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Wahl in Tunesien
Karoui mit guten Chancen aufs Präsidentenamt

Nabil Karoui, eine Mischung aus Trump und Berlusconi, sei Favorit für die vorgezogene Präsidentschaftswahl in Tunesien. Dass er mitten im Wahlkampf festgenommen wurde, habe den Eindruck erweckt, das Ganze sei politisch motiviert, so Henrik Meyer, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis.

Henrik Meyer im Gespräch mit Christiane Kaess | 14.09.2019
Nabil Karoui, aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat in Tunesien.
Nabil Karoui, aussichtsreicher Präsidentschaftskandidat in Tunesien, wurde mitten im Wahlkampf festgenommen. Ein Antrag auf Freilassung vor der Wahl wurde abgelehnt. (HASNA / AFP)
Christiane Kaess: Es war in Tunesien, wo im Dezember 2010 der sogenannte arabische Frühling begann. Ein Gemüsehändler hatte sich wegen Polizeiwillkür und Demütigungen selbst angezündet. Die anschließenden Massenproteste weiteten sich auf viele Staaten in Nordafrika und demm Nahen Osten aus, als einzigem Land gelang es Tunesien, demokratische Reformen durchzusetzen. Aber die junge Demokratie ist brüchig und die Menschen im Land leiden weiterhin unter Korruption und einer hohen Arbeitslosigkeit. Morgen wählen die Tunesier einen neuen Präsidenten, laut der neuen Verfassung von 2014 hat er nicht mehr so viel Macht wie zuvor. Trotzdem bekommt diese Wählerentscheidung mehr Aufmerksamkeit als die Parlamentswahl im Oktober. Eine Stichwahl um das Präsidentenamt wird wohl zwischen Ende September und Mitte Oktober stattfinden. Am Telefon ist jetzt Henrik Meyer, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis, und dort erreichen wir ihn. Guten Morgen, Herr Meyer!
Henrik Meyer: Guten Morgen, Frau Kaess!
"Das Parlament arbeitet, die Verfassung funktioniert"
Kaess: In welcher Stimmung findet diese Wahl statt?
Meyer: Man kann sagen, dass die Stimmung – zumindest heute morgen – in Tunesien sehr ruhig ist, insgesamt auch der ganze Wahlkampf hat in einer eher ruhigen Atmosphäre stattgefunden. Im Bericht klang schon an, dass die Menschen in Tunesien nach fast zehn Jahren Revolution insgesamt doch sehr desillusioniert sind, die Menschen reden über die Präsidentschaftswahlen, aber es ist nicht das einzige Gesprächsthema. Aber man kann sagen, die Regeln des politischen Anstands werden gewahrt.
Kaess: Und wir haben gehört oder haben gelesen, dass es zum ersten Mal eine Fernsehdebatte auch gab in diesem Wahlkampf. Ist das ein Zeichen einer weiteren Demokratisierung?
Meyer: Es gab sogar drei Debatten, bei 26 Kandidaten ist ja sonst nicht genügend Zeit zum Diskutieren gewesen. Also generell kann man sagen, Tunesien ist ein Land, was seit der Revolution die demokratischen Vorgänge und Abläufe respektiert. Das Parlament arbeitet, die Verfassung funktioniert, öffentliche Debatten finden statt, das ist nicht das Problem Tunesiens. Meinungsfreiheit ist seit der Revolution weitgehend hergestellt worden.
Kandidaten von sakulär über religiös bis reaktionär
Kaess: Von den aussichtsreichsten Kandidaten, wer steht für was?
