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Wahlen in Belgien
Ein fast unregierbarer Vielvölkerstaat

Die Belgier wählen am Sonntag das EU-Parlament, ihr nationales Parlament und die drei regionalen Parlamente. Auch die deutschsprachige Gemeinschaft wählt. Bei der letzten Wahl vergingen 541 Tage bis zur Regierungsbildung. Belgien, sagen Manche, ist unregierbar. Eine Bestandsaufnahme.

Von Annette Riedel | 24.05.2014
    Belgien: Nahansicht des Brüsseler Wahrzeichens Atomium.
    In Belgien gibt es keine nationalen Parteien. (picture alliance / Daniel Kalker)
    Die Belgier wählen am Sonntag das EU-Parlament, ihr nationales Parlament und die drei regionalen Parlamente. Auch die deutschsprachige Gemeinschaft wählt. Bei der letzten Wahl vergingen 541 Tage bis zur Regierungsbildung. Belgien, sagen Manche, ist unregierbar. Eine Bestandsaufnahme.
    "Je suis Brahim Datoussaid. Je suis belge, bruxellois, européen. Je suis d'origine algérienne. J'habite à la Belgique depuis 52 ans."
    Der Belgier algerischer Herkunft, Brahim Datoussaid, ist Kandidat der französisch-sprachigen Sozialisten in Belgien, der PS. Und zwar für das Parlament der Hauptstadt-Region Brüssel. Am 25.Mai wird in Belgien dreifach gewählt: Die Bürgerinnen und Bürger wählen, wie in der gesamten EU, das europäische Parlament, gleichzeitig auch das nationale belgische Parlament und die Parlamente der drei Regionen: der Wallonie, Flandern und der Hauptstadtregion Brüssel. Die deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens wählt sogar vierfach.
    Die Faust erhoben, singen ein paar hundert Anhänger der PS im Stehen die Internationale bei dieser Wahlkampfveranstaltung in der 'Alten Post'. Die 'Alte Post' gehört zu einem Anfang des 20. Jahrhunderts erbauten, einst als Warenumschlagplatz von Tour & Taxis genutzten Gebäudekomplex, samt ausgedientem Bahnhof, gelegen am Ufer des Kanals von Brüssel.
    Heute finden auf dem Gelände Veranstaltungen statt. An diesem Morgen ist Wahlkampf. Mit viel Rot: natürlich rote Fahnen und Luftballons, rotes Licht, manche Jacke, manches T-Shirt leuchtet rot, rote Schals, Baseball-Caps. Die Stühle haben rote Polster.
    In Belgien gibt es keine nationalen Parteien. Nur regionale - flämische und wallonische. Im Falle der Sozialisten: die sp.a für die Region Flandern, die flämisch spricht und eben die PS im französischsprechenden Teil Belgiens, der Wallonie. Lediglich in Brüssel kann der Wähler, je nachdem, welcher Sprachfamilie er sich zugehörig fühlt, zwischen beiden wählen. Kandidat Brahim Datoussaid sieht keine nennenswerten Unterschiede zwischen seiner französischsprachigen PS und der flämisch-sprachigen sozialistischen Schwester.
    "Wir haben die gleiche Vision, die gleichen Werte, das gleiche Erscheinungsbild, die gleichen Ziele. Einziger Unterschied: Die einen sind die französischsprachige Version; die anderen die flämische."
    Das sieht keinesfalls jeder in der Parteienfamilie so.
    "Wir sind beide in der Sozialistischen Internationale. Aber es stimmt, dass die PS weiter links steht als die sp.a. Die PS bleibt die Partei der Arbeitnehmer; die sp.a ist zu einer Partei der Konsumenten geworden."
    Analysiert der PS-Politiker Jean-Claude Marcourt, Vize-Ministerpräsident der Wallonie. Damit teilt er die Meinung des Flamen Johan Vande Lanotte von der flämischen Schwesterpartei sp.a.
    Viele Regionen – unterschiedliche Probleme
    Der Amtssitz von Johan Vande Lanotte liegt an einer der Hauptverkehrsstraßen im Zentrum Brüssels. Er ist belgischer Wirtschaftsminister und Vize des belgischen Premierministers Di Rupo. Vande Lanotte wurde über die Grenzen Belgiens hinweg bekannt als einer derjenigen, die sich im Auftrag des belgischen Königs an der schweren Aufgabe versuchten, in den 541 Tagen zwischen der letzten belgischen Wahl und dem Zustandekommen einer nationalen Regierung, eine regierungsfähige Koalition zu schmieden.
