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"Wahlen, wie wir es in Mitteleuropa kennen, werden es nicht werden"

Eine niedrige Wahlbeteiligung wird erwartet - und Störungen durch Taliban. Wichtig aus Sicht von Guido Westerwelle ist, ein "glaubwürdiges Ergebnis" herauskommt - eine klare Ansage Richtung Präsident Hamid Karsai.

17.09.2010
    Christoph Heinemann: Vor denjenigen, die morgen wählen gehen, muss man den Hut ziehen, denn in Afghanistan ist das lebensgefährlich. Radikal-islamische Taliban haben Anschläge angedroht. Wahlfälschung gehört auch zum schlechten Ton, gefälschte Wahlzettel sind schon aufgetaucht. Aber dennoch lassen sich viele Menschen davon nicht abhalten. Sie wollen, dass das zarte Pflänzchen Demokratie nicht gleich wieder verdorrt.
    Wir haben vor einer halben Stunde ein Interview mit dem pakistanischen Journalisten Ahmed Rashidgesendet, der hier in Deutschland sein neuestes Buch über Afghanistan vorgestellt hat. Er gilt als hervorragender Kenner des Landes. Die schriftliche Übersetzung dieses Interviews können sie jetzt bereits online nachlesen unter dradio.de und den Inhalt des Gesprächs kennt auch unser nächster Gesprächspartner. Am Telefon ist Guido Westerwelle, Bundesaußenminister und FDP-Vorsitzender. Guten Morgen!

    Guido Westerwelle: Schönen guten Morgen, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Westerwelle, ist die Wahlbeteiligung wichtiger als das Wahlergebnis?

    Westerwelle: Wichtig ist vor allen Dingen, dass wir freie Wahlen haben werden und dass ein glaubwürdiges Ergebnis herauskommt, denn man darf neben der Schwierigkeit durch die Sicherheitslage nicht unterschätzen, dass dieses Land natürlich ganz anders strukturiert ist, als man es gemeinhin vermutet. 80 Prozent der Bevölkerung leben ja auf dem Land, in 34 Provinzen leben etwa 15 verschiedene Ethnien und 50 verschiedene Sprachen werden dort gesprochen. Jeder kann sich vorstellen, was das für schwierige Umstände sind, diese Wahlen zu organisieren.

    Heinemann: Rechnen Sie mit fairen Wahlen, freien Wahlen?

    Westerwelle: Wir arbeiten daran, dass es freie Wahlen geben wird. Deswegen unterstützen wir auch – übrigens auch als Bundesregierung – den Wahlprozess selbst. Aber wir müssen gleichzeitig auch realistisch sein. Wahlen, wie wir es in Mitteleuropa kennen, werden es nicht werden, aber es muss ein glaubwürdiges Ergebnis dabei herauskommen, das dann auch einen Beitrag leistet, dass mehr und mehr die innere Demokratisierung Afghanistans so vorankommt, dass eben auch im Jahr 2014 die Sicherheitsverantwortung an Afghanistan übergeben werden kann.

    Heinemann: Stichwort! Ahmed Rashid hat gesagt (in dem Interview, von dem ich eben sprach), die Taliban, die vernünftigen, "sensible", wie er gesagt hat, die gemäßigten, würden wir vielleicht sagen, wollen mit den Amerikanern reden. Sind Ihren Informationen zufolge die Amerikaner ihrerseits bereit, mit den gemäßigten Taliban ins Gespräch zu kommen?

    Westerwelle: Wir haben ja auf der Konferenz in London und in Kabul, an der ich ja für Deutschland teilgenommen habe, vereinbart, dass wir ein Programm zur Reintegration und Aussöhnung unterstützen. Und Frieden zwischen den Parteien kann natürlich nur von den Afghanen selbst geschlossen werden. Es ist richtig, dass mehr und mehr eine politische Lösung in den Mittelpunkt rückt. Wir haben feststellen müssen, dass in den früheren Jahren sehr viel auf die militärischen Möglichkeiten wert gelegt worden ist, das gehört auch dazu. Wir mussten aber auch feststellen, dass selbst die Kombination militärische Absicherung, auch der zweiten Säule, nämlich des zivilen Aufbaus, nicht reicht. Deswegen ist es richtig, dass die dritte Säule des Prozesses in Afghanistan in den Mittelpunkt rückt, eine politische Lösung. Wir werden keine militärische Lösung in Afghanistan erleben, es wird eine politische Lösung geben, und dazu zählt auch Aussöhnung, dazu zählt auch Reintegration, dazu zählt auch, dass Mitläufer wieder in die Gesellschaft zurückgebracht werden, dass sie Angebote bekommen, wie sie zu Hause, zum Beispiel in ihren Dörfern im Norden, Arbeitschancen haben, sodass sie nicht zu den Waffen greifen und für einige Dollar im Süden dann für auch Verführer und für Taliban kämpfen.

