Remme: Herr Jesse, bleiben wir mal bei diesem letztgenannten Aspekt: Wie wichtig war denn das persönliche Engagement der beiden Kanzlerkandidaten?
Jesse: Ich glaube, das persönliche Engagement der beiden Kanzlerkandidaten wird sehr überschätzt, denn der Ausgang der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt ist ausschließlich von landesspezifischen Strukturen abhängig. Eine andere Frage ist die Regierungsbildung. Die hat dann natürlich wieder bundespolitische Auswirkung.
Remme: Ist diese Wahl nun ein bundesweiter Stimmungstest oder ist sie das nicht?
Jesse: Diese Wahl ist sicher kein bundesweiter Stimmungstest. Die Bürger, die höchst unzufrieden sind mit der Politik der Regierung, aber auch mit der Politik der Opposition, werden entscheiden unter landespolitischen Gesichtspunkten. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass bundespolitische Gesichtspunkte eine Rolle spielen. Herr Böhmer, der Spitzenkandidat der Union, hat eigens dafür gesorgt, dass ein bundespolitisches Thema wie die Zuwanderung nicht ins Spiel kommt.
Remme: Ich sagte es eingangs: Die Regierungsbildung ist offen. Da ist also alles andere als Klarheit. Dennoch wird eine niedrige Wahlbeteiligung befürchtet. Wie passt das zusammen?
Jesse: Wir haben in Sachsen-Anhalt bisher eine Wahlbeteiligung über 50 Prozent, über 60 Prozent, über 70 Prozent. Da kann man sehr stark spekulieren. Der Verdruss ist relativ groß und dadurch wird ein Teil der Wähler nicht zur Wahl gehen. Und es gibt eine Reihe von sozialdemokratischen Wählern, die nicht wieder ihre Partei wählen wollen, aber auch nicht bereit sind, eine andere Partei zu wählen, so dass sich damit eine wahrscheinlich eher niedrige Wahlbeteiligung erklärt.
Remme: Was war für Sie an diesem Wahlkampf besonders auffällig?
Jesse: An diesem Wahlkampf war besonders auffällig, dass die beiden Spitzenkandidaten, Höppner einerseits, der Ministerpräsident, und Herr Böhme andererseits, sich überhaupt nicht weh getan haben, dass es hier brodelt im Land, aber der Oppositionsführer unter keinen Umständen polarisiert. Das ist ein Phänomen. Es war für mich weiter interessant, dass es hier insgesamt mehrere Kandidaten gibt für das Amt des Ministerpräsidenten, nämlich vier! Die beiden genannten sowie Frau Pieper von der FDP und Herr Claus von der PDS. Das ist einmalig in der deutschen Wahlgeschichte.
Remme: Herr Jesse, warum hat es Reinhard Höppner offenbar nicht geschafft, sein Amt als Bonus einzubringen?
Jesse: Reinhard Höppner hat es deshalb nicht geschafft, weil er in mancher Hinsicht gedrückt wird und auf diese Art und Weise, die wohl ohnehin schon schlechte Stimmung noch mehr verstärkt wird. Er ist niemals ein Landesvater gewesen im Gegensatz zu Kurt Biedenkopf in Sachsen, Stolpe in Brandenburg und Vogel in Thüringen. Die Bürger haben den zunehmenden Eindruck, je länger er an der Regierung ist, dass es ihm an Energie fehlt, an Kraft, an zupackender Ausstrahlung. Und es war von ihm ein schwerer strategischer Fehler, sich vor der Wahl nicht festzulegen - entweder auf Rot-Rot oder auf eine große Koalition. Das ist meines Erachtens entscheidend.
Remme: Das war ein Fehler, den die SPD gemacht hat. Haben die anderen Parteien auch Fehler in dieser Kampagne gemacht?
Jesse: Bei den anderen Parteien sind mir auch Fehler aufgefallen. Die CDU hat sich ebenso wenig festgelegt wie die SPD. Die CDU hat gesagt entweder große Koalition Schwarz-Rot oder eine bürgerliche Koalition nach Hamburger Muster. Das verwirrt den Wähler. Der Wähler will halt nicht die Katze im Sack kaufen. Er will vorher wissen, ob eine große Partei, wenn es arithmetisch reicht, mit dieser Partei zusammen geht oder mit einer anderen.
