In ihrem neuen Buch "Die Selbstgerechten" setzt sich die ehemalige Linken-Fraktionsvorsitzende und derzeitige NRW-Spitzenkandidatin der Linken, Sahra Wagenknecht, kritisch mit ihrer Partei und der Identitätspolitik auseinander.
Dabei sei es ihr nicht darum gegangen, mit ihrer mit ihrer eigenen Partei abzurechnen, sagte sie im Dlf. "Mir geht es um ein gesellschaftliches Problem." Das gebe es in ganz Europa, sei aber besonders sichtbar in Deutschland. Obwohl die Union "so desolat sei wie seit vielen Jahren nicht mehr", bekämen die SPD und Die Linke nach Umfragen nicht einmal 25 Prozent der Wählerstimmen zugesprochen. "Wenn linke Parteien so schwach werden, dann müssen sie doch darüber nachdenken, ob sie etwas falsch machen."
Das Anliegen der Linken sei es immer gewesen, sich für die einzusetzen, die es schwerer hätten: Arbeiterschaft, die Geringverdiener, auch die klassische Mittelschicht - "die haben in Deutschland keine Lobby, um die müssen wir uns bemühen", so Wagenknecht.
Sie würde sich wünschen gemeinsam mit der SPD eine Regierung zu bilden, die für mehr sozialen Ausgleich sorgt. Aber es gelinge einfach den linken Parteien nicht den Menschen ein Angebot zu machen. "Stattdessen führt man teilweise abgehobene Diskussionen über Sprachverbote, Denkverbote, die an den Problemen derer, die jeden Monat hart arbeiten, vorbeigehen."
Debatte um die Identitätspolitik "eine Diskussion unter Privilegierten"
Bei diesen Diskussionen müsse man auf dem Boden der Realität bleiben. "Die übergroße Mehrheit der Menschen sieht sich als Mann oder Frau und möchte sich dafür auch nicht entschuldigen und hat auch andere Probleme als solche Diskussionen." Die Debatte um die Identitätspolitik werde wie eine Diskussion unter Privilegierten geführt. "Da diskutieren nicht Menschen, die im Niedriglohnsektor schuften, sondern das sind überwiegend Menschen, die relativ gut abgesichert sind."
- Wolfgang Thierse hat eine Debatte über Identitätspolitik angestoßen, die wir an folgenden Stellen weiterführen.
- Kommentar von Anna Seibt über Privilegien und Machtpositionen
- Interview mit Gesine Schwan über die Debatte in der SPD
- Interview mit Meron Mendel über Gefühle und Argumente
- Kommentar von Stephan Detjen über Journalismus als identitätspolitisches Bekenntnis
- Interview mit Andrea Geier über Verschiedenheit
- "Auf der Suche nach dem Wir" - die Denkfabrik von Deutschlandradio
Viele Zitate zur Identitätspolitik aus ihrem Buch seien teilweise "bewusst und böswillig" aus dem Zusammenhang gerissen worden, meint Wagenknecht. Ihr ginge es nicht darum, die großen Themen wie die Benachteiligung von Minderheiten zu ignorieren. Das sei ein selbstverständlich linkes Anliegen.
Bei vielen Debatten gibt es aus ihrer Sicht eine extreme Intoleranz. Ob bei Flüchtlingen, beim Klima oder der Corona-Politik - "es ist kaum noch möglich, rational über eine Lösung von Problemen zu Themen zu diskutieren." Dass bei den Rechten gehetzt werde, sei nicht anders zu erwarten. Dass jetzt auch aber auch bei den Linken, jeden der abweiche, mit der Nazi- oder Rassisten-Keule "inflationär" konfrontiert werde, sei überhaupt nicht hilfreich.
Für den Wahlkampf hoffe sie darauf, dass ihre Partei eine Umorientierung auf die Themen hinbekomme, die wirklich die Menschen bewegten.
Das Interview in ganzer Länge
May: Dass Sahra Wagenknecht sich kritisch mit dem Milieu ihrer Partei und der Identitätspolitik auseinandersetzt, das ist nicht neu und hat schon häufiger für kontroverse Debatten bei den Linken gesorgt. Doch jetzt hat sie ein Buch geschrieben, von dem sie schon im Vorfeld wusste, dass es für Ärger sorgen wird. "Die Selbstgerechten" heißt es und es geht um die Linken, genauer die Linksliberalen. Sie positioniere sich im Wissen, dass sie dadurch möglicherweise selbst Opfer der sogenannten "Cancel Culture" werden könnte, schreibt sie im Vorwort. Sind Sie schon gecancelt worden, jenseits des Deutschlandfunks?