    Heinemann: Und dazu zählt auch, dass Amerikaner und Taliban sich an einen Tisch setzen werden?

    Westerwelle: Ich kann darüber nicht spekulieren, denn es geht jetzt zunächst einmal darum, dass es innerhalb der Gesellschaft in Afghanistan entsprechende Gespräche und Versuche gibt, und wir unterstützen dabei die afghanische Regierung, die dieses ja auch getan hat. Dazu sind übrigens auch die Wahlen sehr bedeutsam. Die Reintegration und die Aussöhnung der Gesellschaft nach innen, sie hängt ja auch natürlich mit der Beteiligung aller unterschiedlichen Kräfte an der politischen Willensbildung zusammen, und deswegen ist es gut, dass die Vorbereitungen bisher planmäßig verlaufen sind, dass sich 2500 Kandidaten bewerben und darunter mehr Frauen als noch zuletzt bei der Wahl 2005. Die zuständige Wahlkommission hat sehr vieles effizienter und transparenter gemacht als zum Beispiel bei der letzten Präsidentschaftswahl im Jahre 2009, und selbst die gefundenen gefälschten Wahlzettel belegen ja, dass dieser versuchte Betrug durch die Afghanen selbst aufgedeckt worden ist. All das sind Fortschritte, bei all den Rückschlägen, die wir natürlich auch sehen und nicht ignorieren dürfen, vor allen Dingen bei der Sicherheitslage.

    Heinemann: Herr Westerwelle, Sie sprachen gerade von "allen beteiligten Kräften". Wir haben eben in dem Interview gehört: der pakistanische Geheimdienst ISI unterstützt oder kontrolliert sogar die Taliban und ihre Aktionen. Dieser Geheimdienst macht offenbar was er will, das heißt, er arbeitet nicht auf Anweisung der Regierung, sondern des Militärs. Wie bringt man diese Leute zur Vernunft?

    Westerwelle: Ich kann jetzt hier nicht über geheimdienstliche Tätigkeiten von wem auch immer spekulieren. Ich kann nur eines feststellen, dass das Verhältnis zwischen Pakistan und Afghanistan von großer Bedeutung ist für die Stabilisierung der gesamten Region und dass ich als Außenminister auch sehr viel Wert darauf gelegt habe und auch immer wieder versucht habe, durch Einflussnahme dafür zu sorgen, dass sich dieses Verhältnis auch verbessert. Und wir müssen feststellen, dass an beiden Konferenzen, bei der Londoner Afghanistan-Konferenz und bei der Kabuler Konferenz, alle auch Nachbarstaaten teilgenommen haben und insbesondere Pakistan, und die Fortschritte zum Beispiel, die bedeuten, dass zwischen Pakistan und Afghanistan ein Handelsabkommen zum ersten Mal überhaupt abgeschlossen worden ist, all das darf man nicht ignorieren. Also es ist leicht, natürlich immer über das zu reden, was noch nicht gelingt, aber wenn wir einen Erfolg haben wollen, müssen wir auch ein differenziertes Bild uns von Afghanistan machen. Dazu zählt auch, dass es ernsthafte Bemühungen seitens der pakistanischen Seite gibt, Afghanistan bei dem Friedensprozess zu unterstützen.

    Heinemann: Wir wollen uns Ahmed Rashids Vorschläge zu einer Befriedung des Konflikts noch einmal anhören.

    O-Ton Ahmed Rashid: Wir müssen akzeptieren, dass der Krieg beendet werden muss. Und das geht nicht, indem man einfach davonläuft. Es bedarf auch eines regionalen Abkommens zwischen den Nachbarstaaten. Afghanistan hat sechs Nachbarn. Es gibt große Spannungen zwischen diesen Nachbarländern, etwa zwischen Indien und Pakistan, und eine Rivalität beider in Kabul. Die Internationale Gemeinschaft muss mit den Taliban verhandeln, oder der afghanischen Regierung helfen, mit den Taliban zu verhandeln, und gleichzeitig mit den Mitteln der regionalen Diplomatie die Länder dieser Gegend zusammenbringen.

