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Wahlen in der Türkei
"Erdogans Macht ist gefährdet"

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan könnte den Sieg bei der Wahl im ersten Durchgang verfehlen, meint Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkei-Studien. In Deutschland lebende Türken können schon ab heute wählen - um deren Zustimmung müsse Erdogan sich allerdings keine Sorgen machen, sagte er im Dlf.

Yunus Ulusoy im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Wahlkampfveranstaltung in Ankara
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan braucht mindestens 50 Prozent der Stimmen, um die Wahl im ersten Durchgang zu gewinnen. (AP / Presidency Press Service)
    Tobias Armbrüster: In der Türkei finden Ende dieses Monats Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Es sind vorzeitige Wahlen. Präsident Erdogan hat sie um anderthalb Jahre vorgezogen. Viele Beobachter sagen, er hat das gemacht, weil er wollte diese Wahlen so schnell wie möglich abhalten, weil er bemerkt hat, dass seine Unterstützung in der Türkei so langsam bröckelt. Am 24. Juni wird in der Türkei gewählt und Türken, die in Deutschland leben, die können nun schon ab heute ihre Stimmen abgeben. Die türkischen Wahlen haben also begonnen, zumindest hier bei uns in Deutschland. Ab heute können die Türken in Deutschland ihre Stimme abgeben. Wir wollen das noch etwas eingehender besprechen. Am Telefon ist Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkei-Studien an der Universität Essen. Schönen guten Tag!
    Yunus Ulusoy: Guten Tag.
    Armbrüster: Herr Ulusoy, kann sich Erdogan auf die Türken in Deutschland verlassen?
    Ulusoy: Er wird sich auf seine Landsleute in Deutschland verlassen können, so wie es in Ihrem Beitrag eingangs auch schon formuliert worden ist. Er hatte beim letzten Verfassungsreferendum eine Unterstützung von 63 Prozent. Insofern sehe ich keine Veränderung innerhalb eines Jahres. Allerdings wurde auch schon richtig festgestellt: Die Auslandsstimmen haben kaum einen Einfluss auf das Wahlergebnis, es sei denn, es würde sehr, sehr knapp ausfallen.
    Wählerbeeinflussung in Deutschland nicht nötig
    Armbrüster: Hat sich denn in der Türkei tatsächlich gar nichts geändert seit dem Referendum? Wir hören ja in diesen Wochen immer, dass die Opposition in der Türkei erstarkt, dass sie neue Stärke gewinnt und dass Erdogan sich tatsächlich Sorgen macht um seinen Machterhalt.
    Ulusoy: Die Sorgen sind deshalb berechtigt, weil diese Systemänderung anders als im parlamentarischen System voraussetzt, dass Erdogan mindestens 50 Prozent plus eine Stimme bekommt. Im alten System, im parlamentarischen System hätte er die Regierungsmehrheit auch mit 40, 45, teilweise gar mit 35 Prozent bekommen können, wenn andere Oppositionsparteien die Zehn-Prozent-Hürde nicht geschafft hätten. Die Gefahr diesmal ist, dass er zum Beispiel in der ersten Wahlrunde diese 50 Prozent Mehrheit nicht schafft, oder womöglich die absolute Mehrheit auch im Parlament verfehlt, weil auch die Oppositionsparteien bis auf die HDP diesmal die Möglichkeit haben, auch kleinere Parteien wie die Saadet Partisi, dieser religiösen Partei, wo Erdogan auch herstammt. Selbst diese Partei könnte in die türkische Nationalversammlung einziehen. Deshalb ist Erdogans Macht gefährdet und diese Sorgen sind aus diesem Blickwinkel berechtigt. Ich war selber in der Türkei, habe aber nicht jetzt eine Art Wende gespürt, zumindest nicht bei den Wählern von Erdogan selbst.
    Armbrüster: Jetzt gibt es ja einige, die sagen, dass in den vergangenen Wochen und Monaten starker Druck ausgeübt wurde auf Türken, die in Deutschland leben, dass Türken dazu angehalten werden, Erdogans Partei, die AKP zu wählen. Da ist sogar von Denunziationen die Rede. Können Sie so etwas bestätigen? Gibt es solche Bewegungen?
    Ulusoy: Nein, nein. Es kursieren sehr, sehr viele Gerüchte. Allerdings Erdogan braucht so etwas nicht. Wenn Sie 63 Prozent der Stimmen bekommen, dann brauchen Sie nicht noch irgendetwas Zusätzliches zu tun. Er bräuchte nicht mal seine Auslandsorganisation, um in Deutschland sehr hohe Wahlanteile zu generieren. Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungsgründe, warum er diesen hohen Zuspruch in Deutschland erhält. – Nein, bei 1,5 Millionen Wahlberechtigten können Sie die Wahlberechtigten natürlich nicht kontrollieren, zumal sein Einfluss in Deutschland natürlich begrenzter ist als in der Türkei.
    Deutsch-Türken wählen konservativ-religiös
    Armbrüster: Woran liegt denn dieser hohe Zuspruch bei uns in Deutschland?
    Ulusoy: Einerseits, weil wir hier eine bestimmte Bevölkerungszusammensetzung haben, die ungefähr der Bevölkerung entspricht, dem Bevölkerungsdurchschnitt der Türkei entspricht, die Erdogan selbst wählt. Das sind Menschen aus dem anatolischen Kernland gewesen, die als Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Sie waren damals schon konservativ-religiös und haben diese Werteorientierungen in der Diaspora sogar noch verstärkt und konserviert. Erdogan verfügt dadurch über Organisationsstrukturen. Diese Menschen sind viel leichter mobilisierbar. Sie können sich selber quasi motivieren. Die Opposition, vor allem die kemalistische Opposition, die CHP, die Republikanische Volkspartei, deren Anhänger sind Individuen. Es gibt hier zwar da und dort sozialdemokratische Vereine, aber das sind keine Massenorganisationen. In Deutschland ist sowohl die AKP überdurchschnittlich gut platziert wie auch die HDP, weil es hier auch sehr gut organisierte kurdische Strukturen gibt. Das ist sozusagen die Stärke der AKP.
    Armbrüster: Live hier bei uns in den "Informationen am Mittag" war das Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkei-Studien an der Universität Essen. Wir sprachen mit ihm über die Wahlen in der Türkei. Auslandstürken, die in Deutschland leben, können schon ab heute ihre Stimme abgeben. – Vielen Dank, Herr Ulusoy, für Ihre Zeit an diesem Donnerstagmittag.
    Ulusoy: Gern geschehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.