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Vorschläge der Weizsäcker-Kommission

Müller: Am Telefon begrüße ich nun den stellvertretenden SPD-Fraktionschef Gernot Erler. Guten Morgen!

24.05.2000
    Erler: Guten Morgen, ich grüße Sie.

    Müller: Herr Erler, fühlen Sie sich auch übergangen vom Verteidigungsminister?

    Erler: Nein, denn mir liegt eine Zusage von Rudolf Scharping vor, dass er seine Vorstellungen über die Zukunft der Bundeswehr und auch dann über den Umfang erst nach einer Fraktionssitzung am 06. Juni dieses Jahres endgültig festlegen wird und dann seine Vorstellung für eine Sitzung des Kabinetts aufschreiben wird. Vorher wird er offen sein für die Diskussion mit den anderen Fraktionen und natürlich ganz besonders auch für die Diskussion und das Gespräch mit der SPD-Fraktion, was ja heute Abend beginnen wird.

    Müller: Also nicht heute im Kabinett?

    Erler: Nein, keineswegs!

    Müller: Herr Erler, die Diskussion ist kontrovers. Es sind sehr viele Zahlen, die zum Teil verwirrend sind. Da wird von 340.000 gesprochen, von 320.000. Dann geht es wohl um die Sollstärke und um die Iststärke. Welche Position haben Sie?

    Erler: Ich möchte mal sagen, ich finde es sehr schade, dass jetzt der Bericht von der Weizsäcker-Kommission droht, in einem Zahlensalat, die beliebig in den Raum geworfen werden, unterzugehen. Dieser Versuch ist ja gerade bedeutsam, weil er eigentlich Pfade aus der Beliebigkeit ausweist. Es wird ja häufig übersehen, dass die Weizsäcker-Kommission sehr gut begründen kann, welche Zahlen sie hier in den Raum stellt, weil sie eben sagt, wir haben ausgerechnet und wir gehen davon aus, dass Deutschland in Zukunft parallel an zwei Krisenherden zugleich einsatzfähig sein sollte. Und dann berechnen sie, was für Kontingente gebraucht werden, um das zu bewältigen, und sagen, wir brauchen zwei Einsatzkontingente des Heeres, der Luftwaffe, der Marine und natürlich auch der Sanität, um so etwas zu bewältigen. Dann kommen sie auf einer solchen exakten Berechnung zu ihren Zahlen.

    Müller: Warum interessiert denn diese Begründung, wie Sie es gerade vorgetragen haben, nicht den Verteidigungsminister?

    Erler: Oh doch, das interessiert ihn schon. Ich meine, man muss natürlich darüber reden, ob ein solches Ziel richtig ist, sich eine solche Fähigkeit zuzulegen. Das entscheidende ist aber, dass wir nicht zu der Beliebigkeit zurückkehren sollten. Wer andere Zahlen will, finde ich, der muss sie begründen. Der muss sagen nein, mir reicht diese Fähigkeit zum Beispiel einer Krisenreaktion an zwei verschiedenen Stellen nicht aus, ich will noch mehr, oder ich will noch weniger. Das muss man beides begründen.

    Müller: Geht Rudolf Scharping denn angemessen mit den Empfehlungen der Kommission um, wenn er zugleich ein eigenes Konzept in der Tasche hat?

    Erler: Das hat er noch nicht. Ich sagte ja, der Verteidigungsminister bleibt offen bis in die zweite Juni-Woche für weitere Vorschläge. Sonst würden ja die Gespräche in den Fraktionen auch ausdrücklich mit den Oppositionsvertretern, aber auch mit den Grünen gar keinen Sinn machen. Es muss natürlich auf einer Basis erfolgen, wo man ungefähr die Richtung kennt. Das ist jetzt ungefähr bekannt, in welche Richtung Scharping denkt. Es ist aber noch ein offener Prozess. Sonst würde das ganze gar keinen Sinn machen.

    Müller: Kommen wir einmal zu den Inhalten. Wie radikal soll der Einschnitt bei der Truppenstärken-Reduzierung sein?

    Erler: Der Einschnitt soll sich danach richten was benötigt wird. Die Weizsäcker-Kommission sagt, künftig wird nicht mehr Verteidigung und Bündnisverteidigung im Vordergrund stehen, sondern Krisenreaktion, die Möglichkeit, auf Krisen zu antworten, und leitet daraus ja nicht nur die Größe, sondern auch die Ausrüstung, die Ausbildung, die Interoperabilität und solche Fähigkeiten der Bundeswehr ab. Wir werden uns in Zukunft überhaupt mit den 200 Spalten dieses Textes noch viel gründlicher beschäftigen müssen als nur mit diesen nackten Zahlenwerken, die öffentlich diskutiert werden, denn in diesem Bericht der Weizsäcker-Kommission liegen noch hoch interessante Thesen und auch Annahmen, zum Beispiel dass die Bundeswehr in Zukunft ganz konsequent eine europäische Armee sein soll, europäische Streitkräfte darstellen soll, die überhaupt nicht alleine auftreten kann, sondern nur noch in Zusammenarbeit, in Kooperation mit anderen, so dass deswegen auch eine strikte Arbeitsteilung, was Rüstung und Ausrüstung angeht, organisiert werden soll.

