Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Wahlen in der Türkei
"Viele verbinden mit Erdogan wirtschaftlichen Aufschwung"

Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul halten viele Türken ihrem Präsidenten Recep Tayyip Erdogan die Treue - nicht so sehr seiner Partei. Hier zeigten sich Risse im System, sagte Brakel im Dlf. Die AKP hat ihre absolute Mehrheit verloren.

Kristian Brakel im Gespräch mit Jasper Barenberg | 25.06.2018
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei seiner Rede in Istanbul nach seinem Wahlsieg
    Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei seiner Rede in Istanbul nach seinem Wahlsieg (AFP/ Bulent Kilic)
    Jasper Barenberg: Kristian Brakel. Er leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Jetzt haben wir noch etwas Zeit, etwas ausführlicher über das Thema zu reden. Schönen guten Tag, Herr Brakel.
    Kristian Brakel: Guten Tag.
    Barenberg: Die klare Niederlage für die Opposition, ein klarer Sieg für Erdogan schon im ersten Wahlgang. Warum ist aus der viel beschworenen Aufbruchsstimmung in der Türkei nicht recht etwas geworden?
    Brakel: Ich glaube schon, dass etwas draus geworden ist. Zumindest der Kandidat Muharrem Ince hat ja wesentlich besser abgeschnitten als seine Partei in den letzten Jahren immer. Aber es reicht nicht. Es gibt einfach immer noch sehr viele Leute, die Erdogan die Treue halten – nicht so sehr seiner Partei. Das ist auch ganz interessant. Wir können sehen, die AKP hat ja die absolute Mehrheit wieder verloren. Es gibt da durchaus Abnutzungserscheinungen, Risse im System. Auch Erdogan selber ist nur knapp über die 50 Prozent gekommen. Aber ich glaube, man muss auch sehen, dass gerade in so unsicheren Zeiten, in denen die Türkei sich jetzt befindet, die Leute dann doch eher mit dem Bestehenden vorliebnehmen, als sich auf ungewisse Experimente aus ihrer Sicht wahrscheinlich einzulassen.
    "20 Millionen Türken leben allein von Sozialhilfe"
    Barenberg: War das, wie es eben im Beitrag ja auch anklang, der Dank der Menschen, der Mehrzahl der Menschen in der Türkei für das, was Erdogan für das Land in den vergangenen Jahren geleistet hat, vor allem, was die wirtschaftliche Entwicklung anging?
    Brakel: Das ist natürlich noch mal eine andere Diskussion, ob es Erdogans Verdienst ist, oder ob das nicht auch Sachen sind, die so oder so gekommen wären. Aber ja, ganz klar: Es gibt natürlich viele Wählerinnen und Wähler, die mit ihm diesen wirtschaftlichen Aufschwung verbinden - ob das gerechtfertigt ist oder nicht, ist noch mal eine andere Frage -, die sagen, unser Land hat sich durchgehend geändert, und die, auch wenn die Wirtschaft jetzt eigentlich auf dem Weg nach unten ist, trotzdem noch diese Hoffnung haben, dass es ihnen weiter besser gehen wird. Und ich glaube, es gibt noch sehr viele arme Menschen in der Türkei. Ich glaube, es sind 20 Millionen Türkinnen und Türken, die allein von Sozialhilfe leben. Diese Sozialhilfe hat die AKP in den Jahren ihrer Regierung massiv hochgefahren und das sind natürlich die Leute, die da viel zu verlieren haben und die natürlich auch darauf hoffen, dass da ein Stück des Kuchens für sie abfällt.
    Notstandsgesetz, unfreie Medien, Kandidaten in Haft
    Barenberg: Jetzt gibt es natürlich auch dieses Mal wieder viele Berichte über Manipulationen. Die Beobachter sind sich im Grunde einig, dass die Wahlchancen, die Wahl jedenfalls nicht fair war. Ist das im Ausgang trotzdem klar, dass Erdogan diese Wahl deutlich gewonnen hat und gleich im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreicht hat?
    Brakel: Genau können wir das natürlich nicht sagen. Es gab auch dieses Mal wieder Vorwürfe und durchaus Belege, mit Videos und Ähnlichem, von Manipulationsversuchen. Mein subjektiver Eindruck ist, dass es weniger war als letztes Jahr beim Verfassungsreferendum. Das mag allerdings auch daran liegen, dass die besonders "krassen" Manipulationen, die wir letztes Jahr gesehen haben, wie zum Beispiel, dass ungestempelte Wahlzettel akzeptiert wurden, dass die jetzt mit dem neuen Wahlgesetz vom Frühjahr auf einmal auf legale Weise in das System gebracht wurden. Ich glaube, die größere Manipulation beziehungsweise die Dinge, die dafür gesorgt haben, dass dieser Wahlkampf oder diese Wahlen nicht frei und fair waren, die haben sich im Vorfeld zugetragen: Die Notstandsgesetzgebung, die unfreien Medien, der eine Präsidentschaftskandidat, der im Gefängnis sitzt. Das war auf jeden Fall natürlich kein gleiches Spielfeld für alle Parteien und Kandidaten. Aber ja, man kann darüber diskutieren, ob es so viel anders gewesen wäre.
