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Vorwürfe Ergebnis von realitätsnaher Ausbildung?

Simon: Gestern hat sich Verteidigungsminister Peter Struck mit den Kommandeuren der Teilstreitkräfte getroffen. Heute wird der Minister noch einmal den Verteidigungsausschuss des Bundestages über bekannt gewordene Misshandlungen an mehreren Bundeswehrstandorten informieren. Inzwischen sich weitere Berichte eingegangen, dass auch an anderen Standorten als an den bekannten vier solche Vorfälle stattgefunden haben. Am Telefon ist nun der frühere General Manfred Eisele, der nach einer Karriere in Bundeswehr, NATO und als Beigeordneter des UNO-Generalsekretärs jahrelang die weltweiten Einsätze der Friedenstruppen der Vereinten Nationen plante und koordinierte. Herr Eisele, nach der Empörung der ersten Tage wird nun diskutiert, was den Rekruten genau widerfahren ist. War es Folter, waren es Misshandlungen brutaler Vorgesetzter oder war es falsch verstandene Härte im realitätsnahen Training? Normaler Bundeswehralltag war es wohl sicher nicht?

Moderation: Doris Simon |
    Eisele: Nein, normal sind die Dinge so, wie sie derzeit in der Öffentlichkeit dargestellt werden, wohl doch nicht. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass die Ausbildung der Bundeswehr ja zum Ziel hat, Soldaten für ihren Einsatz tüchtig zu machen, und das ist in der Zeit des Kalten Krieges vor allen Dingen dadurch geschehen, dass man sie zunächst überlebensfähig gemacht hat, und unter den Bedingungen des Kalten Krieges standen dann Themen wie Panzerabwehrausbildung, Fliegerabwehrausbildung und ABC-Abwehrausbildung im Vordergrund. Da wir es bei Bundeswehreinsätzen aber kaum noch mit großen feindlichen Panzerarmeen zu tun haben, bemühen sich wahrscheinlich viele Ausbilder, die Ausbildung auf die Realitäten der heutigen Bundeswehreinsätze umzustellen. Ich kann mir vorstellen, dass die bekannt gewordenen Vorwürfe ein Ergebnis des Bemühens um Realität in der Ausbildung gewesen sind.

    Simon: Ist denn nach Ihren Erfahrungen bei NATO und auch bei den Friedenseinsätzen der UNO die Rekrutenausbildung in anderen westlichen Armeen, die schon früher in diese Richtung gingen, härter als bei der Bundeswehr?

    Eisele: Sie ist sicher in vielen Bereichen anders, und es ist in den Bereichen, die mir bekannt geworden sind, nirgendwo zu finden, dass die Ordnung des Grundgesetzes, die den Schutz der Würde des Menschen an oberste Stelle rückt, so eindeutig auch in Ausbildungsrichtlinien der jeweiligen Streitkräfte umgesetzt worden ist wie in Deutschland. Ich habe bei offiziellen Besuchen sogar in europäischen Ländern Ausbildungspraktiken erlebt, die ich in einigen Fällen persönlich abgebrochen habe, wohlgemerkt gegenüber ausländischen Soldaten, weil ich sie für nicht hinnehmbar und eine brutale Verletzung der Menschenwürde empfunden habe, etwa das Zerschlagen von Dachlatten auf den bloßen Schienbeinen von Soldaten oder wenn ein Vorgesetzter mit Absicht seinen auf dem Boden liegenden Soldaten in den Bauch springt. In der Bundeswehr wären derartige Vorfälle sofort rechtlich und gerichtlich geahndet worden, und ich bin sicher, dass ein derartiger Vorgesetzter aus der Bundeswehr fristlos entlassen worden wäre.

    Simon: Sehen Sie die Gefahr, dass möglicherweise auch die Bundeswehr, die ja nun an vielen Standorten international schon mit anderen Armeen zusammenarbeitet, sich in diese Richtung ein wenig bewegt?

    Eisele: Nein, das kann ich mir als generelle Entwicklung nicht vorstellen, weil ja die Wertevorstellungen des Grundgesetzes in das Soldatengesetz, das ja das Verhalten aller Soldaten in der Bundeswehr regelt, übernommen worden sind, und da steht als oberste Pflicht der Vorgesetzten, dass der Vorgesetzte in seiner Haltung und Pflichterfüllung ein Beispiel geben solle und darüber hinaus dass er zur Fürsorge für seine Soldaten verpflichtet ist. Alleine diese beiden Forderungen schließen entwürdigende Behandlungen von Soldaten aus. Da, wo Vorgesetzte in die Irre gehen bei der Gestaltung der Ausbildung, die sie an ihren Realitätsvorstellungen orientieren mögen, da gilt es, ihnen die entsprechenden Korrekturen zuteil werden zu lassen.

    Simon: Der Wehrbeauftragte ist erst spät auf die Misshandlungen aufmerksam geworden. Stimmt etwas nicht mit den Strukturen der Bundeswehr, wenn so wenige der Betroffenen Meldungen gemacht haben?

    Eisele: Nein, ganz sicher nicht. Im internationalen Vergleich sind die Beschwerderechte der Soldaten der Bundeswehr sicher beispielhaft. Ich kenne keine anderen Armeen, in denen die Möglichkeiten, sich über das Fehlverhalten von Vorgesetzten, aber auch von Behörden und Dienststellen zu beschweren, so weitgehend sind wie in der Bundeswehr. Die verspätete Kenntnisnahme von den Vorfällen, die uns jetzt bekannt geworden sind, liegt vielleicht eher daran, dass auch die Betroffenen diese Ausbildungspraktiken als realitätsnahe empfunden haben und die möglicherweise die Menschenwürde betreffenden Aspekte solcher Ausbildungspraktiken nicht unbedingt als entwürdigend empfunden haben.

    Simon: Das heißt aber, dass vielleicht in der Ausbildung an irgendeinem Punkt nochmals darauf hingewiesen werden müsste, was möglich ist und was nicht.

    Eisele: Das ist sicher richtig. Es bedarf einer permanenten Schärfung des Bewusstseins für das, was mit dem Schutz der Menschenwürde, die unser Grundgesetz verlangt, eben tatsächlich auch im Alltag zu geschehen hat. Hier bedarf es auf der Seite der Vorgesetzten und der Untergebenen einer permanenten Aufmerksamkeit.

    Simon: Herzlichen Dank für dieses Gespräch.