhn und Renate Künast, ist das das Ergebnis, was uns Münster bringen wird?
Röstel: Dem würde ich jetzt nicht vorgreifen wollen. Allerdings brauchen wir für den Atomausstieg keine satzungsändernde Mehrheit der Grünen, sondern hier ist eine Mehrheit eine Mehrheit. Ich weiß, dass einigen in meiner Partei dieser Kompromiss zu weit geht, dass es ihnen schwer fällt, das mitzutragen. Allerdings bin ich optimistisch, dass wir eine Mehrheit bekommen können, weil es ist aus meiner Sicht ein gigantisches Signal, wenn ein Industriestaat, der drittgrößte dieser Welt, aussteigt aus einer Risikotechnologie und einsteigt in eine Energiewende, in eine industrielle Revolution mit Effizienztechnologien, mit alternativen Energieformen, die sich ja auch am Exportmarkt, am Weltmarkt zukünftig enormer Nachfrage erfreuen können werden. Ich glaube, dass das eine riesige Chance ist für ein Hochtechnologieland wie Deutschland. Und wenn ich dann sehe, dass eine kleine 6,7-Prozent-Partei diesen industriellen Umbruch bewirkt hat, dann bin ich auch ordentlich stolz darauf. Bezogen auf Ihre zweite Frage nach den Wahlen: Wir haben hier sehr gute Kandidaten mit Kuhn, Künast und Frau Radcke und ich bin auch froh, dass die Partei möglicherweise die Wahl der Qual hat. Es wird hier eine Mehrheitsentscheidung für die Kandidaten geben. Ich wünsche allen Kandidaten, die in Zukunft diese Partei führen werden, die sozusagen als Vorstand der Partei vorstehen, eine satte Mehrheit, und zwar unabhängig von den Flügeln, denen sie zugeordnet werden.
Wagener: Aber einer ist ja zu viel in diesem Triumvirat. Antje Radcke will ja heute die Prinzipienfrage in Sachen Atomausstieg stellen. Trauen Sie ihr eine Außenseiterchance zu? Angesichts so viel praktizierter Realpolitik vertritt sie ja mehr den linken Flügel.
Röstel: Sie vertritt hier vor allem ihre eigene Position. Ich sehe, dass auch auf dem sogenannten linken Flügel die Meinungen sehr, sehr differenziert sind. Es gibt einen Teil, der diesen Kompromiss in Bausch und Bogen ablehnt, ihn nicht mittragen will. Es gibt einen anderen Teil, der ihn mittragen will, wenn es in dieser Legislatur noch zu Abschaltungen kommt. Sie sehen also, es ist keine einheitliche Meinungsführung auf dem linken Flügel unserer Partei. Ich hoffe insgesamt, dass wir eine Mehrheit hinbekommen. Es wäre einfach hoch schädlich, wenn wir uns diesen Erfolg, den die Grünen bewirkt haben und der in der öffentlichen Wahrnehmung ja auch als Erfolg bei den Bürgerinnen und Bürgern endlich einmal auf dem grünen Konto landet, selbst kaputt machen.
Wagener: Es sieht ja mittlerweile wirklich so aus, als gäbe es eine breite Mehrheit für dieses Ausstiegspapier. Es sieht aber auch so aus, als würden in Münster begleitende Nachbesserungen beschlossen werden. Wie könnten die aussehen, dass nämlich ein bis drei Kraftwerke in dieser Legislaturperiode noch abgeschaltet werden sollten, müssen?