    Müller: Hat die Kommission, Herr Erler, denn Recht mit der Annahme, dass sich die Bundeswehr in Zukunft zunehmend mit der Internationalisierung ihrer Aufgabe befassen muss?

    Erler: Ich halte das für eine richtige und notwendige Annahme. Wir werden es uns in Europa gar nicht mehr leisten können, Parallelentwicklungen, Doppelbeschaffungen, wie das zum Beispiel mit dem Jagdflugzeug passiert war, wo es in Europa drei verschiedene Entwicklungen gab, die alle viele zweistellige Milliardenbeträge gekostet haben. Darauf weist diese Kommission hin. Aber das ist ja noch nicht die Realität in Europa. Das ist ein Ziel. Es gibt andere wichtige Paradigmenwechsel in der Kommission, zum Beispiel die Wehrpflicht. Da wird immer nur diese Zahl 30.000 betrachtet, aber viel wichtiger ist doch, wie es die Kommission sagt, wie wir es bisher gemacht haben ist wahrscheinlich genauso verfassungs-nichtkonform, nämlich dass einfach gesagt wird, na gut, wir schöpfen eben einen Jahrgang so gut es geht aus, egal ob wir die Leute eigentlich brauchen oder nicht.

    Müller: Aber diese Diskrepanz in Punkto Wehrgerechtigkeit würde ja dann noch gravierender?

    Erler: Nein. Sie sagen ja gerade, wir wechseln das ganze System. Sie plädieren für eine Auswahlwehrpflicht, die aber dann vergütet wird. Das ist ja ein völlig anderes Prinzip. Sie sagen, wir holen wirklich nur die Leute, die unabdingbar für die Erfüllung des Auftrages benötigt werden, aber dafür vergüten sie.

    Müller: Also eine Art freiwillige Wehrpflicht?

    Erler: Das ist eine Art freiwillige Wehrpflicht, wenn man so will. Es ist eine Auswahlwehrpflicht mit Vergütung, die aber auf der Basis einer Notwendigkeit steht, und es gibt eine friedenspolitische Begründung der Wehrpflicht. Die eigentliche Ratio der Kommission ist, dass sie sagt, wir brauchen im Augenblick die Wehrpflicht nicht für die Sicherheitslage, die jetzt vorhanden ist, aber wir müssen eine weitreichende Risikovorsorge treffen. Und wenn es mal zu einer Krise im klassischen Muster einer Bedrohung kommt, dann brauchen wir nicht eskalierende Maßnahmen, sondern dann haben wir die Wehrpflicht als ein Stück Flexibilität, und das wirkt sich friedenspolitisch positiv aus. Das ist eine hoch interessante Begründung für die Aufrechterhaltung der Wehrpflicht, was bisher in der Diskussion völlig übersehen worden ist.

    Müller: Herr Erler, wenn ich das zusammenfassen darf. Das hört sich so an, als seien Sie mit Ihren Vorschlägen oder mit Ihren Vorstellungen sehr nah an den Forderungen der Kommission?

    Erler: Die SPD-Bundestagsfraktion, die ja heute Abend erstmals übrigens nicht in einer Sondersitzung, sondern in einer Informationsveranstaltung zusammentreten wird, aber am 06. Juni in einer Fraktionssitzung sich nochmals mit dem Bericht beschäftigen wird, sieht ganz hervorragende Ansätze in dem Bericht der Kommission und sie ist nicht bereit, die Diskussion zu reduzieren auf die bloßen Eckwerte. Die Eckwerte sind ja das Ergebnis einer Analyse und eines Empfehlungspaketes, und wir werden uns mit dem ganzen Paket beschäftigen.

    Müller: Letzte Frage, Herr Erler. Reden Sie denn auch noch mit den Grünen?

    Erler: Ja selbstverständlich! Die Grünen haben sich ein bisschen festgebissen auf das eine Thema Wehrpflicht, sind aber ansonsten ziemlich positiv eingestellt gegenüber dem Bericht. Wir werden auch gemeinsame Gespräche führen, wie wir vorgehen, und Rudolf Scharping wird ausdrücklich auch mit den Grünen sprechen.

    Müller: Das war der stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Gernot Erler. - Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Link: (Interview mit Angelika Beer (Bündnis 90/Grüne) und Bernhard Gertz (Bundeswehrverband)==>/cgi-bin/es/neu-interview/632.html)

    Link: Interview als RealAudio