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Vor EU-Gipfel zu Mittelmeer-Konflikt
Wirksamkeit von Sanktionen auf dem Prüfstand

Auf der Suche nach Gasvorkommen führt die Türkei im Mittelmeer Probebohrungen durch – zum Unmut von Griechenland, Zypern und EU. Nun könnten Sanktionen gegen die Türkei erfolgen. Dass Sanktionen kein Allheilmittel sind, zeigen allerdings Beispiele wie der Irak und Nordkorea.

Von Marc Engelhardt und Thomas Seibert | 08.12.2020
In this Tuesday, July 9, 2019 photo, a helicopter flies near Turkey's drilling ship, 'Fatih' dispatched towards the eastern Mediterranean, near Cyprus. Turkish officials say the drillships Fatih and Yavuz will drill for gas, which has prompted protests from Cyprus.(Turkish Defence Ministry via AP, Pool)
Türkische Probebohrungen nach Gasvorkommen im Mittelmeer sorgen für Streit (Pool Turkish Defense Ministry/AP Photo)
Die Europäische Union will bei einem Gipfeltreffen am 10. und 11. Dezember über Sanktionen gegen die Türkei entscheiden. Grund ist der Streit um Gasvorräte unter dem östlichen Mittelmeer. Bei Vorberatungen an diesem Montag kritisierten die EU-Außenminister, die Türkei habe in den vergangenen Monaten nichts zur Entspannung der Lage beigetragen – vielmehr sei die Situation heute noch schlechter als vorher.
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) räumte ein, deutsche Vermittlungsbemühungen seien gescheitert. Selbst wenn sich die EU beim Gipfel auf eine gemeinsame Linie einigen kann, ist aber nicht sicher, ob Sanktionen die Türkei zu einer anderen Politik bewegen können. Denn die Wirkung von politischen oder wirtschaftlichen Strafmaßnahmen in der internationalen Politik ist umstritten.
Türkische Kriegsschiffe eskortieren das türkische Schiff Oruc Reis.
Worum es im Gasstreit zwischen der Türkei und Griechenland geht
Der Streit um Seegebiete im östlichen Mittelmeer droht weiter zu eskalieren – möglicherweise auch militärisch. Es geht um Erdgas, aber auch um Geopolitik und einen seit Jahrzehnten ungelösten Konflikt. Das macht eine Lösung so schwierig.
Auf dem Höhepunkt der Spannungen im östlichen Mittelmeer in diesem Sommer ging das türkische Verteidigungsministerium mit einem aufwändig produzierten Propagandavideo an die Öffentlichkeit. Eine Sequenz des Videos zeigt ein türkisches Forschungsschiff in Begleitung von Kriegsschiffen bei der Erkundung von Gasvorkommen in umstrittenen Gewässern.
Unversöhnliche Widersacher
Im Streit um das Gas und die Grenzziehung im Meer stehen sich die Türken und die EU scheinbar unversöhnlich gegenüber. Zeitweise kamen sich griechische und türkische Kriegsschiffe gefährlich nah. Ankara wirft Griechenland und Zypern vor, die Türkei und die türkischen Zyprer von einer Beteiligung an den riesigen Gasvorräten unter dem Meeresboden ausschließen zu wollen. Athen, Nikosia und die ganze EU betrachten die türkische Suche nach Gas im Meer als illegal und als Provokation.
Mit der Türkei sei keine Verständigung möglich, sagte der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis Mitte November dem Fernsehsender Sky News Arabia: "Die Türkei führt sich derzeit in der ganzen Region auf wie ein Störenfried, und das betrifft nicht nur die griechisch-türkischen Beziehungen. Schauen Sie sich an, was in Zypern los ist, in Libyen, oder im Kaukasus. Offenbar ist mit der Türkei einfach nicht zu reden."
Das türkische Forschungsschiff "Oruc Reis".
Gasstreit im Mittelmeer - Vermittler dringend gesucht
Die östlichen Mittelmeeranrainer streiten um Gasvorkommen, um Hoheitsgebiete und um politische Bündnisse. Die Gefahr einer militärischen Eskalation wächst. Und die Staaten schlagen auf den Konfliktfeldern Pflöcke ein.
Die EU erließ schon letztes Jahr Reiseverbote und Kontensperrungen gegen Unternehmen und Einzelpersonen, die an der türkischen Suche nach Gas im Mittelmeer beteiligt sind. Doch davon lässt sich Ankara nicht beeindrucken. Griechenland, Zypern und auch Frankreich fordern deshalb schärfere Sanktionen gegen die Türkei.
