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Wahlen in der Türkei
Die türkische Wirtschaft oder Erdogans Achillesferse

Die Türkei galt jahrelang als Wirtschaftswunder-Land. Aber damit ist es vorbei. Die Türkische Lira hat an Wert verloren. Inflation und Arbeitslosigkeit sind hoch. Viele Türken fürchten um ihr Einkommen. Darum ist die Wirtschaft das wichtigste Thema vor den Kommunalwahlen am Sonntag.

Von Christian Buttkereit | 27.03.2019
Ein Mann zählt seine türkischen Lira in einer Wechselstube in Ankara.
Viele Türken fürchten um ihr Einkommen (dpa-Bildfunk / AP / Mucahid Yapici)
Wie wenig tragfähig das türkische Wirtschaftswunder noch ist, erlebt der 39-jährige Süreyya am eigenen Leib. Der Lastenträger aus Diyarbakir im Südosten der Türkei hat auf seinem Tragegestell zurzeit weder Mehl- noch Zementsäcke durch die engen Gassen zu schleppen:
"Ich warte hier an der Straße auf Arbeit. Ich weiss nicht, ob es an den Wahlen liegt, aber seit ungefähr zwei Monaten gehe ich leer aus. Gäbe es was zu tun, würde ich pro Tag etwa 100 Lira verdienen. Wenn es Arbeit gäbe... andernfalls hungern wir."
Die 100 Lira, also etwa 16 Euro, verdient Süreyya an diesem Tag nicht. Damit ist er nicht allein. Die angespannte Wirtschaftslage ist Thema Nummer eins im türkischen Kommunalwahlkampf. In einer landesweiten Umfrage bezeichneten sogar 28 Prozent der Wähler von Erdogans Regierungspartei AKP die wirtschaftliche Lage als schlecht. Im vierten Quartal 2018 drehte die Wirtschaftsleistung ins Minus und das Bruttosozialprodukt schrumpfte um drei Prozent. Für Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Folge einer internationalen Verschwörung gegen die Türkei:
"Im August vergangenen Jahres gab es einen großen wirtschaftlichen Angriff auf unser Land. Deswegen ist die Beschäftigungsrate ein wenig zurückgegangen. Aber wir haben die wirtschaftlichen Schwankungen weitgehend in den Griff bekommen."
Die Probleme sind hausgemacht
Die Statistiken sagen etwas anderes: Die Inflation liegt immer noch bei knapp 20 Prozent. Die Arbeitslosenquote zuletzt bei 13,5 Prozent. Die Türkische Lira verlor eine Woche vor der Wahl wieder deutlich an Wert. Aus Sicht des Wirtschaftsexperten Emin Capa sind die Probleme hausgemacht:
"Die hohe Inflation ist eine Erdogan-Inflation. Die Arbeitslosigkeit ist eine Erdogan-Arbeitslosigkeit. Diese Krise ist eine Recep-Tayyip-Erdogan-Krise. Die Verschwörung des Auslands etc... das sind pure Ausreden. Wirtschaftlich gesehen gibt es eigentlich keinen Grund für den Wertverfall der türkischen Lira gegenüber dem Dollar oder Euro. Der Grund ist politischer Natur. Es herrscht Misstrauen gegenüber der Wirtschaftspolitik der Regierung, aber auch gegenüber ihrer Außenpolitik."
Die Drohungen des türkischen Innenministers vor einigen Wochen, Touristen könnten unter bestimmten Umständen bei der Einreise festgenommen werden, dürften nicht nur Touristen abschrecken, sondern auch das dringend benötigte ausländische Kapital. Zwar habe noch keines der rund 7.000 deutschen Unternehmen die Türkei deshalb verlassen, sagt Thilo Pahl, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer.
Ohne Vertrauen keine Neuinvestitionen
"Aber Neuinvestitionen, die liegen momentan auf Eis. Wenn Vertrauen da ist, würde auch wieder investiert werden. Aber das ist noch nicht in dem Umfang da, wie wir uns das wünschen."
Das Vertrauen der Wähler versucht die Regierung durch teure Wahlgeschenke zurückzugewinnen. Um etwas gegen die massiv gestiegenen Lebensmittelpreise zu tun, ist sie Anfang des Jahres zum Gemüsehändler geworden und verkauft in größeren Städten Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Tomaten und Zwiebeln zum Erzeugerpreis, also etwa zur Hälfte des Ladenpreises.
Zumindest bis zum Wahltag soll des die Verkaufstände noch geben. Die Rechnung scheint bei manchem Wähler aufzugehen. Etwa bei Gülsüm, einer Frau Anfang 30 mit Kopftuch.
"Ich glaube an den guten Willen und die Aufrichtigkeit der Regierung. Sie bemüht sich. Aber es gibt böswilligen Druck auf die Regierung. Es wird uns hoffentlich bald wieder besser gehen."
Pessimisten befürchten das Gegenteil. Unter anderem wegen der Spannungen zwischen der Türkei und den USA. So könnte Washington Sanktionen verhängen, sollten die Türken ihre Ankündigung wahr machen und ihr neues Raketenabwehrsystem in Russland kaufen und nicht beim Nato-Partner. Wenn es wirklich soweit kommen sollte, dürften sich alle bestätigt fühlen, die glauben, dass das Ausland Schuld an der türkischen Misere ist.