    HDP mit starkem kurdischen Wählerpotenzial
    Barenberg: Ist es unter den Voraussetzungen geradezu erstaunlich, dass beispielsweise die prokurdische HDP 11,5 Prozent in etwa erreicht hat und damit diese hohe Zehn-Prozent-Hürde klar überwunden hat?
    Brakel: Ich finde das erstaunlich. Es war ja auch lange Zeit gestern Abend bei der Auszählung nicht klar, das war eine ganz schöne Zitterpartie. Es ist aber natürlich so: Die HDP hat ein sehr starkes kurdisches Wählerpotenzial im Südosten und in einigen der größeren Städte, die relativ verlässlich diese Partei wählen. Ein paar davon waren bei den letzten Wahlen zur AKP umgeschwenkt, aber aufgrund deren inzwischen sehr antikurdischen Kurs vom letzten Jahr - wir denken an den Einmarsch in Afrin in Syrien, aber auch an das Verhalten der türkischen Regierung zum Unabhängigkeitsreferendum im Nordirak -, sind da viele jetzt wieder zurückgekommen. Dieses Potenzial sind mindestens neun Prozent. Das Wichtige sind diese restlichen zwei Prozent, die man jetzt noch geschafft hat, aus anderen Wählerschichten zu holen, um die Zehn-Prozent-Hürde zu übersteigen.
    "Er ist sehr stark von Paranoia getrieben"
    Barenberg: Ich hatte es am Anfang schon angedeutet: Erdogan ist auch insofern am Ziel, als er jetzt an der Spitze eines Präsidialsystems steht. Er ist gewissermaßen Partei-, Staats- und Regierungschef künftig in einem mit einer bisher ungekannten Machtfülle. Was wird Erdogan mit dieser Macht machen?
    Brakel: Das weiß ich natürlich nicht im Sinne einer Voraussage. Aber ich glaube, wenn wir uns angucken, wohin die Reise in den letzten Jahren gegangen ist, dann wird er das im Prinzip fortsetzen. Seine Vision ist es ja, für 2023, wenn die Türkische Republik 100 Jahre alt wird, sich da selber so ein Vermächtnis zu schaffen, und das mit aller Macht, komme was wolle. Wir können das deutlich erkennen. Er ist sehr stark von Paranoia getrieben, vielleicht auch nicht ganz zu Unrecht angesichts des Putschversuchs 2016 und der anderen Versuche, ihn abzusägen. Er reagiert populistisch; das wird er auch weiterhin tun. Er reagiert mit aller Härte gegen all diejenigen, die er als Bedrohung empfindet. Und er verlässt sich sehr stark auf seine Instinkte, die ihn manchmal trügen, aber oft auch in die richtige Richtung geführt haben. Ich glaube, wir haben aber trotzdem natürlich einen Politiker, der auf dem Zenit seiner Macht ist, aber gleichzeitig sehr unsicher in dieser Machtausübung, wo sich wie gesagt auch Risse im System zeigen und er immer wieder darum bemüht ist, diese Risse zu kitten und neue Legitimität herzustellen. Das kann man - das lehren uns viele andere autokratische Systeme rund um die Welt. Dafür braucht es immer wieder irgendwelche Krisen und die wird er weiter verlässlich produzieren.
    Hoffnung auf Aufhebung der Notstandsgesetze
    Barenberg: Nun gab es eben in dem Beitrag auch die Einschätzung, dass viele Menschen in der Türkei damit rechnen, dass er jetzt etwas an Schärfe herausnimmt aus seiner Vorgehensweise. Sie rechnen ja eher damit, dass er den autoritären Kurs noch verstärken wird. Warum das?
    Brakel: Ich wünsche mir das. Ich wünsche mir, dass zum Beispiel die Notstandsgesetzgebung aufgehoben wird. Das wäre vielleicht auch im Bereich des Möglichen. Das hatte er vor den Wahlen angekündigt und das wäre auch etwas, was es leichter machen würde für die EU, auf ihn zuzugehen im Bereich von Wirtschaftsfragen. Aber grundsätzlich, glaube ich, wird sich nichts daran ändern. Ich habe das ja gerade schon erklärt. Macht - das ist einfach so -, Macht nutzt sich ab mit der Zeit. In Demokratien ist es so: Alle paar Jahre gibt es Wahlen, und zwar Wahlen, die in der Regel von der Mehrzahl der Bürgerinnen und Bürger akzeptiert werden. Das System tauscht sich aus, die Gesichter ändern sich. Wenn aber jemand so lange an der Macht ist, dann erodiert diese Legitimität zwangsläufig. Ich glaube, ein gutes Beispiel ist etwa Ägypten, sind andere arabische Staaten, wo die Herrscher ja zum Teil durchaus auch durch den Willen des Volkes an die Macht gekommen sind, aber dann nicht mehr gegangen sind. Früher oder später erodiert diese Macht und dann muss man sich an andere Mittel klammern, und das ist genau das, was wir die letzten Jahre gesehen haben, spätestens seit den Gezi-Protesten 2013. Dann hilft nur noch Gewalt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.