Meyer: Das ist dieses Jahr wirklich sehr kompliziert.(...) Es gibt dieses Jahr ein großes Teilnehmerfeld, was sehr verschiedene Lager repräsentiert. Wenn ich noch mal in Erinnerung rufen darf, dass wir 2014, bei den letzten Wahlen, einen ganz eindeutigen Lagerwahlkampf hatten, wo auf der einen Seite die religiösen Kräfte standen, auf der anderen Seite die säkularen Kräfte. Das war das, was 2014 die Menschen mobilisiert hat und dem damaligen Präsidenten, Beji Caid Essebsi, einem säkularen Kandidaten, zum Wahlsieg verholfen hat. Das ist dieses Jahr anders und das ist auch für viele Tunesier nicht so leicht zu akzeptieren, weil es eben über viele Jahre immer reichte, wenn man sich als säkular definierte, um eine Mehrheit in Tunesien zu erlangen. Dieses Jahr haben wir weiterhin das Lager der säkular bürgerlichen Kandidaten, wir haben auch weiterhin islamisch, religiöse Kandidaten und in beiden Lagern auch sehr starke Kandidaten. Wir haben aber dieses Jahr auch populistische Kandidaten und auch erstmals eine Kandidatin, die sich eindeutig reaktionär positioniert und zurück möchte zum alten System der Diktatur Ben Alis.
"Islamistische Ennahda-Partei könnte zweite Runde erreichen"
Kaess: Würden Sie sagen, dass diese zwar schillernden, aber auch fragwürdigen Kandidaten an der Spitze stehen und dann erst abgeschlagen die Kandidaten des bürgerlichen Establishments?
Meyer: Generell ist es sehr schwer zu sagen, wo wir eigentlich stehen in Tunesien. Es gibt seit Monaten keine offiziellen Meinungsumfragen mehr, das ist verboten, solange der Wahlkampf läuft. Und generell kann man sagen, dass die Kristallkugel in Tunesien ja chronisch trübe ist, weil auch die Revolution von 2011 hat niemand so wirklich vorhergesehen. Wir können schon davon ausgehen, dass der eben schon erwähnte Nabil Karoui, dieser Anti-System-Politiker und Medienunternehmer, so eine Mischung aus Trump und Berlusconi, wie in Tunesien immer gerne gesagt wird, dass der wohl wirklich gute Chancen hat, die Stichwahl zu erreichen. Alles, was dahinter kommt, ist sehr unsicher. Am wahrscheinlichsten ist das Szenario, dass der Vertreter der islamistischen Ennahda-Partei die zweite Runde erreichen wird. Wir reden aber in beiden Fällen von Zustimmungsraten von 15 bis 20 Prozent, also alles andere als eine eindeutige Mehrheit.
Festnahme Karouis im Wahlkampf sorgt für Gerüchte
Kaess: Und ausgerechnet der Favorit, Sie haben ihn jetzt noch mal erwähnt, der Medienmogul Karoui, sitzt im Gefängnis. Was steckt dahinter?
Meyer: Ja, der Nabil Karoui ist erstinstanzlich verurteilt wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung und wartet auf seinen Berufungstermin und wurde mitten im Wahlkampf dann festgenommen, was natürlich den Eindruck erweckt hat, dass das Ganze politisch motiviert sei. Dass der Karoui, wie Ihr Kollege gesagt hat, ein halbseidener Geschäftsmann ist, das würden die allermeisten Tunesier sofort unterschreiben, aber dass er mitten im Wahlkampf festgenommen worden ist, natürlich kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das auch damit zu tun hatte, dass er sehr gute Umfragewerte hatte.
Islamisten: Demokratieregeln "derzeit relativ eindeutig akzeptiert"
Kaess: Schadet offenbar auch seiner Popularität nicht. Sie haben in einem anderen Interview gesagt, die größte Gefahr für die Demokratie in Tunesien ist nicht mehr der politische Islam, sondern der Populismus. Wieso?