    "Die französischsprachigen Sozialisten der PS und die flämischen der sp.a haben an vielen Punkten unterschiedliche Sichtweisen. Die ökonomische Situation in der Wallonie im Süden Belgiens ist völlig anders als die Flanderns im Norden. Bei uns in Flandern nimmt die Armut ab – mit unter zehn Prozent ist die Quote eine der niedrigsten in Europa. Unsere Arbeitslosenquote ist niedriger als die in Deutschland. Im wallonischen Süden ist die Armutsquote fast doppelt so hoch wie in Flandern und die Arbeitslosigkeit ist ebenfalls sehr hoch. Wenn die sozioökonomische Lage so unterschiedlich ist, sind es auch die Parteiprogramme."
    Im nationalen belgischen Parlament arbeiten die beiden sozialistischen Parteien aber zusammen, genauso wie flämische und französischsprachige Grüne, Liberale und Christdemokraten jeweils auch. Gewissermaßen "Modell CDU/ CSU" – bei allen Parteien. Deshalb besteht die aktuelle belgische Regierung aus sechs Parteien dreier Parteienfamilien. Das ist einer der Gründe, warum die Regierungsbildung auf der nationalen Ebene traditionell schwierig ist – erklärt der belgische Staatswissenschaftler von der Universität Lüttich, Christian Behrendt.
    "Ich muss Ihnen sagen, dass ich manchmal da, wenn ich nach Deutschland fahre und man sagt: Naja, da habt ihr wieder mal 541 Tage gebraucht, um eine Regierung zu finden. Dann sag' ich: Naja gut, dann stellt Euch mal vor, ihr hättet 16 verschiedene Parteien in Deutschland, die in 16 verschiedenen Distrikten antreten und nur in Berlin kann man sie alle wählen. Und wenn man das sich hochdenkt, dann stellt man fest, dass wir vielleicht gar nicht mal so schlecht sind mit unseren 541 Tagen."
    Viel einfacher, das sieht auch Vize-Premier Vande Lanotte so, viel einfacher wird es wohl auch diesmal nicht werden, nach den Wahlen am 25. Mai eine belgische Regierung zu bilden.
    "Das hängt natürlich vom Wahlergebnis ab. Wenn die flämischen Nationalisten der N-VA, die eine weitreichende Staatsreform anstreben, an der Regierung beteiligt werden sollten, würde es noch komplizierter als 2010. Ist das nicht der Fall, dann werden wir sicher keine 400 Tage brauchen, um uns in der Sozial- und Wirtschaftspolitik zu einigen."
    Die N-VA ist die flämische Regionalpartei, die sich mit einer weitreichenden Autonomie für Flandern nur deshalb begnügt, weil sich für eine vollständige Unabhängigkeit aktuell keine politischen Mehrheiten finden lassen. Die N-VA ist ein komplizierter Faktor in der politischen Landschaft Belgiens. Sie wird in Flandern mit Sicherheit stärkste Partei werden und dort auch den Ministerpräsidenten stellen. Sie könnte aber auch, wie schon 2010, erneut die stärkste Partei ganz Belgiens werden. Zumindest wird sie eine der drei starken Parteien beziehungsweise Parteienfamilien – Umfragen zufolge kämen neben der N-VA auch die beiden sozialistischen Parteien und die beiden liberalen Parteien jeweils zusammen auf rund 30 Sitze im belgischen Parlament mit seinen insgesamt 150 Sitzen. Augenblicklich wird Belgien, wie gesagt, von einer Sechs-Parteien-Koalition regiert: den flämischen und französisch-sprachigen Sozialisten, den beiden liberalen Parteien der zwei Sprachgemeinschaften, sowie den beiden Parteien der Christdemokraten.
    Mit der separatistischen N-VA des Antwerpener Bürgermeister Bart De Wever möchte derzeit offenbar keiner der Genannten auf nationaler Ebene zusammenarbeiten.
    "Das Land ist in seinen Entscheidungen mehr und mehr blockiert"
    Johan Van Overfeldt von der N-VA, Ökonomie-Professor und ehemaliger Journalist. Er gehört zu denjenigen, die die programmatische Arbeit der Partei maßgeblich beeinflussen.
    "Unsere Botschaft ist, dass Belgien so nicht weiter machen kann wie bisher – weder in wirtschaftlicher noch in sozialer noch in institutioneller Hinsicht. Das Land ist in seinen Entscheidungen mehr und mehr blockiert. Und das muss sich ändern."
