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Vor Urteil des Bundesverfassungsgerichts
"Streichung des Betreuungsgeldes wäre eine Korrektur"

Durch das Betreuungsgeld würden nur Anreize in bestimmten Gruppen gesetzt und Kindern Chancen auf Lernen in der Kita genommen, sagte Irene Gerlach, Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats im Familienministerium. Es passe zudem nicht zu den heutigen Lebensentwürfen von Eltern, erklärte sie im DLF.

Irene Gerlach im Gespräch mit Doris Simon | 21.07.2015
    Prof. Dr. Irene Gerlach: Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim BMFSFJ
    Die Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats im Familienministerium, Irene Gerlach, findet, dass das Betreuungsgeld nicht zu der Lebensplanung von Eltern passt. (picture alliance/dpa/Martin Gerten)
    Die Lebensentwürfe von Eltern sähen zum Großteil vor, eine Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie zu schaffen, sagte die Politikwissenschaftlerin Irene Gerlach. Darin spiele das Betreuungsgeld keine Rolle. Das Modell "zu Hause betreuen" werde nur dann gewählt, wenn man kein Angebot auf dem Arbeitsmarkt habe. 150 Euro würden nicht dazu führen, eine Erwerbstätigkeit aufzugeben, so Gerlach. Sollte das Betreuungsgeld vom Bundesverfassungsgericht gekippt werden, bedeutete das eine Korrektur.
    Die Anreize, das Betreuungsgeld in Anspruch zu nehmen, seien nur in bestimmten Gruppen von Eltern vorhanden, vor allem bei denjenigen mit Migrationshintergrund und geringen Einkünften. Erfahrungen aus Skandinavien hätten das bereits vorher gezeigt.
    Lebensplanungen von Eltern würden mit dem Betreuungsgeld, das aus koalitionsinternen Gründen festgelegt worden sei, konterkariert. Die deutsche Familienpolitik habe ohnehin jahrzehntelang durch Ehegattensplitting und kostenlose Mitversicherung des Ehepartners gefördert, Kinder zu Hause zu betreuen. Erst seit 2013, als das Recht auf Kinderbetreuung ab dem zweiten Lebensjahr eingeführt wurde, sei eine Wahlmöglichkeit geschaffen worden.