Bei einem Gipfeltreffen im Oktober vertagte die EU die Diskussion darüber – vor allem Deutschland drang damals darauf, Gesprächen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan noch eine Chance zu geben. Doch eine Mäßigung der türkischen Haltung ist nicht zu erkennen. Deshalb kommt das Thema Sanktionen beim Gipfel am 10. und 11. Dezember wieder auf den Tisch.
Zumindest in der Öffentlichkeit spielt Erdogan die Gefahr durch EU-Sanktionen herunter. Sanktionen könnten die Türkei nicht schrecken, sagte Erdogan. Schließlich werde Ankara seit mehr als einem halben Jahrhundert von Europa hingehalten. "Jetzt sagen sie, wir werden Sanktionen verhängen. Ihr habt doch sowieso schon seit 1959 Sanktionen gegen uns. Ihr spielt doch ständig mit der Frage: Nehmen wir sie auf oder nicht? Ihr habt noch nie euer Wort gehalten."
Erdogans Konter mit dem Flüchtlingsthema
Zudem warnte Erdogan, sein Land könne wieder Flüchtlinge und auch Mitglieder des Islamischen Staates nach Europa schicken, so wie im Frühjahr, als sich vorübergehend zehntausende Menschen aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern an der türkisch-griechischen Landesgrenze drängten. "Die Tore gehen auf, die IS-Leute werden zu euch kommen. Dann seht ihr, was ihr davon habt."
Der türkische Präsident Erdogan an einem Rednerpult vor mehreren türkischen Flaggen.
Der tärkische Präsident Erdogan verknüpfte den Gas-Konflikt mit dem Flüchtlingsthema (imago images / Xinhua)
Aber kann sich Erdogan seiner Sache wirklich so sicher sein? Nach Medienberichten wird in Brüssel unter anderem über Sanktionen gegen die türkische Tourismusbranche nachgedacht, einen der wichtigsten Devisenbringer des Landes, der bereits von der Corona-Pandemie stark getroffen ist.
Scharfe Sanktionen der EU könnten die türkische Wirtschaft tatsächlich unter Druck setzen, sagt Emre Deliveli, türkischer Wirtschaftsexperte und Kolumnist: "Die türkische Wirtschaft wäre sehr anfällig für starke EU-Sanktionen, weil es enge wirtschaftliche Verbindungen zwischen der EU und der Türkei gibt. Ungefähr die Hälfte der türkischen Exporte gehen in die EU, und es gibt viele europäische Banken in der Türkei. Außerdem stellen die Europäer den Großteil der Türkei-Urlauber aus dem Ausland."
Allerdings wäre es für die EU nicht ganz einfach, die richtige Art von Sanktionen zu wählen. Wegen der engen Verflechtungen zwischen Europa und der Türkei müsste die EU darauf achten, nicht versehentlich europäischen Unternehmen zu schaden, wenn sie gegen die Türkei vorgehe, sagt Deliveli.
"Sicherlich würden die Interdependenzen die Sanktionen kompliziert machen, besonders im Bankensektor, weil sich mehrere europäische Banken stark in der Türkei engagieren. Wenn die Sanktionen ihnen schaden, würde es die Dinge sehr viel komplizierter machen."
CDU-Europaabgeordneter Michael Gahler
"Die Türkei muss schon verstehen, dass das so nicht geht"
Im Streit um die Erdgaserkundungen der Türkei vor griechischen Inseln sieht der CDU-Europaabgeordnete Michael Gahler Griechenland im Recht. Die EU stehe hinter ihrem Mitglied, sei aber auch zur Deeskalation verpflichtet.
Dass Sanktionen auch die Wirtschaft des Landes treffen, das die Sanktionen verhängt, ist nichts Ungewöhnliches. Professor Gabriel Felbermayr ist Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und hat eine Datenbank aller weltweit verhängten Sanktionen seit 1950 erstellt. Aktuell sind es gut 400, die meisten davon seien mit politischen Kosten verbunden. "Wir haben erst vor kurzem angeguckt, was eigentlich die Russlandsanktionen kosten. Und da findet man für Deutschland so eine Größenordnung von acht Milliarden Euro an verlorenem Bruttoinlandsprodukt. Das lässt sich natürlich nur grob abschätzen."
So werden vermutlich auch Sanktionen gegen die Türkei ein Land wie Deutschland Geld kosten. Letztlich ist das Felbermayr zufolge eine Abwägung. Schließlich handele es sich bei Sanktionen um ein Mittel der Außenpolitik, vergleichbar etwa mit militärischer Abschreckung.