    Ändern, in dem die N-VA das anstrebt, was sie "Konföderalismus" nennt, eine de-facto-Vorstufe zu einer Auflösung des belgischen Nationalstaates in zwei Teilstaaten, Flandern und die Wallonie.
    "Wir haben bisher von der nationalen Ebene Kompetenzen an die Regionen übertragen. Wir wollen die Logik umdrehen. Künftig soll die komplette politische Verantwortung grundsätzlich bei den Regionen liegen. Nur im Ausnahmefall bleibt etwas nationale Kompetenz - Verteidigungspolitik beispielsweise. Die Regel wäre: Die Regionen haben prinzipiell sämtliche Vollmachten. Dann listen wir auf, was wir noch gemeinsam machen wollen."+-
    Keine der anderen Parteien – weder in der Wallonie, noch in Flandern selbst - will die angestrebte, zum Sommer mit der Umsetzung der jüngsten Staatsreform noch einmal erweiterte, Autonomie der mit Brüssel drei belgischen Landesteile so weit treiben wie die N-VA. Mit einer Ausnahme - dem noch radikaler separatistischen und zudem extrem rechten Vlaams Belang. Der pocht weiter auf einen unabhängigen flandrischen Staat. Die Rechtsradikalen kamen bei den letzten Regionalwahlen 2009 auf über 15 Prozent der Stimmen in Flandern. Im nationalen Parlament errang die Partei 2010 knapp acht Prozent und zwölf Sitze. Bei den kommenden Wahlen werden ihr nach aktuellen Meinungsumfragen noch rund die Hälfte zugetraut. Die N-VA ist ein Verräter an der Idee eines unabhängigen Flandern für den Vlaams Belang, meint deren Europaabgeordneter, Philip Claeys.
    "Leider vertritt die N-VA unter Bart De Wever nicht mehr die Idee eines unabhängigen Flandern. Mit ihrer Vorstellung vom Konföderalismus haben sie die Idee von der Nation Flandern hinter sich gelassen. Belgien ist ein Staat, der absolut unregierbar geworden ist. Flamen und Wallonen können bei keinem Thema mehr zu einer gemeinsamen Haltung finden. Es gibt vollkommen unterschiedliche politische Landschaften in Flandern und in der Wallonie."
    Dort traditionell links. In Flandern eher rechts – von rechtsliberal, über rechtsnational bis rechtsaußen. Aber auch in Flandern sind diejenigen Wähler, die den belgischen Staat zugunsten eines unabhängigen Staates Flandern auflösen wollen, in der Minderheit, mit insgesamt vielleicht 12 Prozent. Die N-VA will nicht nur deshalb, aber auch deshalb mit den extremen Rechten vom Vlaams Belang keinesfalls gemeinsame Sache machen, betont N-VA-Politiker Overfeldt.
    "Vielleicht stimmen wir vage überein bei der Frage, was mit Flandern nach den Wahlen oder irgendwann in der Zukunft passieren soll. Aber es gibt so viele Unterschiede - bei der Einwanderungspolitik, bei der Wirtschaftspolitik, bei der Haltung zur EU, dass es momentan ausgeschlossen ist, mit dem Vlaams Belang gemeinsame Sache zu machen."
    Das sieht der Abgeordnete im flämischen Parlament, Jürgen Verstrepen, ganz genauso.
    Jürgen Verstrepen gehört einer kleinen, relativ neuen, rechtsliberalen flämischen Partei, der LDD, an, die allerdings anders als bei den letzten Regionalwahlen 2009 diesmal in Flandern kaum die Fünf-Prozent-Hürde überspringen dürfte und im nationalen Parlament ohnehin nicht vertreten ist.
    Anders als das prächtige, nur zwei Straßenecken entfernte belgische Parlament, ist das flämische Parlament in Brüssel ein vergleichsweise schmuckloser 80er-Jahre-Bau.
    Der Flame Jürgen Verstrepen, wenngleich rechtsliberal, ist nicht national eingestellt, ist nicht dafür, dass der belgische Staat in seine Einzelteile zerlegt und Flandern unabhängig wird.
    "Wenn die Nationalisten die Wahlen gewinnen, haben wir ein Problem in Belgien. Dann hätten Parteien die Wahl gewonnen, die das Land zerteilen wollen. Wenn man dazu als Flame kritisch steht, ist man in den Augen einiger flämischer Nationalisten ein Verräter. Trotzdem, eine belgische Regierung ohne die N-VA – das kann man eigentlich nicht machen!"
