Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Wahlen in Israel
"Man hat vor zwei Minderheiten Angst verbreitet"

Im aktuellen israelischen Wahlkampf sei Angst vor den Religiösen aber auch vor der arabischen Minderheit verbreitet worden, kritisierte Shimon Stein, Ex-Botschafter Israels in Deutschland im Dlf. Nötig sei vielmehr die Integration beider Minderheiten, doch die gesellschaftliche Debatte darüber fände nicht statt.

Shimon Stein im Gespräch mit Mario Dobovisek | 17.09.2019
11.09.2019, Israel, Jerusalem: Ein Wahlplakat der Likud-Partei, auf dem der israelische Ministerpräsident und Vorsitzende der Likud-Partei Benjamin Netanjahu (r) US-Präsident Donald Trump die Hand drückt, ziert ein Hochhaus an einer dicht befahrenen Straße. Die Wahlen sollen am 17. September 2019 stattfinden. Foto: Ilia Yefimovich/dpa | Verwendung weltweit
Wahlen in Israel mit einem Wahlplakat von Avigdor Lieberman (dpa)
Mario Dobovisek: Fünf Monate nach der Parlamentswahl in Israel wird wieder gewählt, weil es Wahlsieger Benjamin Netanjahu nicht gelungen ist, eine Regierung zu bilden. Und Umfragen deuten darauf hin, dass es nach der Neuwahl heute nicht viel einfacher werden dürfte.
Am Telefon begrüße ich Shimon Stein. Er war von 2001 bis 2007 Israels Botschafter in Deutschland und ist heute als Wissenschaftler für das Institut für Nationale Sicherheitsstudien an der Universität Tel Aviv tätig. Guten Morgen, Herr Stein!
Shimon Stein: Morgen!
Dobovisek: Die beiden großen Kontrahenten bleiben die gleichen wie vor fünf Monaten: Benjamin Netanjahu auf der einen Seite und Benny Gantz auf der anderen. Wird sich Geschichte wiederholen, Herr Stein, und das Regieren auch nach der neuen Wahl unmöglich bleiben?
Stein: Ich bin kein Prophet. Insofern kann ich Ihnen eigentlich nicht genau sagen, wie am Ende des Tages Israel aussehen wird. Aber es ist durchaus wahrscheinlich, dass ein Szenario, das Sie gemalt haben, uns heute Abend und morgen im Laufe des Tages klarer wird. Ja!
Dobovisek: Wie nehmen Sie die Stimmung unter den Israelis wahr?
Stein: Die Stimmung hat sich im Laufe der letzten Wochen verändert, und zwar in den letzten zwei Wochen, denn im Sommer war keine Zeit für Wahlkampf. Und auf Hochtouren fing es erst Anfang September an. Heute Morgen, soweit ich weiß, gibt es eine gewisse Stimmung. Und es ist nicht so, dass die Wahl heute den Israelis über die Köpfe hinaus indifferent ist. So nehme ich das heute wahr, das ist bei manchen nicht mehr zu spüren. Ich werde hier nicht dazu neigen, über die Frage zu spekulieren, ob die Wahlen eine Schicksalswahl sein werden oder nicht. Das sind Wahlen, die für uns zunächst überflüssig waren. Und da sie stattfinden, werden sie auch eine Bedeutung haben und dann kommt es darauf an, wer am Ende den Vorsprung hat, um eine Regierung zu bilden.
"Religiöse Richtung oder säkulare"
Dobovisek: Großer Streit bei dem letzten Versuch, eine Regierung zu bilden, war ja die Religion, zum Beispiel auch die Frage, ob orthodoxe Juden zur Armee gehen müssen oder nicht. Welche Rolle haben diese Themen jetzt im Wahlkampf gespielt?
Stein: Sie haben vollkommen recht, das spielt in dieser Wahl eine viel größere Rolle, als es in den Wahlen im April war, wo es am Ende um quasi ein Referendum ging, to Bibi or not to Bibi. Jetzt geht es unter anderem wirklich um die Frage, religiöse Richtung oder säkulare. Diese zwei großen Fragen, die an sich ein Thema sein sollen für die israelische Zukunft, für die Zukunft der Demokratie, was für einen Staat wollen wir, das spitzt sich zu mit dieser Frage religiöse Richtung beziehungsweise Netanjahu mit den Rechtsradikalen und den Religiösen, oder andererseits eine säkulare liberale in Richtung mit Benny Gantz. Am Ende war es eine taktische Frage, die Lieberman, der das Zünglein an der Waage sein wird, gezaubert hat, um hier Stimmen für sich zu gewinnen.
Dobovisek: Aber hat Lieberman, Herr Stein, möglicherweise genau mit dieser Taktik, wie Sie es ja nennen, eine Grundsatzfrage in Israel heraufbeschworen, die längst hätte beantwortet werden müssen, nämlich ob mehr oder weniger Religion im Staat eine Rolle spielen soll?
Stein: Über eine Antwort würde ich mich persönlich sehr freuen. Aber zumindest haben Sie recht, dass das zu den Themen gehört, die für die Zukunft dieses Landes auch ausschlaggebend sind.