Meyer: Wenn man sich anschaut, was seit 2014 oder vielleicht auch seit 2011, seit der Revolution, in Tunesien passiert ist, dann ist das ja das, dass wir feststellen, dass sich immer mehr politische Parteien in eine Art Konsensregierung haben aufnehmen lassen. Heute oder seit 2014 haben wir eine Regierung, in der säkular bürgerliche Parteien Seite an Seite regieren mit islamisch konservativen Parteien – und alle respektieren die Funktionsweise des demokratischen Systems. Das würden in Tunesien viele Leute anders sehen, aber mein Eindruck ist, dass die islamistische Ennahda-Partei die Regeln des demokratischen Systems in Tunesien derzeit relativ eindeutig akzeptiert hat. Wohingegen was der Medienunternehmer Karoui möchte oder auch die angesprochene Frau, die zurück möchte zum alten System, sehen sich diffuser und wesentlich obskurer. Da würde ich sagen, wäre die demokratische Weiterentwicklung Tunesiens deutlich stärker in Gefahr als wenn es weiterginge mit den Kräften, die auch gerade an der Regierung sind.
Stabilität der Demokratie nach der Wahl fraglich
Kaess: Es heißt auch, dass der verstorbene Präsident Essebsi einen Bürgerkrieg im Land verhindert hätte. Was würden Sie denn sagen, wie angespannt ist die Lage im Moment?
Meyer: Ich weiß, was damit gemeint ist, aber ich würde sagen, man darf das nicht überdramatisieren. Beji Caid Essebsi war eine zum Ende seiner Amtszeit umstrittene Person, aber trotz allem eine sehr integrative Persönlichkeit, die es geschafft hat, die großen Linien der tunesischen Politik weiterzuschreiben, die Idee einer aufgeklärten Gesellschaft, die westlich und säkular orientiert ist, das hat Beji Caid Essebsi repräsentiert und damit vor allem die bürgerlichen Eliten des Landes hinter sich vereinen können. Wenn jetzt ein Anti-Establishment-Kandidat die Regierung übernehmen sollte oder das Präsidentenamt übernehmen sollte, dann wäre dieser Elitenkonsens in Gefahr. Und wir fragen uns alle, was passiert dann mit den einflussreichen Familien dieses Landes, werden sie weiterhin die demokratische Entwicklung unterstützen oder nicht. Bürgerkrieg weiß ich nicht, aber tatsächlich kann man fragen, ob die politische, demokratische Entwicklung hier, die ja seit 2011 trotz allem sehr erfolgreich verläuft, ob die dann weitergehen würde.
"Im Portemonnaie der Menschen ist wenig angekommen"
Kaess: Und haben denn, Sie haben jetzt von den bürgerlichen Eliten gesprochen, haben denn auch die meisten Menschen im Land tatsächlich das Gefühl, dass sich durch die Demokratie auch für sie etwas verbessert hat?
Meyer: Das ist genau die Achillesferse, die Sie ansprechen, der tunesischen Demokratie. Die Revolution ging los im September 2010, das heißt, wir sind nicht mehr weit entfernt von zehn Jahren Revolution in Tunesien. Und wenn man sich anschaut, was die Gründe waren für die Revolution, da reden wir von Arbeitslosigkeit, vor allem von Jugendarbeitslosigkeit, Armut, Perspektivlosigkeit, große Entwicklungsunterschiede zwischen einer relativ wohlhabenden Küstengegend und einem unterentwickelten Hinterland – an all dem hat sich quasi nichts geändert. Es hat sich ja auch zu Zeiten der Diktatur nichts daran geändert, aber eben auch nicht seit der Einführung der Demokratie, seit der Revolution. Das ist das große Problem, was die Parteien in Tunesien haben: Sie haben eigentlich in den letzten zehn Jahren kaum etwas vorzuweisen, was die Menschen in ihrem Alltag bemerken. Tunesien hat große Erfolge, Tunesien hat eine fortschrittliche Verfassung, Tunesien hat mehrfach Wahlen durchgeführt, Präsidentschaftswahlen, Parlamentswahlen, Kommunalwahlen, aber im Portemonnaie der Menschen ist davon wenig angekommen.
Kaess: Das klingt nach einer ungewissen Zukunft, wir werden die Entwicklung weiter verfolgen. Herzlichen Dank für Ihre Zeit!
Meyer: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.