Heinlein: Was waren denn seinerzeit die Motive der preußischen Heeresreformer für die Einführung der Wehrpflicht?
Kroener: Das ist eine interessante Frage. Die Überlegungen unterscheiden sich von denen in Frankreich, wo, wie immer wieder gern gesagt wird, die Wiege der Wehrpflicht gestanden hat. In Frankreich ging es darum, die Errungenschaften der Revolution, die bürgerlichen Freiheiten - Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - sozusagen auch militärisch gegen die Mächte der Despotie zu verteidigen. Das war im Ansatz in Preußen im Kampf gegen Napoleon auch so gewesen, nur sehr rasch wurde die allgemeine Wehrpflicht zur Erziehungsschule des nationalbestimmten Bürgers gemacht.
Heinlein: Hatte sich denn die Berufsarmee in den vergangenen Kriegen seinerzeit nicht bewährt?
Kroener: Die Berufsarmee hatte sich in den Kriegen des 18. Jahrhundert durchaus bewährt, jedoch war sie sozusagen vom Volk weit abgekoppelt gewesen. Sie war im unmittelbaren Verfügungsraum des jeweiligen Herrschers geblieben. Man glaubte im Rahmen der Französischen Revolution, dass wenn das Bürgertum selbst seine Verteidigung organisieren würde, ungerechte Kriege, vor allen Dingen Angriffskriege, in Zukunft verhindert werden könnten. Die allgemeine Wehrpflicht ist sozusagen auch ein Instrument des Verteidigungskrieges, nämlich der Verteidigung des Territoriums und eben der bürgerlichen Freiheiten, die man durch die Französische Revolution gewonnen hatte.
Heinlein: Wie begeistert waren denn die jungen Männer seinerzeit in Preußen, ihren Dienst an der Waffe für König und Vaterland nun zu leisten?
Kroener: Das ist sehr unterschiedlich. Wir haben in den Befreiungskriegen durchaus auch Entwicklungen, wo man die Aushebung nicht so positiv gesehen hat.
Heinlein: Aus der Sicht des Historikers: Wie hat denn die Einführung der Wehrpflicht die preußische Armee verändert?
Kroener: Sie hat die preußische Armee vielleicht weniger als die preußische Gesellschaft verändert, denn von nun an wurde einfach eine große Zahl junger Männer durch das Instrument Armee über zwei oder drei Jahre hindurchgeschleust. Damit wurde tatsächlich ein ganz bestimmtes Verhaltensmuster über das Militär in die Gesellschaft implantiert.
Heinlein: Können Sie das näher beschreiben?
Kroener: Es ist im Grunde der Versuch unternommen worden, die Bevölkerung an die monarchische Staatsform heranzuführen. Es war die Armee des Königs, und die Nähe zum Monarchen, die Nähe zum monarchischen System wurde über die Erziehung in der Armee stimuliert. Es wurden ganz bestimmte Vorstellungen von Gehorsam, von Treue zum Monarchen, durch die Erziehung von Rekruten in der Armee weitergegeben. Es wurden dann auch nach dem Militärdienst über Kriegervereine diese Erinnerungen an dem Militärdienst weitergeführt. Es wurde im Grunde eine Militarisierung der Gesellschaft über diese Ausbildung innerhalb der Streitkräfte vorangetrieben, das gilt vor allen Dingen für den späten Wilhelminismus, also für die Jahre nach 1890 etwa.
Heinlein: Stimmt also die Aussage von manchen Ihrer Historikerkollegen, die sagen, die Wehrpflicht habe bis weit in das 20. Jahrhundert hinein demokratisches Handeln eher behindert als gefördert?
Kroener: Das ist insofern eine zwiespältige Bemerkung, als die Wehrpflicht oder die Berufsarmee eine Form sind, in der ganz bestimmte politische Maßnahmen durchgeführt werden. Es geht um das Verhältnis von Armee und Gesellschaft in einem Gemeinwesen, und die Politik bestimmt quasi im Konsens mit der Gesellschaft die Aufgaben der Streitkräfte. Da ist die Form letztlich nachrangig. Wenn es nicht gelingt, bestimmte demokratische Vorstellungen, auch Vorstellungen von Landesverteidigung in die Streitkräfte zu implantieren, dann kann man tatsächlich mit einer Armee der allgemeinen Wehrpflicht durchaus undemokratische Ziele und Entwicklungen vorantreiben, wie übrigens auch - wir haben dieses Beispiel ja auch - eine Berufsarmee durchaus sich zu einem Staat im Staate entwickeln kann und sich von der Gesellschaft abkoppeln kann.
Heinlein: Das ist das Stichwort. Ein Sprung in der Geschichte: In der Weimarer Republik wurde die Wehrpflichtarmee durch die Siegermächte abgeschafft. Es entstand eine Berufsarmee von 100.000 Mann. Entstand tatsächlich ein Staat im Staate, also eine Reichswehrführung, ein Offizierskorps unabhängig von der Politik?
Kroener: Unabhängig von der Politik kann man so nicht sagen, aber ihr ständig fremd und fremder werdend. Wir haben eine länger dienende Freiwilligenarmee gehabt, von Berufssoldaten und 12 Jahre dienenden Freiwilligen. Von Anfang an hat die Verbindung zwischen dem Staat, den Staatszielen und der Armee nicht bestanden. Die Armee ist nicht im Staat der Weimarer Republik angekommen. Sie ist zum Teil in den politischen Verhältnissen verharrt, die vor 1918 bestanden haben. Zum Teil wollten auch Angehörige der Armee auch einen völlig anderen, einen autoritären Staat und fanden sich in dem Zusammenhang durchaus auch mit den Vertretern radikaler und extremer Parteien, vor allem der Rechten, in Übereinstimmung.
Heinlein: Hätte denn eine Wehrpflichtarmee eine solche Entwicklung der Reichswehr in der Weimarer Republik verhindert?
Kroener: Das ist schwer zu sagen. Unter den Bedingungen, die vor allen Dingen in der zweiten Hälfte der 20er Jahre, und dann vor allem unter der wirtschaftlichen und politischen Krisensituation Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre wahrscheinlich nicht. Wir haben einen sehr hohen Anteil an Angehörigen sogenannter rechter Wehrverbände, die natürlich dann auch im Rahmen einer Wehrpflicht in die Armee hineingekommen wären. Es wäre vielleicht ein Korrektiv gewesen, über Angehörige der Arbeiterschaft und der unterbürgerlichen Schichten, aber ob dies vor dem Hintergrund der Erziehungsmittel der Armee ausgereicht hätte, diese Armee nun wirklich zu einem Instrument des demokratischen Staates zu machen, ist eher zu bezweifeln.
Heinlein: Vielen Dank für das Gespräch.
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