"Wenn wir in teure Panzer investieren müssten, dann würde das auch Geld kosten, das nicht zur Verfügung steht, um Lehrer zu bezahlen oder den Bürgern Konsum zu ermöglichen. Also gratis lässt sich eben Außenpolitik nicht betreiben."
Das Debakel Irak mit Folgen
Unterm Strich stellten Sanktionen einen zivilisatorischen Fortschritt dar, urteilt Felbermayr. Schließlich schützt es Menschenleben, wenn Sanktionen Kriege ersetzen. Allerdings war das nicht immer so. Bis Anfang der 1990er-Jahre wurden Sanktionen so umfassend angelegt, dass die Bevölkerung oft massiv unter den Folgen litt. Als besonders dunkles Kapitel gelten die vom UN-Sicherheitsrat im Irakkrieg 1990 verhängten Sanktionen gegen das Regime von Saddam Hussein, in deren Folge trotz Hilfsprogrammen zahlreiche Menschen starben – auch wenn die unter Saddam verbreitete Zahl von mehr als einer halben Million toter Kinder bis heute umstritten ist. Unbestritten sei dagegen, dass die Folgen bis heute nachwirkten, sagt Thomas Biersteker, Professor am Genfer Graduate Institute.
"Das Saddam-Regime nutzte die Sanktionen als Vorwand, um ihren Gegnern das Leben schwer zu machen. Die Unterstützer Saddams in den sunnitischen Regionen bekamen Hilfe von der Regierung, während die schiitische Bevölkerung in Basra am meisten leiden musste. Die Spaltung des heutigen Irak geht auf die Sanktionen von damals zurück. Und das gleiche Muster sehen wir immer wieder: Autoritäre Regierungen, die mit weitreichenden Sanktionen konfrontiert sind, entscheiden, wer die Kosten im eigenen Land tragen muss."
Saddam Hussein (r.), irakischer Diktator in einer Kampfpose vor dem Golf-Krieg 1990
Saddam Hussein (r.), irakischer Diktator in einer Kampfpose vor dem Golf-Krieg 1990 (imago/ZUMA/Keystone)
Das Debakel im Irak hatte Folgen. Die Staatengemeinschaft änderte ihre Sanktionspolitik grundlegend. Regierungen, aber auch Nationalbanken und Politikwissenschaftler wie Biersteker entwickelten die Strategie gezielter Sanktionen, die nicht auf ganze Länder, sondern auf Industriezweige, Firmen oder sogar einzelne Personen abzielen. Der UN-Sicherheitsrat mit seinen Vetomächten China, Russland, Großbritannien, Frankreich und den USA zog dabei an einem Strang. Auch deshalb sei die Zahl der vom Sicherheitsrat verhängten Sanktionen damals steil angestiegen, weiß der Sanktionsexperte Peter Wallensteen von der Universität im schwedischen Uppsala.
"Vor 1990 hatten die Vereinten Nationen zwei Sanktionsregime verhängt. Schon in den Neunzigern wuchs die Zahl, und heute haben wir 16 oder 17 UN-Sanktionen, je nach Definition." Viele dieser Sanktionen sind seit Jahren in Kraft, obwohl ihr Erfolg fraglich ist. Für Wallensteen liegt das daran, dass es leichter sei, Sanktionen auszusprechen, als sie zu stoppen.
"Sanktionen zu beenden ist sehr schwer. Wenn sie einmal in Kraft sind und die damit verbundenen Ziele nicht erreicht wurden, dann würde ein Stopp so aussehen, als kapituliere man und gebe das Ziel auf", so Wallensteen.,
Der Fall Nordkorea
Mit diesem Dilemma müssen sich Diplomaten im UN-Sicherheitsrat immer wieder auseinandersetzen. So ist der deutsche Botschafter bei den Vereinten Nationen, Christoph Heusgen, für den Zeitraum der deutschen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat auch Vorsitzender des Sanktionsausschusses für Nordkorea. Ein Land, dessen Wirtschaft wegen seines Atomwaffenprogramms seit 14 Jahren von den UN sanktioniert wird – ohne, dass bisher ein Durchbruch gelungen wäre. Die Sanktionen aufzuheben, käme für Heusgen dennoch nicht in Frage.
"Natürlich ist es immer wichtig, dass man gleichzeitig auch politische Gespräche führt, dass man versucht, auf politischem Weg zu einer Lösung zu kommen. Aber diese Sanktionen einzustellen und damit Nordkorea den Weg zu öffnen für eine ganz leichte Beschaffung der notwendigen Ausrüstungen, der Technik und sowas, das wäre ein sehr schwerer Fehler."
