Freitag, 29. März 2024

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Wahl in Großbritannien
"Die Brexit-Partei ist in der Versenkung verschwunden"

Der Ausgang der britischen Parlamentswahlen werde viel enger als noch vor Wochen gedacht, sagte der Publizist Grahame Lucas im Dlf. Boris Johnson habe aber den Vorteil, dass sich alle Brexit-Befürworter hinter seinen Konservativen versammelten. Die Stimmen für den Verbleib in der EU seien gespalten.

Von Grahame Lucas im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 12.12.2019
Plakate für den Brexit vor dem Parlamentsgebäude in Westminster
Pro Brexit-Plakate in Westminster: Befürworter laut neuesten Wahl-Umfragen in der Minderheit (NurPhoto / Jay Shaw Baker)
Dirk-Oliver Heckmann: Brexit oder No Brexit - und wenn Brexit, dann wie? Über diese Fragen lag das Unterhaus über Monate, über Jahre im Streit, bis Boris Johnson schließlich Neuwahlen herbeiführte. Sein Kalkül: Die Tories gewinnen die Wahlen und ziehen dann den Brexit bis Ende Januar durch. Seine Ankündigung, Großbritannien bis Ende Oktober aus der EU zu führen, die musste er ja wieder einkassieren. Wir können über die Neuwahlen sprechen mit Grahame Lucas, Journalist und Publizist. Schönen guten Morgen!
Grahame Lucas: Guten Morgen.
Heckmann: Herr Lucas, die britischen Buchmacher, die sind sich ja einig: Boris Johnson wird Premier bleiben. Gehen Sie mit oder halten Sie dagegen?
Lucas: Ich bin nicht einer, der Wetten generell platziert bei solchen Sachen, aber ich würde sagen, es ist sehr, sehr spannend und es ist noch nicht geklärt, ob die Buchmacher heute abräumen werden oder nicht. Die Meinungsumfragen der letzten Tage sagen zumindest, dass es viel enger sein wird, als man vor drei, vier Wochen gedacht hat. Damals hat es noch eine sehr große Meinungsumfrage gegeben mit 100.000 Befragten durch ganz Großbritannien in allen Wahlkreisen, und man hatte damals Boris Johnson eine Mehrheit von 68 prognostiziert. Das gleiche Institut hat vor zwei Tagen noch mal eine Umfrage gemacht in dieser Größenordnung, und das Ergebnis war so knapp, dass das Institut gesagt hat, entweder ein knapper Sieg, 20, 30 Sitze Mehrheit, oder wieder ein Unterhaus ohne Mehrheit. Das heißt, im Moment ist Wetten schon eine spannende Sache.
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Heckmann: Labour hat zuletzt aufgeholt, zumindest in den Umfragen. Zur Mehrheit dürfte es aber auf gar keinen Fall reichen, aber für eine Regenbogen-Koalition womöglich aus Labour, Liberaldemokraten und schottischen Nationalisten. Wäre das denkbar?
Lucas: Theoretisch schon. Ich denke, wir können eine eigene Mehrheit für Labour aufgrund der Meinungsumfragen ausschließen. Das heißt, Jeremy Corbyn wird sein Ziel verfehlen, die Partei zurück an die Macht zu führen, zum ersten Mal seit den Zeiten von Gordon Brown. Die Frage ist natürlich, wo werden die Parteien übereinstimmen. Die schottischen Nationalisten und die Liberaldemokraten haben sich ganz festgelegt auf ein zweites Referendum in der Brexit-Frage. Labour war stets etwas zweideutig. Jeremy Corbyn ist mehr oder weniger gegen seinen Willen gedrängt worden, ein zweites Referendum zu akzeptieren. Aber man weiß ja immer noch nicht, wie er selber sich entscheiden würde. Er sagt, er würde einen neuen Deal aushandeln wollen mit der EU, einen Deal, der Großbritannien viel enger an der EU sieht, als Boris Johnsons Deal das tut. Das heißt, wir sind uns nicht wirklich klar, wofür er steht.
Neuwahlen - das nächste Brexit-Kapitel
Nachdem auch Boris Johnson mit seinen Brexit-Plänen im Parlament gescheitert ist, hofft der britische Premier nun auf eine Mehrheit durch Neuwahlen. Die könnten dem Brexit-Prozess aber auch eine neue Wendung geben. Immer deutlicher werden indes die wahrscheinlichen Brexit-Folgen.
Heckmann: Und diese Unklarheit, Herr Lucas, wenn ich da kurz einhaken darf, die ist auch der Grund dafür, dass Labour dann doch so vergleichsweise schwach ist?