    Denn es wäre wieder eine Regierung wie die aktuelle belgische, in der die Partei mit den meisten Stimmen – sowohl regional im größten der drei Landesteile Belgiens als auch national - nicht vertreten wäre. In Flandern leben fast sechseinhalb Millionen Belgier; in der Wallonie dreieinhalb, in der Hauptstadtregion Brüssel etwas über eine Million. Das Problem der N-VA: Sie findet keine Koalitionspartner.
    "Die Frage ist natürlich, wie kann sich so eine Partei in einen bestehenden Staat einbinden und im demokratischen Spiel mitwirken, wenn sie als langfristiges Ziel die Auflösung dieses selben Staates hat."
    Sagt Staatsrechtler Christian Behrendt.
    "Wenn es irgendwann – irgendwann – in diesem Land eine Mehrheit für eine andere Staatsstruktur gibt – nebeneinanderherstehende verschiedene Staaten – wenn die Mehrheit des Landes dafür ist, wenn das vernünftig organisiert wird, in einem demokratisch legitimierten Prozess, dann gibt es keinen Grund, das nicht zu tun."
    Aber für erstrebenswert hält Christian Behrendt das nicht. Und vertritt damit die Meinung der Mehrheit der politischen Klasse in Belgien. Inklusive der von Karl-Heinz Lambertz, Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens. Dessen Amtssitz liegt in einem historischen Gebäude in der ost-belgischen Stadt Eupen, nahe der deutschen Grenze.
    "Dieses Haus hier hat eine sehr turbulente Geschichte. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis Mitte ins 19. Jahrhundert hinein war es eine Tuchmacher-Fabrik. Eupener Tuch war weltweit bekannt."
    "Belgien zu Viert" - kann das gutgehen?
    Stadtspaziergang durch Eupen mit Karl-Heinz Lambertz. Er ist nicht nur körperlich ein gewichtiger Mann. Obgleich er 'nur' der Ministerpräsident der kleinen, kaum 75.000 Menschen umfassenden Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, der DG, ist, hat er einigen Einfluss. Im Staate Belgien. Vor allem in der Wallonie. Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist Teil der Region Wallonie. Lambertz ist seit fast 30 Jahren im Vorstand der Sozialistischen Partei, der PS, in der Wallonie. Sein Credo für die Weiterentwicklung des Staates Belgien lautet: "Belgien zu Viert", das heißt die Föderalisierung, die mit jeder neuen Staatsreform seit den 70er-Jahren in Belgien vorangetrieben wird, weiterzuentwickeln zu einem Bundesstaat ähnlich der Bundesrepublik. Mit den vier vollwertigen, gleichberechtigten Teilstaaten Flandern, Wallonie, der deutschsprachigen Gemeinschaft – dann nicht mehr als Teil der wallonischen Region – und der Hauptstadtregion Brüssel. Diese Idee vertritt er offensiv bei jeder Gelegenheit. Er hat immer ein paar seiner Anstecknadeln dabei, die er gern verteilt, Symbol seiner Vorstellung von "Belgien zu Viert".
    "Einerseits sind das das Wappen des Königshauses und dann die vier Wappen: Flandern – ein flämischer Löwe. Die deutschsprachige Gemeinschaft hat einen Greif. Brüssel hat als Bild die Iris. Und die Wallonie hat den Hahn."
    Dem 'Hahn', um im Bild zu bleiben, der Wallonie, behagt die Idee aus manchen Gründen nicht. Zum Beispiel, weil sie erheblich mehr Einfluss auf das Geschehen in der deutschsprachigen Gemeinschaft abgeben müsste, als sie es Zug um Zug in den letzten Jahren ohnehin über die mittlerweile sechs Staatsreformen schon getan hat.
    Noch einmal Zuständigkeiten im Umfang von 20 Milliarden Euro hat der belgische Staat bei der jüngsten Reform auf die Regionen beziehungsweise Sprachgemeinschaften übertragen. Sie werden künftig unter anderem mehr Steuerautonomie haben, zuständig für die Gesundheitspolitik, die Arbeitsmarkt und Verkehrspolitik sein. Eine "Bundesrepublik Belgien", wie sie Karl-Heinz Lambertz letztlich vorschwebt, mit der deutschen Sprachgemeinschaft als einem gleichwertigen 'Bundesland' unter vieren, ist das Königreich damit aber noch nicht.