Sahra Wagenknecht: Nein, ich bin nicht gecancelt worden. Allerdings habe ich natürlich auch erlebt, schon bevor das Buch erschienen ist, teilweise wirklich wenig rationale Debatten. Da wurden Zitate aus dem Zusammenhang gerissen und ich hoffe, dass sich das jetzt allmählich versachlicht, weil es geht mir auch nicht darum, wie das in der Anmoderation gesagt wurde, mit meiner eigenen Partei abzurechnen, sondern mir geht es um ein gesellschaftliches Problem, und das haben wir in vielen Ländern, aber ganz besonders sichtbar in Deutschland.
Wenn man sich die Lage anguckt: Die Union ist so desolat wie seit vielen, vielen Jahren nicht mehr, auch durch ihr katastrophales Krisenmanagement, durch ihre ewige Suche nach dem Kanzlerkandidaten, und trotzdem bekommen SPD und Linke zusammen derzeit nach Umfragen etwa 25 Prozent der Wählerzustimmung. Das ist ja ein dramatisch schlechtes Ergebnis. Und wenn linke Parteien so schwach werden, dann müssen sie doch darüber nachdenken, ob sie irgendetwas falsch machen.
"Halte es für falsch, mit den Grünen um eine Wählerschaft zu konkurrieren"
May: Wobei zu den linken Parteien und zu den Linksliberalen zählen Sie ja auch die Grünen, und die stehen deutlich besser da. Gemeinsam mit den Grünen, die dieses linksliberale Milieu wahrscheinlich noch am meisten verkörpern, könnte es fast zu einer rot-rot-grünen Mehrheit beziehungsweise grün-rot-roten Mehrheit reichen.
Wagenknecht: Es gibt natürlich ein Milieu, in dem man mit linksliberalen Thesen sehr gut ankommt. Das sind Teile der gut situierten akademischen Mittelschicht der Großstädte. Dort ist ja auch dieses Denken entstanden. Dort finden solche Debatten statt. Die Grünen verkörpern im Grunde dieses Milieu und das ist ihre Wählerschaft.
Aber ich halte es für falsch, wenn SPD und Linke jetzt versuchen, mit den Grünen um eine Wählerschaft zu konkurrieren, die eigentlich sozial relativ abgesichert ist, die relativ privilegiert ist, weil das Uranliegen der Linken ist doch immer gewesen, sich für die einzusetzen, die es schwer haben, für die, denen Aufstiegschancen, Bildungschancen eher verwehrt werden und deren Lebensverhältnisse zu verbessern. Diese sozialen Schichten, die Arbeiterschaft, die Geringverdiener, auch die klassische Mittelschicht, die haben ja in Deutschland politisch eigentlich aktuell gar keine Lobby und um die müssen wir uns doch bemühen.
May: Sie sagen, es werden Zitate aus dem Zusammenhang gerissen. Auf einzelne Zitate können wir vielleicht später noch kommen. Grundsätzlich ist es aber schon so, dass man beim Lesen den Eindruck hat, dass Sie im Buch die anderen nicht so sehr kritisieren wie die eigenen Leute. Man hat ein bisschen den Eindruck, der Feind sitzt vor allem in den eigenen Reihen.
Wagenknecht: Nein, nicht in den Reihen der eigenen Partei. Ich meine, bei der SPD ist der Absturz ja viel, viel größer. Ich würde mir ja wünschen, wenn wir zum Beispiel gemeinsam mit der SPD – ich sage ja nicht, dass die Linkspartei jetzt eine Mehrheit haben könnte. Da gibt es sicher viele Ursachen, warum das aktuell nicht möglich wäre. Aber mit der SPD gemeinsam müsste es doch eigentlich möglich sein, eine Regierung zu bilden, die tatsächlich für mehr sozialen Ausgleich sorgt, weil eine Mehrheit der Bevölkerung möchte das ja. Das ist ja auch das Interessante.
Wir haben klare Umfragen in Deutschland. Eine Mehrheit wünscht sich höhere Mindestlöhne, bessere Arbeitsbedingungen, weniger Privatisierungen, weniger radikale Marktmechanismen und mehr Gegensteuern, auch eine Balancierung der Globalisierung. Das sind ja alles linke Themen, oder auch eine Vermögenssteuer für sehr Reiche, mit denen wir eigentlich die Leute nur abholen müssten.
