Das Kraftfahrtbundesamt dürfe nicht für die Kontrolle und Einhaltung der Abgasstandards zuständig sein, sagte Jürgen Trittin (Grüne) im DLF. Seiner Meinung nach sollten die Kontrollen vom Umweltbundesamt durchgeführt werden. Der Staat dürfe nicht länger zulassen, dass die Autohersteller Regeln wie die zum Ausstoß von Stickoxid einfach außer Kraft setzten, sagte er weiter. Stattdessen müsse der Staat die Rahmenbedingungen so festlegen, dass die Automobilindustrie für Märkte der Zukunft etwa die Elektromobilität produziere.
Zudem forderte Trittin mehr Verbraucherschutz in Deutschland. Sammelklagen von Konsumenten - wie sie in den USA üblich sind - seien dabei ein Mittel, das "dem Staat durchaus Beine mache."
Das Interview in voller Länge:
Christoph Heinemann: Hinter den beiden Buchstaben VW stehen Hunderttausende hoch kompetente Beschäftigte, die hervorragende Autos bauen können, sofern sie nicht betrogen werden wie so viele Kunden auch. Die Beschäftigten werden vielleicht aufatmen; kurz bevor die letzten Körner durch die Sanduhr des Ultimatums gerieselt sind, hat sich VW mit den Behörden in den USA außergerichtlich geeinigt. Die Deutsche Presseagentur berichtet, VW werde in seiner Bilanz für das Jahr 2015 rund 16,4 Milliarden Euro zurückstellen müssen. Die "Süddeutsche Zeitung" berechnet einen Finanzbedarf von rund 49 Milliarden Euro wegen des Abgasskandals. Heute tagt der VW-Aufsichtsrat. Die Mitglieder wissen, es wird teuer.
Am Telefon ist Jürgen Trittin, der vier Jahre lang in Hannover als Landesminister gearbeitet hat, später dann als Bundesumweltminister, heute unter anderem tätig als stellvertretendes Mitglied für die Grünen im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages. Guten Morgen.
Jürgen Trittin: Guten Morgen, Herr Heinemann.
Heinemann: Geht es VW jetzt besser?
Trittin: VW hat eine erste Einigung erzielt. Trotzdem ist VW nicht übern Berg, denn es stellt sich die Frage, wie das Unternehmen für die Zukunft ausgerichtet wird, wie wird es künftig auf den Märkten der Welt agieren, und da liegt noch viel, viel Veränderung vor ihnen. Ich glaube, dass die Tiefe der Veränderung von der Unternehmensführung und den dort Verantwortlichen noch nicht verstanden und noch nicht umgesetzt worden ist.
"Die wichtigsten Märkte der Welt für die exportorientierte deutsche Automobilindustrie sind keine Dieselmärkte"
Heinemann: Was befürchten Sie?
Trittin: Sehen Sie, wenn Sie die wichtigsten Automärkte der Welt anschauen, dann stellen Sie fest: In China fahren ein Prozent der PKW mit Diesel, in den USA fahren drei Prozent der PKW mit Diesel. Das heißt, die wichtigsten Märkte der Welt für die exportorientierte deutsche Automobilindustrie sind keine Dieselmärkte. Das ist aber genau die Technologie, die die deutsche Autoindustrie - übrigens nicht nur VW - an dieser Stelle versucht hat hochzuhalten. Diese Strategie ist gescheitert. Gibt es eigentlich einen strategischen Wechsel, anstatt stur an dem festzuhalten, was man immer gemacht hat? Setzt man jetzt darauf, beispielsweise einzusteigen in den Markt der Elektromobilität im ganz großen Stil? Und die nächste Frage, die sich natürlich stellt: Was tut eigentlich der Staat in Deutschland dazu? Wir haben ja gerade erlebt, dass in den USA die Rechte der Verbraucher und übrigens die Umwelt besser, effizienter geschützt wird als in Deutschland. In Deutschland haben wir eine Kommission eingesetzt durch Herrn Dobrindt, von der man lange nicht wusste, wer da drinsitzt und nun feststellt, die gibt es zwar, aber was die rausbekommen haben, das ist bis heute der Öffentlichkeit vorenthalten worden.