Lucas: Mit Sicherheit, weil man hatte ja auch in den letzten Meinungsumfragen, wenn es um ein Referendum ging, gesehen, dass etwa 55 bis 60 Prozent der Wähler gesagt haben, sie wollen auf jeden Fall ein zweites Referendum. Und die Leute, die gesagt haben, wir wollen jetzt doch bleiben, diese Zahl lag zwischen 55 und 60 Prozent. Das heißt, wenn man das umsetzt auf die Unterhaus-Wahl, sieht man ziemlich deutlich, dass diese Stimmen für den Verbleib gespalten werden zwischen den schottischen Nationalisten im Norden, zwischen Labour und zwischen den Liberaldemokraten, und teilweise liegen sie auch inzwischen bei Regionalparteien. Das heißt, Johnson hat einen Vorteil, indem er die Menschen, die auf jeden Fall aus der EU austreten wollen, bei sich komplett gesammelt hat. Die Brexit-Partei ist in der Versenkung verschwunden. Man redet gar nicht mehr von Nigel Farage. Er wird keine Rolle spielen, wahrscheinlich keinen einzigen Sitz gewinnen. Aber alle, die für den Austritt sind, die sind bei Boris Johnson, und die 60 Prozent, die in etwa verbleiben wollen, sie sind gespalten, und das ist Johnsons Vorteil. Das ist überhaupt sein Kalkül. Er wollte deswegen kein zweites Referendum haben, weil er befürchtet hat, dass er es verliert. Aber mit unserem Mehrheitswahlrecht und mit dem Parteienspektrum, so wie es ist, kann er damit rechnen, dass die Stimmen der Menschen, die verbleiben wollen, gespalten werden und verteilt über mehrere Parteien.
"Johnson hat Farage den Zahn gezogen"
Heckmann: Und das spielt beim Mehrheitswahlrecht natürlich den Tories in die Hände in dem Moment, und auf die wollte ich auch gerade zu sprechen kommen, Herr Lucas. Boris Johnson musste ja sein Versprechen einkassieren, das Königreich bis zum 31. 10. aus der EU zu führen, so oder so, wie er ja ankündigte. Da hieß es ja damals, das könnte ihm noch schwer auf die Füße fallen, weil er nämlich von Seiten der Brexit-Partei, von Nigel Farage - Sie haben es gerade angesprochen - unter Druck stand, die dann sagen konnten, nur mit uns wird es wirklich einen Brexit geben. Wie ist es denn Johnson gelungen, dass dieser Druck nicht so groß wurde?
Lucas: Ich denke, Johnson hat gegenüber Farage zumindest deutlich gemacht, dass er auf gar keinen Fall ein Wahlbündnis mit Farage akzeptiert. Farage ist immer ein Politiker, der gesagt hat, bei mir zählt das Ergebnis, nicht unbedingt meine Position. Er ist eigentlich derjenige, der den Brexit überhaupt ermöglicht hat. Er hat seit über 20 Jahren dieses gefordert, letzten Endes ein Referendum bekommen und auch eine Schlüsselrolle bei diesem Referendum gespielt. Aber Johnson hat ihm jetzt einfach den Zahn gezogen und gesagt, jetzt mach ich den Brexit und Du gehst zurück in Deine Box, wie der Johnson das gesagt hat. Er hat ihn quasi ausgeschaltet und mit dem Mehrheitswahlrecht natürlich muss Farage genau gucken, wo er überhaupt eine Chance hat. Er kandidiert selber nicht und das war für mich schon das erste Zeichen, dass er sieht, okay, es ist eigentlich durch und ich werde versuchen, jetzt einfach den Konservativen zu helfen in den Wahlkreisen, wo Labour im Norden vor allen Dingen eine gute Chance hat, und er hat über die Hälfte seiner Kandidaten zurückgezogen.
An einem Souvenierstand in London hängt das Schild "Sale"
"Der Brexit ist eine verpasste Chance zu mehr Wachstum"
Wie die Wahl in Großbritannien auch ausgehe, die Unsicherheit für die Wirtschaft werde bleiben, sagte Ulrich Hoppe, Leiter der britisch-deutschen Industrie- und Handelskammer, im Dlf. Schon jetzt hielten sich Unternehmen mit Investitionen zurück.
Johnsons Brexit-Zeitplan "völlig unrealistisch"
Heckmann: Ist denn ein Chaos-Brexit ausgeschlossen, wenn Boris Johnson gewinnt?
Lucas: Nein, im Gegenteil! Wir werden eine Situation erleben, dass Boris Johnson uns quasi als Land formal bis Ende Januar aus der EU ausführt. Aber sein Spruch, dass er den Brexit durchzieht, ist natürlich nicht ehrlich. Das ist ganz typisch für Johnson. Es ist eine massive Verkürzung der Situation, denn formal wird man Ende Januar nicht mehr Mitglied sein, aber dann beginnen die Verhandlungen über Teil zwei des Austrittsabkommens. Vor allen Dingen geht es hier um wirtschaftliche Fragen, um die wirtschaftlichen Beziehungen.
Heckmann: Die zukünftigen Beziehungen.
Lucas: Genau, und das soll abgeschlossen sein bis Ende Dezember 2020. Michel Barnier hat gerade vor wenigen Stunden in einer Sitzung von EU-Beamten gesagt, dieser Plan ist völlig unrealistisch. Johnson besteht aber darauf. Genau wie damals im Oktober, dass er seine Frist einhält, besteht er jetzt wieder darauf, dass diese Frist eingehalten wird, und Barnier sagt, das ist eigentlich so gut wie unmöglich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.