Röstel: Dieses Kompromisspapier schließt das ja nicht aus. Wir haben das ja mit einem Pool versehen, der den Energieversorgungsunternehmen flexible Laufzeiten ermöglicht. So haben diese die Möglichkeit, ältere Kraftwerke schneller abzuschalten, jüngere Kraftwerke länger am Netz zu lassen. Es ist aber deren Sache, dies zu verteilen. Das heißt wir können nach dieser Vereinbarung nicht befehlen, dieser oder jener Block muss vom Netz, es sei denn, es gibt dort erhebliche Sicherheitsmängel. Da haben wir allerdings deutlich gepunktet. Wir haben die Sicherheitsstandards gegenüber dem alten Zustand deutlich erhöht mit pflichtmäßigen Sicherheitsüberprüfungen, die auch kostenpflichtig zu Lasten der Betreiber laufen. Das ist ein enormer Fortschritt. Es wird auch insgesamt keinen Sicherheitsrabatt geben, was heißt: immer gemessen am neuesten Stand der Technik müssen sich die Kraftwerke diesen Sicherheitsstandards anzupassen haben. Ich gebe also die Hoffnung nicht auf, dass es zu Abschaltungen kommen kann. Ich sehe allerdings nicht, dass ein grüner Parteitag darüber befinden oder beschließen kann. Wir müssen nicht als grün mit grün etwas beschließen, sondern wir müssen uns gegen die Energieversorgungsunternehmen, wir müssen uns in der Gesellschaft mit unseren Positionen durchsetzen. Das gilt in der Atompolitik ebenso wie in anderen gesellschaftspolitischen Bereichen.
Wagener: Sie nehmen ja heute als Vorstandssprecherin Abschied. Fällt Ihnen das leicht? Sind Sie erleichtert?
Röstel: Wissen Sie, dieser Abschied geschieht mit einem lachenden und mit einem weinenden Auge. Ich habe das während dieser vier Jahre sehr gerne gemacht. Das war, glaube ich, eine der wichtigsten und interessantesten Phasen für meine Partei. Es ist das erstemal, dass Bündnis 90/Die Grünen Regierungsverantwortung für unser Land, für ein 80-Millionen-Volk tragen. Dies zu begleiten, dies mit zu gestalten, das war schon eine enorme Verantwortung. Zu der stehe ich auch.
Wagener: Weil Sie ausscheiden, können Sie mit Sicherheit etwas freier nun auch über die zurückliegende Zeit und auch das, was den Grünen bevorsteht, reflektieren. Ist die Partei, befindet sie sich in dem endgültigen Übergang von einer Protestbewegung zu einer politischen Institution der machbaren Schritte?
Röstel: Ich glaube, dass dieser Schritt längst entschieden ist. Spätestens mit der Regierungsbeteiligung im September 1998 haben wir endgültig diesen Prozess von einer Oppositions- zur Gestaltungspartei vollzogen, und zwar unabhängig davon, ob wir künftig in Regierungsverantwortung oder in der Opposition auf Bundes-, Landes-, oder auch auf Kommunalebene agieren werden. Das ist aus meiner Sicht entschieden. Was wir aber noch nicht geschafft haben ist, dass wir als Gesamtpartei zu dieser Entscheidung auch stehen. Das bedeutet auch, eine Politik der Kompromisse, eine Politik der kleinen Schritte in die richtige Richtung mitzutragen. Wenn uns dann noch große Würfe wie etwa beim Energieeinspeisegesetz gelingen, bei der Energiewende also, dann ist das natürlich um so besser.
Wagener: Der Parteirat wird heute und morgen verkleinert von 30 auf 16 Sitze. Dieser Parteirat hat Beschlusskraft. Er wurde in Karlsruhe so verabschiedet. Einmal pro Monat soll sich dieser Parteirat treffen. Sie kandidieren auch. Was soll er bringen?
Röstel: Ich bin zunächst froh, dass diese Strukturveränderung bei der letzten Bundesdelegiertenkonferenz so beschlossen worden ist. Ich hatte mich schon bei der ersten Strukturreform dafür eingesetzt, ein kleines, schnell agierendes Gremium mit Entscheidungskraft zu beschließen. Jetzt vollziehen wir das. Aus den Erfahrungen der letzten zwei Jahre haben wir gelernt. Dieser Parteirat wird ein entscheidendes Gremium in unserer Partei, ein entscheidendes Machtgewicht auch bekommen. Ich bin deshalb auch sehr froh, dass sich der Außenminister Joschka Fischer entschlossen hat, dafür zu kandidieren, ebenso wie die Spitzen von Fraktion und unsere Kabinettsmitglieder. Ich denke, dass dies ein zentrales Führungsgremium werden wird, bei dem die Fäden für unsere Partei zusammenlaufen, wo die Kommunikation, die Koordination untereinander auf Bundesebene, aber natürlich auch mit unserer Parteibasis vollzogen werden muss.