Remme: Hamburger Muster, da klingt etwas an, über das wir bis jetzt noch nicht gesprochen haben: Die Chancen der Schill-Partei. Glauben Sie an einen Überraschungserfolg dieser Gruppe?
Jesse: Ja. Die Schill-Partei liegt gegenwärtig bei 5 Prozent, und das sind ungewichtete Daten. 5 Prozent der Bürger bekennen sich jetzt schon zur Wahl der Schill-Partei. Sie wird mit Sicherheit in den Landtag einziehen, aber die Quote wird einstellig bleiben, denn die Schill-Partei hat einen Spitzenkandidaten aufgestellt, der der Typ eines Anti-Osts ist, Herr Marseille, so dass die Schill-Partei nicht annähernd an den Erfolg herankommt, den sie in Hamburg hatte.
Remme: Interessant ist ja auch die Entwicklung am rechten Rand. Die DVU hatte vor vier Jahren noch 12,9 Prozent. Der Aufschrei war groß. Diesmal tritt sie gar nicht erst an. Was ist denn da passiert?
Jesse: Die DVU hat sich in den vier Jahren völlig aufgerieben. Sie sind inkompetent gewesen im Parlament, aus einer Fraktion wurden zwei. Die freiheitliche deutsche Volkspartei, eine Absplitterung der DVU, tritt an, sie hat keinerlei Aussicht. Und hier ist das eingetreten, was häufig eintritt: Die Wähler der DVU sind reine Protestwähler und es ist kein Zeichen dafür, dass sich in Sachsen-Anhalt ein Kern von Wählern gebildet hat mit geschlossenem rechtsextremistischem Weltbild. Der Spuk kam plötzlich, aber er geht auch plötzlich wieder vorbei.
Remme: Und wer erbt dieses Protestpotenzial?
Jesse: Das ist relativ sicher. Wir können nicht sagen: Weil die DVU so weit rechts stand, kommen die Wählerstimmen der Union zugute. Das kann man nicht sagen. Wie die Wählerschaft der DVU sich aus Wählern verschiedener Gruppierungen zusammen gesetzt hat, so wird es auch diesmal sein. Ein Teil der Wähler wird zu Hause bleiben, ein Teil der Wähler wird zur SPD zurück kehren, ein Teil der Wähler zur Union. Am wenigsten wird die Wählerschaft der FDP und die Wählerschaft der Grünen von den ehemaligen DVU-Wählern profitieren.
Remme: Die Schill-Partei haben Sie eben schon angesprochen, was eine Prognose angeht. Wo meinen Sie werden die Meinungsforscher morgen Abend noch falsch liegen oder wird das dann im Wesentlichen zutreffen?
Jesse: Ich glaube, es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben einerseits zwischen Rot-Rot und andererseits zwischen Schwarz-Gelb und Schill. Wer immer sich durchsetzen wird, ich sage voraus, dass es in jedem Fall eine große Koalition geben wird, weil die SPD es sich nicht leisten kann - selbst wenn sie eine Mehrheit hat - mit der PDS zu gehen. Die SPD wird stark verlieren, die PDS wird gewinnen, der Abstand ist dann relativ gering. Das wird nicht möglich sein. Und umgekehrt werden die Leute in der CDU, die - wenn es reicht - eine Koalition mit der Schill-Partei und der FDP möchten, in der Minderheit bleiben, weil das möglicherweise als Provokation angesehen werden könnte, nach Hamburg erneut eine Koalition mit einer Partei rechts von der Union zu wagen. Dann könnte die SPD im Wahlkampf sagen: Aha, ihr wollte eventuell auch auf Bundesebene eine solche Partei. Also ich glaube, große Koalition unabhängig davon wer morgen das Heft in der Hand hat. Ich glaube auch, dass die Annahme, die PDS könnte die SPD überrunden nicht realistisch ist. Die SPD wird vor der PDS liegen.
Remme: Vielen Dank. Das war die Einschätzung der Politologen Eckhard Jesse von der TU Chemnitz. Danke, Herr Jesse.
Jesse: Bitte sehr.