Tatsächlich zeigt der Fall Nordkorea, dass der Erfolg von Sanktionen vor allem an ihrer Umsetzung leidet. So weigern sich China und Russland seit Jahren, ihre Öllieferungen nach Nordkorea statt in Tonnen in Barrel anzugeben, so wie in den Sanktionsrichtlinien vorgesehen. Für Heusgen ein Symptom.
Un-Sicherheitsrat in New York 
Teils scheitern Sanktionen auch am Veto von bestimmten Staaten im UN-Weltsicherheitsrat (dpa / Xinhua / Li Muzi)
Zudem ist die Einheit der 1990er-Jahre im Sicherheitsrat schon lange einer Blockadehaltung gewichen. Im Falle Syriens etwa können deshalb schon seit Jahren keine Sanktionen beschlossen werden.
"Russland war nicht damit einverstanden und was dann eingesetzt hat, ist etwas, was sehr, sehr positiv ist. Nämlich das, was nach der UNO Charta auch möglich ist: dann ist die Europäische Union eingesprungen. Die Europäische Union hat gezielte Sanktionen gegen Vertreter des Assad-Regimes ergriffen, die verantwortlich sind für die Gräueltaten, die vom Regime begangen worden sind und begangen werden."
Völkerrechtlich ist allerdings umstritten, ob andere Institutionen als der UN-Sicherheitsrat Sanktionen verhängen dürfen. Zudem gefährdet die Uneinigkeit im Sicherheitsrat die Einhaltung von Sanktionen und damit den ohnehin schwer messbaren Erfolg. Professor Peter Wallensteen von der Universität Uppsala.
"Wenn man sich die ursprünglichen Ziele von Sanktionen ansieht und dann misst, was herauskommt, dann sind zwischen 20 und 35 Prozent der Sanktionen erfolgreich – erfolgreich in dem Sinn, dass die Sanktionierten einknicken und sagen: Wir machen was ihr wollt."
Wallensteens Kollege Thomas Biersteker weist indes daraufhin, dass die Erfolgsquote etwa von Kriegen nicht höher liege. Flugverbote, Waffenembargos, Finanz- und Wirtschaftssanktionen seien letztlich nur Bausteine einer umfassenden Strategie, die mit der Verhängung einhergehen müsse. Das aber sei viel zu selten der Fall, warnt Biersteker – und verweist auf Nordkorea.
"Da handelt es sich um sehr umfassende Sanktionen. Anstatt zu sagen die klappen nicht, weg damit, sollte man diese Sanktionen nutzen. Warum versucht man nicht, die Aufhebung eines Teils dieser Sanktionen anzubieten, im Gegenzug für Fortschritte hin zu einer Denuklearisierung der koreanischen Halbinsel?"
Biersteker, einer der Erfinder der gezielten Sanktionen, spricht sich zudem für eine Reform des Instruments aus. Es gebe mittlerweile so viele Sanktionen, dass es eine unabhängige Kontrollinstanz brauche. "Ich wäre dafür, dass unabhängige Experten kontrollieren, ob die Bevölkerung durch die gezielten Sanktionen tatsächlich nicht beeinträchtigt wird. Es braucht eine Weiterentwicklung von Sanktionen, die über ihre Umsetzung und das Problem der fehlenden Strategien hinausgeht."
Ein Problem, das zu lösen wäre, ist die Gegenpropaganda, die durch Sanktionen befeuert wird und das Ziel des Regimewechsels konterkariert. Für Gabriel Felbermayr, den Präsidenten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, besteht diese Gefahr auch für europäische Sanktionen gegen die Türkei.
US-Präsident Donald Trump (2. v. r.), und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (2. v. l.) stehen neben ihren Ehefrauen Melania Trump (r.) und Emine Erdogan (l.) vor dem Weißen Haus 
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einem Besuch im Weißen Haus neben US-Präsident Donald Trump (r.) (picture alliance / dpa / Kyodo /MAXPPP )
"Es kommt sehr stark darauf an, wie die Sanktionen im Zielland propagandistisch gedreht werden können. Ob man damit ein Narrativ bestärkt, das schon da ist, nämlich in der Türkei wie vielleicht auch in Russland früher, dass der Westen den Aufstieg des Landes verhindern will, dass man da einen Rivalen hat, den man klein halten möchte."