"E-Fahrzeuge, das sind die Märkte der Zukunft"
Heinemann: Sollten die betrogenen VW-Kunden hierzulande die gleichen Konditionen bekommen wie die US-VW-Autofahrer?
Trittin: Die Frage stellt sich natürlich, warum der europäische Kunde schlechter behandelt werden soll als der amerikanische. Aber das hat mit unterschiedlichen Rechtssystemen zu tun. Ich würde langfristig allerdings eher eine andere Frage aufwerfen, nämlich die Frage, was ist eigentlich das Verhältnis zwischen Staat und Automobilindustrie. Während wir dieses Interview führen, ist es in weiten Teilen Deutschlands unter zehn Grad. Das heißt, die Stickoxid-Abgasregelungen sind in den meisten Dieselfahrzeugen einfach abgeschaltet worden. Welcher Staat lässt eigentlich zu, dass bei einer normalen Wettersituation Regeln schlicht und ergreifend ausgesetzt werden? Das heißt für mich erstens: Wir brauchen eine andere Aufsicht. Das Bundesamt, was für die Zulassung von Fahrzeugen zuständig ist, das Kraftfahrtbundesamt, darf nicht für die Kontrolle und Einhaltung dieser Standards zuständig sein. Das muss vom Umweltbundesamt gemacht werden.
Zweitens: Wir brauchen Rahmenbedingungen, die die Industrie dazu bringt, für die Märkte der Zukunft zu produzieren. Das heißt für mich ganz klar: Wir müssen dahin kommen, dass die Subventionierung des Diesels über die Mineralölsteuer beendet wird. Dafür muss man die Autofahrer dann bei der Kfz-Steuer entlasten. Aber was dabei übrig bleibt, das kann man stecken in tatsächlich Kaufanreize für Elektromobilität, weil E-Fahrzeuge, das sind die Märkte der Zukunft, und dazu muss die deutsche Autoindustrie gebracht werden. Sie kann nicht weiterhin sich einen Staat halten, der ihnen ihre Unternehmensentscheidungen juristisch absichert. Das ganze Verhältnis stimmt nicht.
Heinemann: Mitsubishi hat jetzt eingeräumt, dass auch bei den E-Fahrzeugen wohl nicht alles mit rechten Dingen zuging. Gehört Betrug zum Autobau?
Trittin: Ich glaube, dass natürlich überall der Versuch besteht, dieses zu machen. Aber die USA zeigen ja, wie man mit solchen Dingen umgehen kann. Eine wache Zivilgesellschaft und ein hart angewandtes Recht können solche Dinge in die Grenzen weisen, und genau daran mangelt es in Deutschland.
Heinemann: Was heißt das genau? Benötigen wir in Deutschland Sammelklagen, oder was befürworten Sie?
Trittin: Zum Beispiel sind auch Sammelklagen für Konsumenten sicherlich ein Instrument, was dem Staat Beine macht.
"Es muss eine völlige Neuaufstellung erfolgen. Dann hat VW eine Chance"
Heinemann: Herr Trittin, wird der VW-Konzern das unbeschadet überstehen? Es werden ja pharaonische Summen genannt, 10, 20, 30, 50 Milliarden Euro für diesen Abgasskandal. Oder muss VW Marken, Audi, Porsche, oder Sparten, die LKW zum Beispiel verkaufen?
Trittin: Ich hoffe das nicht. Ich bin ja als Niedersachse Miteigentümer dieses Unternehmens. Aber das Unternehmen muss sich komplett neu aufstellen. Es muss sich komplett neu ausrichten. Die bisherige strategische Aufstellung, die sie gehabt haben, die sich in einer neurotischen Dieselfixierung entsprechend ausgedrückt hat, die muss beendet werden und es muss eine völlige Neuaufstellung erfolgen. Dann hat VW eine Chance, weil die Mitarbeiter dort von den Ingenieuren bis zu den Arbeitern sind wirklich hochgradige Spezialisten. Die können was und deswegen ist es eine Entscheidung, wie man das Unternehmen künftig führt. Hat man den Mut für eine Neuaufstellung, dann sehe ich auch für Volkswagen und den gesamten Konzern eine gute Zukunft.