Aber es gelingt den linken Parteien nicht, diesen Menschen ein attraktives Angebot zu machen, und stattdessen führt man teilweise wirklich abgehobene Diskussionen über Sprachverbote, Denkverbote, die an den Problemen der Leute, die jeden Monat hart arbeiten, die oft genug um ihren Wohlstand immer mehr kämpfen müssen, an deren Problemen einfach vorbeigehen.
"Kaum noch möglich, rational zu diskutieren"
May: Darauf kommen wir genau zu sprechen. Sie vergleichen den sich als linksliberal fühlenden Teil der Gesellschaft - Sie selbst nennen ihn "Livestyle-Linke" – mit den Rechten. In Wirklichkeit sei er genauso intolerant gegenüber Andersdenkenden und befürworte darüber hinaus genauso Krieg, Sozialabbau und Ungleichheit. – Jetzt sind diese Themen, die Sie gerade genannt haben, Gender-Sprache und Ähnliches und Identitätspolitik, vielen in Ihren eigenen Reihen auch wichtig. Können Sie nicht verstehen, dass die sauer sind über solche Vergleiche?
Wagenknecht: In meinen Reihen zumindest wird Krieg zum Glück nicht befürwortet. Aber in den anderen Fragen ist es tatsächlich ein Problem, dass man sich damit von den Menschen entfernt, dass man teilweise auch – das hat sich immer mehr ausgebreitet – eine gewisse fast schon Verachtung für die Kultur, für die Lebensweise, für die Werte der einfachen, der normalen Bevölkerung aufbringt.
Das wird nicht respektiert, das wird nicht geachtet, sondern es wird ja sogar die Sprache niedergemacht, und das ist natürlich etwas, wo sich Menschen dann auch abwenden, wo sich Menschen auch nicht mehr vertreten fühlen. Diese extreme Intoleranz, die haben wir doch bei vielen Debatten, ob das über Flüchtlinge ist, ob das über Klima oder jetzt auch bei der Corona-Politik ist.
Es ist ja kaum noch möglich, irgendwie rational über eine Lösung von Problemen zu diskutieren. Es ist einerseits natürlich, dass von der politischen Rechten gehetzt wird, aber das erwartet man nicht anders. Aber dass jetzt auch Linke im Grunde jeden, der abweicht - sofort hat man dann die Keule, man sei ein Rassist, man sei gar noch ein Nazi. Das ist ja alles so inflationär gebraucht. Das ist eine Art der Diskussion, die überhaupt nicht hilfreich ist.
May: Ich habe ein bisschen den Eindruck, dass Sie einer CDU zum Beispiel a la Laumann, sage ich jetzt mal, Arbeitnehmerflügel, christlich-sozialer Arbeitnehmerflügel innerhalb der CDU, deutlich näher sind als einer Linkspartei von beispielsweise Bernd Riexinger, zumindest innenpolitisch. Riexinger nennen Sie in Ihrem Buch übrigens konsequent einen ehemaligen Parteivorsitzenden, deren Namen zurecht vergessen worden ist. Stimmt das? Kann man das so sagen? Sind Sie einem Laumann näher als einem Riexinger?
Wagenknecht: Nein. Ich meine, darum geht es ja auch gar nicht. Die CDU hatte lange Zeit – der ist ja immer schwächer geworden – tatsächlich auch mit noch Norbert Blüm einen Flügel, der quasi diesen christlichen Anspruch, den katholischen Anspruch mit einem sehr starken sozialen Anspruch verbunden hat. Das war noch ein klassischer Konservatismus, der sich sozial verantwortlich fühlte. Den gibt es eigentlich fast nicht mehr.
In der heutigen CDU – gucken Sie sich an, was die CDU in den letzten Jahren gemacht hat, alleine die Corona-Politik. Da hat man große Konzerne subventioniert und lässt Millionen kleine Selbständige wirklich am langen Arm verhungern, die Gastwirte, die Einzelhändler. Das hat nichts mit sozialem Anspruch zu tun.
Deswegen geht es mir auch gar nicht so sehr jetzt darum, innerhalb der Parteien zu sortieren, sondern ich wünsche mir, dass Parteien, die für eine soziale Politik stehen und antreten, dass die wieder stärker werden und dass sie vor allem die Menschen erreichen, denen es nicht gut geht. Wenn die am Ende aus lauter Frust gar nicht mehr wählen oder aber im Extremfall auch rechts wählen – und man muss sich ja mal angucken, wie viele zum Beispiel Arbeiter inzwischen AfD wählen; das ist ja der größte Teil von ihnen.