Im Fall der Türkei gibt es zumindest ein Beispiel dafür, dass Sanktionen ihren Zweck erfüllen können. Vor zwei Jahren erließ US-Präsident Donald Trump Strafmaßnahmen gegen die türkische Stahl- und Aluminiumindustrie, um die Freilassung des in der Türkei inhaftierten amerikanischen Pastors Andrew Brunson zu erzwingen. Außerdem sollten Guthaben des türkischen Innenministers und des Justizministers in den USA beschlagnahmt werden. Trump verlangte die Freilassung des Geistlichen – und er bekam, was er wollte. Als die türkische Lira wegen der amerikanischen Sanktionen in den Sinkflug ging, gab Erdogan nach und ließ Brunson in die USA zurückkehren.
Sind Sanktionen also ein wirksames Mittel, um im Streit mit der Türkei etwas zu erreichen? Ja und Nein, sagt der türkische Wirtschaftsfachmann Deliveli.
"Ja, weil wir den Fall von Pastor Brunson haben, und nein, weil die Sanktionen schon sehr stark sein und große Durchschlagskraft auf die türkische Wirtschaft und auf die Märkte haben müssen. Man darf nicht vergessen, dass die Türkei ein ziemlich großes Land ist mit einer Wirtschaft, die weltweit auf Platz 18 oder 19 liegt, was das Bruttoinlandsprodukt angeht. Die EU würde also sehr starke Sanktionen brauchen. Bei den USA dagegen reichte schon die Drohung mit Sanktionen, weil die türkische Wirtschaft sehr angreifbar war – man könnte einwenden, dass das heute ähnlich ist, aber die Finanzmärkte nehmen Drohungen der USA gegen die Türkei nun einmal sehr viel ernster als Drohungen der EU."
Echtes Risiko scharfer EU-Sanktionen?
Um wirksamen Druck auf die Türkei wegen des Streits im östlichen Mittelmeer machen zu können, fordern EU-Länder wie Griechenland deshalb Sanktionen, die von Ankara nicht ignoriert werden können. Regierungschef Mitsotakis sieht jedenfalls kaum Möglichkeiten, die Strafmaßnahmen noch abzuwenden.
"Wir haben uns eine Frist gesetzt, und das ist der Europäische Rat im Dezember. Da wollen wir Bilanz ziehen und sehen, was in den vergangenen Monaten geschehen ist, und wir wollen eine Entscheidung über ein gemeinsames Vorgehen gegenüber der Türkei treffen. Leider sind die türkischen Provokationen in den vergangenen Wochen weitergegangen."
Möglicherweise sieht auch Erdogan inzwischen ein echtes Risiko scharfer EU-Sanktionen. In jüngster Zeit hat er sich mehrfach auffällig positiv über Europa und den Westen geäußert, so etwa in einer Rede Ende November.
"Von der Europäischen Union erwarten wir, dass sie uns gegenüber Wort hält, uns nicht diskriminiert und dass sie zumindest die Feindschaft gegen unser Land nicht zum Werkzeug macht. Wir sehen uns in Europa, sonst nirgendwo, und wir wollen unsere Zukunft gemeinsam mit Europa bauen."
Auch Wirtschaftsexperte Deliveli hält es für möglich, dass der türkische Präsident wieder einen pro-westlicheren Kurs fährt: "Es kann gut sein, dass Erdogan versuchen wird, die Beziehungen mit dem Westen – Europa und den USA – wieder zu verbessern, und zwar nicht wegen drohender EU-Sanktionen, sondern weil er eingesehen hat, dass die Wirtschaft sehr anfällig ist und dass er Geld aus dem Ausland braucht, um die Wirtschaft wieder flott zu machen. Und dieses Geld aus dem Ausland kann nur aus dem Westen kommen, von der EU und von den USA – etwas in dieser Größenordnung von Russland, China oder Katar zu erwarten, ist unrealistisch. Deshalb könnten wir durchaus Verbesserungen in den Beziehungen mit dem Westen - den USA und der EU – erleben, aber nicht wegen der drohenden Sanktionen."
Ein neuerlicher Test steht unmittelbar bevor. Der US-Kongress hat am Freitag angekündigt, Sanktionen zu verhängen, weil die Türkei das russische Flugabwehrsystem S-400 gekauft hat. Ein mögliches Veto des scheidenden Präsidenten Trump könnte überstimmt werden. Auch diese neuerliche Drohung zeigte sofort Wirkung. Die türkische Lira verlor an Wert – Präsident Erdogan muss nun entscheiden, ob er sich beugen soll.