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Vorbild Samtene Revolution
Neue Großdemonstrationen in Prag

In Tschechien demonstrieren seit April jede Woche Tausende Menschen gegen Regierungschef Andrej Babis. In Prag waren es zuletzt 120.000 Teilnehmer. Für diesen Sonntag rechnen die Veranstalter mit mindestens doppelt so vielen. Sie hoffen auf die größte Kundgebung seit der Samtenen Revolution vor 30 Jahren.

Von Marianne Allweiss | 22.06.2019
Demonstranten in Prag zeigen Schilder bei einem Protest gegen Regierungschef Babis. Auf einem ist er hinter Gittern zu sehen.
In ganz Tschechien gehen Woche für Woche Tausende Menschen auf die Straße: aus Sorge um die Unabhängigkeit der Justiz (dpa-Bildfunk / Michael Heitmann )
Mikulas Minar lässt sich ins Gras fallen. In einem kleinen Park in der Nähe des Prager Stadtzentrums trifft sich der Organisator der regierungskritischen Massenproteste mit Unterstützern, um die nächste Großdemonstration vorzubereiten.
Zwei Frauen und fünf Männer, alle älter als der 26-jährige Student, packen Snacks und Getränke aus. Die Stimmung ist gelöst. Dass sie ihre Arbeit aber sehr ernst nehmen, wird deutlich, als Minar alle bittet, ihre Handys auszuschalten und abzugeben.
"Wir sind mit Beschimpfungen, Lügen und Desinformationskampagnen konfrontiert und wir haben auch schon eine Todesdrohung erhalten. Sie war so ernst, dass wir die Polizei einschalten mussten."
Vor anderthalb Jahren hat der gläubige Christ aus einer Kleinstadt in Südböhmen den Verein "Million Momente für die Demokratie" gegründet. (Auslöser war die Parlamentswahl, die die Protestpartei ANO des ehemaligen kommunistischen Spitzels und Großunternehmers Andrej Babis klar gewann. Zusammen mit der rechtsextremen SPD und den Kommunisten hätte er eine Mehrheit im Parlament, erzählt Minar.
"Wir haben uns dann von der Charta 77 inspirieren lassen. Aber auch von der Studentenbewegung, die die Samtene Revolution 1989 angestoßen hat. Was wir jetzt für die Demokratie tun können, ist, den Premierminister zu kontrollieren."
Petition: 400.000 gegen Babis
Zuerst startete Minar eine Petition gegen Babis, mittlerweile von 400.000 Menschen unterschrieben, und organisierte einzelne Demonstrationen. Als die tschechische Polizei im April eine Anklage gegen den Regierungschef wegen Subventionsbetrug für das Luxusressort Storchennest empfahl, war für ihn das Maß voll.
"Einen Tag danach, einen einzigen Tag danach, plötzlich, ohne Erklärung, ist der Justizminister zurückgetreten und wurde durch Marie Benesova ersetzt, eine enge Vertraute von Premier Babis und Präsident Zeman."
Aus Sorge um die Unabhängigkeit der Justiz gingen seitdem Woche für Woche mehr Tschechen auf die Straße, in Prag, aber auch in 300 kleineren Städten.
Auf dem Wenzelsplatz forderten bis zu 120.000 Demonstranten den Rücktritt des Regierungschefs, nachdem ihn zwei vorläufige Berichte der EU-Kommission noch weiter unter Druck gesetzt hatten. Obwohl Babis seinen Agrofert-Konzern Treuhandfonds übergeben hat, kontrolliere er ihn noch immer, schreiben die Rechnungsprüfer. Außerdem entscheide er als Regierungschef über die Vergabe von EU-Geldern in Tschechien. Und die fließen vor allem an die mehr als 200 Unternehmen des Agrar-, Lebensmittel- und Medienimperiums, das der frühere kommunistische Außenhandelsvertreter nach der Wende aufgebaut hat. 17,4 Millionen Euro könnte Brüssel zurückfordern.
"Das ist ein Angriff auf die tschechische Republik, so Babis. Dieser zweifelhafte Bericht enthält die grundlose Behauptung, dass ich in einem Interessenkonflikt stehe, dass ich Agrofert weiter beherrsche. Das ist eine absurde Konstruktion, die sich EU-Beamte ausgedacht haben."
Babis sitzt fest im Sattel
Allerdings ermittelt die tschechische Staatsanwaltschaft mittlerweile auch. Tschechien werde niemals Subventionen zurückgeben, entgegnete der gebürtige Slowake Andrej Babis.
"Die Tschechische Republik ist nicht die Slowakei: Die Regierung wird nicht wegen irgendwelcher Demonstrationen zurücktreten."
Die Opposition im Parlament ist schwach. Die fünf kleineren Parteien haben keine Mehrheit, wollen aber kommende Woche ein Misstrauensvotum einbringen. Als symbolische Geste ihres Widerstands, erklärt Oppositionsführer Petr Fiala von den Bürgerdemokraten.
"Wir sind überzeugt, dass der Premier so viele Probleme hat, dass er sein Amt nicht ausüben kann. In dieser Situation halten wir es für politisch sinnvoll, wenn die Regierungskoalition weiterarbeitet, allerdings mit einem anderen Chef."
Aber der sitzt fest im Sattel: Babis führt ein Minderheitskabinett mit den geschrumpften Sozialdemokraten und lässt sich von den Kommunisten tolerieren, arbeitet aber auch mit den Rechtsextremen zusammen, wenn es etwa darum geht, Aufsichtsposten in Medienhäusern zu besetzen. Neuwahlen fürchtet die CSSD noch mehr als Teile der Opposition. Parteichef Jan Hamacek sieht nur in einer Verurteilung von Babis eine Rote Linie überschritten.
"Die Sozialdemokratie ist nicht deshalb in die Regierung eingetreten, um die Probleme der ANO-Bewegung zu lösen. Wir sind dort, um unser Wahlprogramm umzusetzen und ich muss sagen, wir haben schon viel erreicht."
Umfragen: stabile 30 Prozent
Zurück im Prager Park. Hier wird klar, dass die Sozialdemokraten von den vielen sozialen Wohltaten, den Lohnsteigerungen und Rentenerhöhungen, nicht profitieren.
"Ich wohne allein auf dem Land, bin Witwer. Und ich denke, dass das Leben, das uns Babis in den letzten Jahren ermöglicht hat, sehr gut ist."
Der 88-jährige Rentner sitzt auf einer Parkbank neben seiner Freundin, die er für ein paar Tage besucht. Vor allem Ältere und Menschen auf dem Land halten zu Babis. Auch in den letzten Umfragen hat er nur wenig von seinen stabilen 30 Prozent eingebüßt. Die tschechische Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit ist seit Langem die niedrigste in der ganzen EU, der harte Sparkurs von Vorgängerregierungen nach der Finanzkrise Geschichte.
"Ich bin froh, dass Babis am Ruder ist, weil es uns früher schlechter ging. Jetzt sucht jeder etwas Schlechtes an ihm, aber mir gefällt er - sowohl seine Meinungen als auch sein Verhalten. Ich glaube, dass wir heute keinen anderen Politiker haben, der es mit ihm aufnehmen kann."
Die Aktivisten rund um Mikulas Minar bereiten sich auf einen Langstreckenlauf vor. Im Herbst wollen sie weiterprotestieren. Aber erst einmal geht es um die nächste Demonstration. Dann wollen sie den Letna füllen, den Sommerhügel über der Moldau, das ist zuletzt während der Samtenen Revolution gelungen.