Insoweit ist die AfD die neue Arbeiterpartei. Das ist doch schlimm! Das muss doch jeden Linken umtreiben, wenn das so ist. Und wenn man dann die Wähler beschimpft und denen sagt, ihr seid auch rechts und ihr habt euch falsch entschieden, halte ich das nicht für eine zielführende Politik.
"Böswillig" aus dem Zusammenhang gerissen
May: Frau Wagenknecht, jetzt werden auch in Ihrer Partei, vor allen Dingen in Ihrer Partei einige der härtesten Passagen zitiert, von denen Sie sagen, die sind aus dem Zusammenhang gerissen. Eine Passage habe ich jetzt trotzdem mal rausgesucht, die herumgeht, zur Identitätspolitik. Ich lese mal ganz kurz vor: "Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein", schreiben Sie. Können Sie verstehen, dass beispielsweise der iranisch-stämmige Abgeordnete Niema Movassat diese Stelle als unerträglich und als Rassismus-Leugnung bezeichnet?
Wagenknecht: Nein, das kann ich nicht verstehen, weil er sie bewusst und böswillig aus dem Zusammenhang reißt. Es geht doch nicht darum, dass es in Deutschland Minderheiten gibt, die auch diskriminiert werden. Natürlich ist das so. Wenn man zum Beispiel einen bestimmten Namen hat, der arabisch klingt, und man bewirbt sich für eine Wohnung oder einen Job, dann hat man nach wie vor Nachteile. Das sind reale gesellschaftliche Probleme. Um die geht es, aber nicht innerhalb der Identitätspolitik, sondern die Identitätspolitik wird ja wie überhaupt diese Diskussion unter Privilegierten geführt.
Da diskutieren nicht Menschen, die im Niedriglohnsektor schuften, sondern das sind überwiegend Menschen, die relativ gut abgesichert sind. Die Art und Weise, wie diese Diskussion geführt wird, ist ja, dass man sich irgendwie nur Anerkennung und Wertschätzung erwerben kann, wenn man durch irgendetwas von der Mehrheitsgesellschaft abweicht. Ich weiß zum Beispiel gar nicht, wie viele Geschlechter es jetzt angeblich geben soll, und mir ist das auch egal. Jeder kann sich sein Geschlecht irgendwie definieren. Dafür darf er nicht diskriminiert werden. Das ist alles richtig.
Aber man muss doch trotzdem noch auf dem Boden der Realität bleiben. Die übergroße Mehrheit der Menschen sieht sich als Mann oder Frau und möchte sich dafür auch nicht entschuldigen und hat auch andere Probleme als solche Diskussionen. Das ist das, was ich damit meine, und nicht den Kampf gegen Diskriminierung von Minderheiten. Das ist ein selbstverständliches linkes Anliegen und das ist von mir immer unterschrieben worden – selbstverständlich!
May: Dennoch sind die atmosphärischen Störungen jetzt groß. Wie soll es denn jetzt weitergehen mit Ihnen und Ihrer Partei? Sie sind mit 61 Prozent zur Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen gewählt worden – kein überragendes Ergebnis, aber immerhin. Was wird das jetzt für ein Verhältnis?
Wagenknecht: Das wird kein anderes Verhältnis als bisher. Ich habe sehr, sehr viel Zuspruch auch aus der Linken erfahren und das Buch wird ja jetzt erst von vielen auch gelesen werden. Das heißt, ich denke, dass sich da auch viele dann erst ein eigenes Bild davon machen. Ich hoffe, dass wir in der Linken – und im Grunde ist das Buch natürlich aber auch an die SPD gerichtet -, ich hoffe, dass wir eine Umorientierung auf die Themen hinbekommen und vor allem auch im Wahlkampf den Schwerpunkt darauf legen, die wirklich die Menschen bewegen.
Das sind vor allem soziale Themen gerade in der jetzigen Situation. Wenn man Menschen, die jetzt um ihre soziale Existenz fürchten durch die ewigen Lockdowns, durch die ganze Corona-Politik, wenn man denen abgehobene Debatten offeriert über Probleme, die weit weg von ihrem Leben sind, dann wird man nicht gewählt. Ich möchte, dass wir gewählt werden, weil ich möchte natürlich, dass wir ein starkes Wahlergebnis bekommen, und darum sollten wir jetzt gemeinsam in der Linken ringen, und ich hoffe, dass diese Diskussion jetzt auch einen sachlicheren Tonfall annimmt und nicht so aggressiv geführt wird und vor allen Dingen so aus dem Zusammenhang gerissen, wie das vor allen Dingen in der letzten Woche der Fall war.
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