"An dieser Minderheit der religiösen Menschen kommt Israel nicht vorbei"
Dobovisek: Also doch vielleicht eine Schicksalswahl?
Stein: Wissen Sie, auch wenn ich persönlich als liberaler säkularer Mensch eine säkulare liberale Regierung haben möchte, an dieser Minderheit der religiösen Menschen kommt Israel am Ende nicht vorbei. Die sind ein integraler Bestandteil des Staates und sie werden zunehmend eine viel größere Rolle auch haben. Das trifft genauso auf die arabische bedeutende Minderheit zu. Und was mir überhaupt nicht gefiel an diesem Wahlkampf, man hat mit diesen zwei Minderheiten Angst verbreitet. Kommen die Araber, dann wird es das Ende des jüdischen Staates sein. Kommen die Religiösen, dann werden wir den Charakter verlieren. Am Ende muss es uns gelingen, in einen nationalen Dialog einzutreten und diese zwei Minderheiten zu integrieren. Wie tut man das? Das soll Anlass für eine gesellschaftliche Debatte sein und die fand bedauerlicher Weise noch nicht statt.
Shimon Stein, ehemaliger Botschafter des Staates Israel in Deutschland, vor der israelischen Flagge.
Shimon Stein, ehemaliger Botschafter des Staates Israel in Deutschland (picture alliance / dpa / Peter Endig)
Dobovisek: Weil es vielleicht Fragen sind, auf die es nur komplizierte komplexe Antworten geben kann. In Israel dominierten die Werte und Sprache der Rechten. Das hatten Sie schon im April im "Tagesspiegel" geschrieben, zusammen mit Moshe Zimmermann, Herr Stein.
Stein: Und auch heute!
"Die israelische Gesellschaft tickt nach rechts"
Dobovisek: Wie stark ist dieser Rechtspopulismus heute in Israel?
Stein: Machen wir uns nichts vor. Die israelische Gesellschaft tickt nach rechts. Aber wenn Sie rechts sagen, das bedeutet ja nicht, dass man gegen Rechtsstaatlichkeit sein soll, dass man gegen die freie Presse vorangehen soll, dass man die sogenannte Gatekeeper-Justiz und Polizei hier, mit der Netanjahu in seinem Wahlkampf vorgegangen ist, verurteilt. Das soll nicht sein, dass der Staat nach rechts rückt. Es soll nicht bedeuten, dass der Staat seinen demokratischen Charakter verliert. Bedauerlicher Weise, was wir in den letzten Jahren gesehen haben, ist Israel als Teil des Trends in Westeuropa etwas mehr in Richtung Populismus gerückt. Und das kann langfristig die Demokratie in Israel erodieren. Netanjahu hat in diesem Wahlkampf an den Fundamenten der israelischen Demokratie gerüttelt. Sollte dieser Trend sich weiter fortsetzen, dann, glaube ich, wird das Israel, das wir kannten und sehen wollten, nicht mehr das sein, was wir uns alle wünschen.
Dobovisek: Da hat Benjamin Netanjahu noch einmal bekräftigt, Teile der Palästinenser-Gebiete annektieren zu wollen, sollte er die Wahl gewinnen. Das spricht ja auch für einen Rechtsruck und gleichzeitig auch ein Stück weit für das Ende des Friedensprozesses mit den Palästinensern.
Stein: Wissen Sie, über den Friedensprozess hätte ich mir gewünscht, dass wir das wirklich zu einem Wahlkampfthema machen würden. Aber bedauerlicher Weise hatte der Konflikt eine untergeordnete Rolle - wenn überhaupt - gespielt. Auch Netanjahu-Gegner Gantz hat uns keine guten Antworten auf diese Frage, wie es weitergehen soll, geliefert. Aber ich meine, momentan sehen die Israelis nicht die Realisierbarkeit der Zwei-Staaten-Lösung, und dazu tragen wir genauso wie auch die Palästinenser bei. Ob es am Ende zu einer Annexion kommt – es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Mal abwarten! Aber dass Netanjahu kein Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung ist, das ist uns sehr klar.
Dobovisek: Die Zwei-Staaten-Lösung spielt in letzter Zeit überhaupt keine Rolle mehr in Gesprächen mit israelischen Politikern. Für Sie schon?
Stein: Für mich bleibt es trotz alledem die einzige Möglichkeit für uns, uns nebeneinander zu trennen. Jedes andere Szenario – und das höre ich von einem Staat, wo wir dann die Gebiete annektieren und den Palästinensern nicht dieselben Rechte geben -, es wird dann ein Blutbad sein. Und dann wird man zurück zu einer Trennung kommen. Eine Trennung zwischen diesen beiden Völkern ist momentan für mich eine Conditio sine qua non, um vielleicht am Ende zu einer Koexistenz zu führen. Aber zunächst müssen wir uns trennen, und zwar in zwei Staaten für zwei Völker, und dann sehen wir, alle anderen Lösungen werden die beiden Völker sehr viel Blut kosten, und das wollen wir eigentlich uns ersparen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.