    Lambertz' Parteifreund, der stellvertretende Ministerpräsident der Wallonie, Jean-Claude Marcourt, will der DG gern noch mehr Autonomie zugestehen, aber als eigene Region, bzw. perspektivisch eigenes Bundesland, sieht er sie nicht.
    "Die Deutschsprachigen zu haben ist eine Chance für die Wallonie. Sie sind für uns nicht nur das Tor zum Nachbarn Deutschland, sondern damit auch zu den gesamten dem Deutschen verbundenen Teilen der Welt, die fast bis Moskau reichen. Außerdem - die Deutschsprachige Gemeinschaft ist nicht größer als eine Kleinstadt."
    Karl-Heinz Lambertz zweifelt nicht im Geringsten daran, dass 75.000 Deutschsprachige die gleichen Pflichten eines Bundesstaates übernehmen könnten wie dreieinhalb Millionen Wallonen oder eine Million Brüsseler oder sechseinhalb Millionen Flamen.
    "Ich möchte auch allen Staatsrechtlern und allen Superklugen sagen, die immer meinen, sie müssten sich da mit unserer Kleinheit Gedanken machen: Ist das deren Problem oder ist das unser Problem? Und wir sind der Meinung, das ist unser Problem und wir wissen, damit umzugehen. Autonom sein heißt nicht unbedingt, alles selbst zu machen. Autonom sein heißt, zu sagen, wo es lang geht."
    Staatsrechtler Behrendt ist in der Tat skeptisch, ob das in der Praxis funktionieren könnte.
    "Die Idee 'Belgien zu Viert' - wenn damit gemeint ist, dass es vier Teilstaaten geben soll – ich halte das durchaus für sinnvoll. Was ich allerdings nicht für sinnvoll halten würde, wenn man jetzt sagen würde, die müssen jetzt alle gleichgeschaltet werden. Das wäre eine Todsünde für die deutschsprachige Gemeinschaft, weil die ein sehr kleines Territorium ist. Das heißt, wir müssen dafür sorgen, dass für jeden dieser Teilstaaten das System ein bisschen anders ist."
    Ministerpräsident Lambertz hält mit einem Beispiel dagegen.
    "Der Unterschied zwischen den kleinsten und den größten Kantonen in der Schweiz ist bedeutend größer als der Unterschied zwischen der deutschsprachigen Gemeinschaft und Flandern, denn Zürich hat etwa 1,2 Millionen Einwohner und Appenzell Innerhoden mal so ganz knappe 12.000."
    Als ein Modell, separatistischen Bestrebungen in Belgien etwas entgegenzusetzen, kann auch der stellvertretende belgische Ministerpräsident von den flämischen Sozialisten, Johan Vande Lanotte, dem Modell 'Belgien zu Viert' etwas abgewinnen.
    "Ich war einer der Ersten, die diese Idee vertreten haben. Ich habe nach 2011 ein Heftchen gemacht, in dem ich von Belgien als ein Gebilde mit vier Einheiten spreche. Unsere jüngste Staatsreform geht auch in diese Richtung."
    Gewählt werden am Sonntag in Belgien nicht nur das Europäische Parlament und das nationale Parlament und die drei regionalen Parlamente. Die deutschsprachige Gemeinschaft wählt zudem, Wahl Nummer Vier, in ihren neun Gemeinden in Ost-Belgien ihr eigenes Parlament mit 25 Abgeordneten. Karl-Heinz Lambertz kann sich der Wiederwahl zum Ministerpräsidenten seiner DG ziemlich sicher sein.
    Ganz sicher ist auf alle Fälle, dass es in Belgien bei allen drei bezieungsweise vier Wahlen eine überdurchschnittlich hohe Wahlbeteiligung geben wird. Es herrscht Wahlpflicht.
    Und noch eine belgische Spezialität: Sämtliche Kandidatenlisten, ganz egal von welcher Partei, müssen zur Hälfte mit weiblichen Kandidaten besetzt sein. Der sozialistische Politiker Marcourt findet das richtig und wichtig.
    "Wenn die Hälfte einer Gesellschaft Frauen sind, ist es völlig normal, dass die Frauen auch zu 50 Prozent an Entscheidungen beteiligt werden. Wir erleben, dass es dagegen noch immer starke Widerstände gibt. Die 50-Prozent-Quote gibt einen Anstoß, in Richtung einer Gesellschaft der echten Gleichberechtigung, die beide Teile der Gesellschaft repräsentiert."