Wagener: Was bedeutet es denn konkret, dass Fischer sich entschieden hat, nun für den Parteirat zu kandidieren? Wird er damit stärker eingebunden in die Parteiarbeit?
Röstel: Zum einen ist es ein deutliches Signal, dass dieser Parteirat Gewicht haben wird, dass er politisches Gewicht haben wird. Es gibt quasi niemanden mehr auf der Bundesebene, der unabhängig darüberschwebend oder danebenstehend um dieses Gremium herumkommen wird. Das bedeutet, dass es einfach an Potenz gewinnt gegenüber dem alten Zustand. Wichtige Entscheidungen zur Begleitung, vielleicht auch zur kritischen Begleitung der Regierungsarbeit, zur politischen Koordination, zur politischen Planung werden dann in diesem Gremium sehr schnell sehr flexibel getroffen werden können, so dass auch, hoffe ich jedenfalls, eine stärkere Mobilisierung, eine stärkere Campagnefähigkeit für unsere Partei wieder hinzubekommen ist.
Wagener: Frau Röstel, die Bündnis-Grünen im Osten sind ganz besonders schwach auf der Brust, um das mal so salopp auszudrücken.
Röstel: Das ist leider wahr.
Wagener: Nun verlassen Sie als ostdeutsche Bündnis-Grüne auch noch eine wichtige Führungsposition in der Partei. Was muss getan werden, damit die Ostdeutschen stärker in die Partei eingebunden werden?
Röstel: Personell ist es so, dass ich ja im Parteirat kandidiere und für den Bundesvorstand mit Undine Kurth eine weitere Ostdeutsche hinzugewonnen wird. Nichts desto trotz wird es in Zukunft auch unsere Partei notwendig haben, Führungspersönlichkeiten aus dem Osten in die Bundesebene einzubinden und auch entsprechende Schaltstellen der Macht mit einzubinden, so dass es dort auch eine Identifikation über Personen geben kann. Das alleine reicht aber überhaupt nicht aus. Das haben ja die letzten zwei, vier Jahre sehr deutlich gezeigt. Wir müssen den Aufbau Ost als Gesamtpartei bewerkstelligen, nicht nur innerparteilich mit Strukturaufbau, mit einer kontinuierlichen politischen Arbeit auch über prominente Persönlichkeiten, sondern wir müssen als Gesamtpartei auch politische Projekte endlich wahrnehmen, etwa die Angleichung der Lebensverhältnisse. Das ist ja nichts, was man Otto Schily und Herbert May alleine überlassen sollte, sondern jetzt laufen die Solidarverhandlungen mit den Ministerpräsidenten und wir als Bündnis 90/Die Grünen werden sagen müssen, wie wir das sehen. Oder die europäische Integration. Welche Rolle sollte Ost-Deutschland denn dabei spielen? Ist es eine Chance, oder wird gleich von den alten Bundesländern aus alles in Richtung Tschechien, Polen oder Ungarn sozusagen weitergeleitet. Ich glaube, hier müssen wir uns deutlicher positionieren. Bei Interessen, die die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger besonders betreffen, müssen wir als Grüne sagen, wohin es gehen soll. Nicht zuletzt bietet natürlich auch der Weggang von Chefdirigent Gysi und seinem Souffleur Bisky in der PDS eine Chance. Jetzt geht dort der Theatervorhang auf das Panikorchester auf und zu sehen wird dort eine zutiefst strukturkonservative Partei sein. Das bietet für uns die Chance, in Ostdeutschland um die jüngeren Wählerinnen und Wähler der PDS hart zu kämpfen und auch mit der PDS eine inhaltliche Auseinandersetzung zu führen.
Wagener: Die scheidende Vorstandssprecherin der Bündnis-Grünen Gunda Röstel war das in den "Informationen am Morgen". - Haben Sie recht herzlichen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!
Link: (Gespräch mit Antje Radcke (19.6.2000)==>/cgi-bin/es/neu-interview/683.html)
Link: Interview als RealAudio