Heinemann: Sollten Betrüger und sonstige Nieten in DAX-Vorständen künftig Mali zahlen?
Trittin: Ich glaube eher, dass wir so etwas brauchen wie ein Unternehmensstrafrecht, womit klar sein muss, dass ein Unternehmen, welches sich gegen geltendes Recht verhält, in Haftung geht, außer sie nehmen Regress bei denjenigen, die persönlich verantwortlich dafür gemacht werden. Dann wird sich manches Fehlverhalten sehr schnell selber regulieren, weil das sind Dinge, die können Sie nicht über eine Management-Versicherung abdecken.
Heinemann: Herr Trittin, die Führung von Mitsubishi hat sich wegen des Betruges in dieser Woche traditionell vor der betrogenen Öffentlichkeit verbeugt. Wenn die besserverdienenden Betrugsverantwortlichen bei VW sich proportional verneigen würden, müssten dann die Nasenspitzen die Schuhspitzen berühren?
Trittin: Ja, sie würden schon den Fußboden küssen müssen. Das stimmt.
Heinemann: Also gehobenes Yoga?
Trittin: Ja.
Heinemann: Wir wollen noch ein ganz anderes Thema besprechen, Herr Trittin. Der Bundespräsident wird in absehbarer Zeit bekanntgeben, ob er für eine weitere Amtszeit zur Verfügung stehen wird. Im "Interview der Woche" bei uns im Deutschlandfunk sagte Joachim Gauck:
O-Ton Joachim Gauck: "Also: Jede Entscheidung wird eine schwere Entscheidung sein. Die Entscheidung hat immer etwas für und etwas gegen sich. Ich kann mein Alter in den Vordergrund rücken und muss natürlich mich fragen, werde ich fertig werden mit den Belastungen, auch wenn ich dann über 80 Jahre sein werde. Und auf der anderen Seite erfahre ich so viel Zuspruch aus der Bevölkerung, aber vor allen Dingen auch von Leuten, von denen ich immer gelernt habe, die ich selber bewundere, die mir wichtig sind mit ihrem Urteilsvermögen. Dann braut sich so etwas wie ein innerer Druck auf, wenn so viele das erwarten. Und deshalb sage ich: Wie auch immer ich mich entscheide, es wird eine schwere Entscheidung sein, und ich werde vielleicht dann auch nicht so glücklich aus der Wäsche gucken, sondern wenn ich sie dann getroffen habe, wird sich vielleicht ein paar Wochen oder auch länger ganz geheim die Frage einschleichen, oh, war das jetzt richtig. Und trotzdem wird es eine Entscheidung sein, die sehr, sehr sorgfältig und verantwortungsbewusst dann gefällt ist, und deshalb bitte ich auch um Verständnis, dass ich es jetzt noch nicht sage, sondern dass noch ein wenig Zeit vergehen wird, bis ich es dann definitiv sage."
"Der Respekt gebietet es, ihm die Zeit und auch den Raum zu lassen"
Heinemann: Ein hörbar mit sich ringender Joachim Gauck. - Herr Trittin, befürworten Sie eine weitere Amtszeit des Bundespräsidenten?
Trittin: Ich bin ja nicht ganz unschuldig, dass Joachim Gauck Präsident geworden ist, und ich finde, er hat alles dazu gesagt: Es ist die Entscheidung von Joachim Gauck, eines Präsidenten, der uns in den letzten Jahren, ich finde, sehr gut repräsentiert hat, ob er diese Tätigkeit fortsetzen will ja oder nein, und der Respekt gebietet es, ihm die Zeit und auch den Raum zu lassen, diese Entscheidung zu treffen. Wenn er sie trifft, werden wir sie alle akzeptieren müssen.
Heinemann: Jürgen Trittin, Bundestagsabgeordneter der Grünen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Trittin: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.