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: Es könnte sein, dass das Bundesverfassungsgericht heute Morgen das Betreuungsgeld als nicht verfassungskonform ablehnt, weil der Bund nicht zuständig ist. Aber was würde eine solche Entscheidung familienpolitisch bedeuten? Die Politikwissenschaftlerin Professor Irene Gerlach ist Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie und jetzt am Telefon. Guten Morgen!
    Irene Gerlach: Guten Morgen, Frau Simon!
    Simon: Frau Gerlach, im Mix von Leistungen für Eltern und Anreizen für das Kinderkriegen, aber auch Anreizen für das Arbeitengehen, wie wichtig ist da der Baustein Betreuungsgeld?
    Gerlach: Er spielt aus meiner Sicht eigentlich gar keine Rolle. Es ist in der Tat so, wie in dem Beitrag eben auch von Herrn Rauschenbach ja dargestellt, dass, in der Tat, Anreize gesetzt werden in bestimmten Gruppen von Eltern und das sind insbesondere Eltern, die einen Migrationshintergrund mitbringen und Eltern im Bereich der geringen Einkünfte.
    Das ist insofern auch nicht überraschend, denn man wusste das vorher aus entsprechenden Beispielen im skandinavischen Bereich, dass tatsächlich diese Anreize nur bei bestimmten Gruppen von Eltern bewirken. Damit einhergeht aber natürlich die Tatsache, dass den Kindern die Chance genommen wird, in den Einrichtungen gefördert zu werden, und die ist in der Diskussion eben nach PISA für die deutsche Familienpolitik ganz, ganz wichtig geworden.
    Simon: Das heißt also, ich höre bei Ihnen raus, es wäre kein großes Drama, wenn das Betreuungsgeld gestrichen wird.
    Gerlach: Es wäre aus der Sicht der Systematik von Familienpolitik eine Korrektur, wenn Sie so wollen. Wir haben im Prinzip ja endlich in Deutschland es geschafft, mit dem Jahrtausendwechsel so in etwa, eine in sich zunehmend konsistente Politik zu entwickeln, eine Politik, die auch nach den Lebensentwürfen von Menschen fragt, und diese Lebensentwürfe von Menschen, von Männern und Frauen, Müttern und Vätern, sehen heute eben zum allergrößten Teil vor, eine Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familie. Und durch das Betreuungsgeld, das eigentlich eher aus koalitionsinternen Gründen 2006 diskutiert worden ist, 2007 dann entsprechend festgelegt worden ist – in dem entsprechenden Gesetz werden eben diese Lebensentwürfe konterkariert und wird auch diese Konsistenz der Familienpolitikgestaltung ein Stück weit wieder zurückgeführt.
    Simon: Aber Frau Gerlach, wird da nicht andersrum, könnte man das nicht auch sagen, dass da staatlicherseits auch ein Familienbild verordnet wird, nämlich zu Hause betreuen ist nichts, was der Staat fördern sollte?
    Gerlach: Das tut er ja schon. Das ist in der ganzen Diskussion so selten irgendwo mal diskutiert worden. Die deutsche Familienpolitik hat ja über Jahrzehnte im Prinzip das Selbstbetreuen dadurch gefördert, dass wir das Ehegattensplitting haben, dass wir die kostenlose Mitversicherung von betreuenden Ehefrauen eben in den Sozialversicherungen haben und Ähnliches, und das sind erhebliche Beträge, wenn man die pro Jahr mal zusammenrechnet, die da maximal sozusagen eingespart werden können. Das heißt also, dieses Modell ist immer schon gefördert worden.
    Was eben jetzt zusätzlich als neues Modell – und das jetzt wirklich im Sinne der Wahlfreiheit – auch unterstützt wird, ist tatsächlich die institutionelle Betreuung der Kinder mit dem Recht auf den Betreuungsplatz im zweiten Lebensjahr seit 2013. Das heißt also, erst damit haben wir zwei Modelle, zwischen denen man wählen kann, und dabei muss ja noch bedacht werden, dass die Eltern den Betreuungsplatz bezahlen.
    Simon: Das heißt aber aus Ihrer Sicht, bedeutet es nicht, wenn es jetzt kein Geld mehr gibt für das Fernbleiben von der Kita, das Ende des Modells, zu Hause betreuen.
    Gerlach: Das Modell zu Hause betreuen, denke ich mal, wird ja nur dann gewählt, wenn man keine Alternative hat. Diese 150 Euro werden ja nicht dazu führen, dass man eine Erwerbstätigkeit tatsächlich aufgibt oder ihr nicht nachgeht, die im nennenswerten Maße eben tatsächlich dann auch möglich wäre.
    In vielen Fällen sind das schlichtweg auch Mitnahmeeffekte von Menschen, die entweder keine Erwerbstätigkeit ausführen möchten oder können, weil sie zum Beispiel kein entsprechendes Arbeitsangebot haben. Und diesen Zusammenhang kann man sich ganz gut auch verdeutlichen, indem man sich mal anschaut zum Beispiel, wie viele männliche Bewerbungen es um Betreuungsgeld in den unterschiedlichen Bundesländern gibt: In der Bundesrepublik sind es eben zu 95 Prozent Mütter, die das Betreuungsgeld nehmen, mit den entsprechenden Effekten, das heißt also verbunden mit der Tatsache, dass eine Gleichbehandlung, so wie sie nach Artikel 3 ja eben vorgesehen ist, nicht wirklich umgesetzt wird.
    Wenn aber die Männer beantragen, dann ist der Anteil zum Beispiel in Bremen und in Berlin mit je 9,1 Prozent sehr viel höher als zum Beispiel in Bayern mit 3,1 Prozent, und das sind im Prinzip genau die Länder, die auch Probleme auf dem Arbeitsmarkt haben, zumindest für bestimmte Segmente.
    Simon: Wie ist das denn mit den Eltern, die keinen Betreuungsplatz für ihr unter dreijähriges Kind bekommen? Ist es denn richtig, diesen Eltern dann auch noch die Möglichkeit zu nehmen, Betreuungsgeld zu bekommen?
    "Wir müssen konsequent Kita-Plätze schaffen"
    Gerlach: Ich würde andersrum fragen: Wie lange kann unser Staat sich das noch leisten, keine Betreuungsplätze zur Verfügung stellen zu können? Und dazu muss man sagen, dass zwar unter dem Druck der entsprechenden gesetzlichen Regelungen ab 2013 aber immerhin ja doch erhebliche Ressourcen geschaffen worden sind für immerhin im Durchschnitt um die 40 Prozent, und den Weg müssen wir einfach weitergehen, den müssen wir konsequent weitergehen, sodass auch für jedes Kind, das in einer Kita betreut werden soll, auch entsprechende Plätze vorhanden sind.
    "Das Betreuungsgeld ist eine rein familienpolitische Leistung"
    Simon: Wenn Sie auf das sozialpolitische schauen, was ja ganz einzigartig ist beim Betreuungsgeld, wenn das heute wirklich gekippt wird vom Verfassungsgericht, haben wir damit die erste sozialpolitische Leistung, die nach zwei Jahren eingestellt wird. Normalerweise laufen sozialpolitische Leistungen ewig weiter. In dem Fall richtig?
    Gerlach: Das Betreuungsgeld ist keine sozialpolitische Leistung, es ist eine familienpolitische Leistung. Das muss man ganz, ganz stark unterscheiden. Eine sozialpolitische Leistung ist im Prinzip das Sozialgeld für Kinder, das ist eine sozialpolitische Leistung, und Betreuungsgeld und Sozialgeld werden ja miteinander verrechnet. Das heißt also, Sie müssen da eine ganz klare Grenze ziehen. Das Betreuungsgeld ist ein rein familienpolitisches Instrument.
    Simon: Und wie es klingt bei Professor Irene Gerlach, ist die Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirates für Familienfragen nicht wirklich traurig, wenn das Bundesverfassungsgericht heute entscheidet, dass das Betreuungsgeld verfassungswidrig ist. Frau Professor Gerlach, vielen Dank für das Gespräch!
    Gerlach: Ich danke Ihnen! Wiedersehen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.