    Heinemann: Leichter gesagt als getan! – Sie haben schon Pakistan angesprochen, aber Indien, der Iran gehört auch noch dazu. Wie bekommt man die alle an einen Tisch?

    Westerwelle: Das ist uns ja gelungen, jetzt zuletzt in Kabul. Deswegen ist ja die Afghanistan-Konferenz auch nicht zu unterschätzen in ihrer Bedeutung. In Kabul saßen eben nicht nur die Vertreter der internationalen Weltgemeinschaft zusammen, sondern es saß auch unmittelbar jedes Nachbarland mit am Tisch. Und alle haben auch die Schlussfolgerungen für den Erfolg in Afghanistan mit unterstützt.
    Die Rolle Pakistans bei der Stabilisierung Afghanistans, sie kann kaum überschätzt werden. Aber man muss auch feststellen, dass die Beziehungen zwischen Pakistan und Afghanistan sich in den letzten Monaten verbessert haben. Im Juli haben beide Länder ein Handels- und Transitabkommen beschlossen, das wäre vor einem Jahr wahrscheinlich noch undenkbar gewesen. Deswegen sind das alles Beiträge. Das alles belegt ja auch das, was eben als Ausschnitt aus dem Interview eingeführt worden ist. Das alles belegt ja, dass unsere Haltung richtig ist, auf eine politische Lösung zu setzen, weil wir alle wissen, militärisch alleine ist das nicht zu gewinnen. Deswegen ist es auch richtig, dass wir bei der Reintegration von Mitläufern mitmachen, dass die internationalen Partner dabei helfen und dass wir auch die afghanische Regierung dabei unterstützen. Es muss natürlich auch rote Linien geben, die nicht überschritten werden können, und dazu zählt der Gewaltverzicht, dazu zählt die Niederlegung der Waffen, grundlegende Menschenrechte und natürlich auch die Anerkennung der Verfassung, die ja eine sehr moderne Verfassung ist für die Maßstäbe, die wir in Afghanistan anlegen wollen.

    Heinemann: Herr Westerwelle, wir wollen noch zu einem anderen Thema kommen. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hat gestern behauptet, dass auch in Deutschland Räumungen von Roma-Lagern so wie in Frankreich geplant seien. Er berief sich dabei auf Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die hat das umgehend dementieren lassen, wir haben das gemeldet (auch bei uns in den Nachrichten). Wissen Sie, wie Nicolas Sarkozy auf die Idee gekommen ist, das zu behaupten?

    Westerwelle: Nein! Ich vermute, dass es sich hierbei um ein Missverständnis handelt, denn die Bundeskanzlerin hat ja öffentlich und auch mir persönlich noch einmal berichtet, wie der Gesprächsverlauf gewesen ist, und solche Ankündigungen seitens der deutschen Bundeskanzlerin hat es nicht gegeben. Sie würden ja auch dem deutschen Verfassungsgefüge widersprechen und es gibt derartige Überlegungen nicht. Ich vermute, es handelt sich dabei um ein Missverständnis. Ich möchte aber noch einmal im Grundsatz nachdrücklich sagen: Es ist nicht nur das Recht, es ist die Pflicht der Kommission zu untersuchen, dass alle Mitgliedsstaaten sich auch an das Gemeinschaftsrecht halten, einschließlich der vereinbarten Freizügigkeit. Umgekehrt ist es aber nicht nur das Recht, auch die Pflicht der französischen Regierung, auf die Durchsetzung nationaler Rechte und nationaler Regeln auch zu drängen. Ich habe ein sehr großes Vertrauen in die große französische Demokratie, dass sie die Balance zwischen nationalem Recht und europäischen Verpflichtungen auch ganz selbstverständlich vernünftig findet, und ich finde auch, wir sollten mit Respekt diese Diskussion führen. Frankreich in die Ecke von Untaten des Zweiten Weltkrieges zu stellen, ist absolut inakzeptabel, ist verletzend und hat mutmaßlich zu der aufgebrachten Reaktion des französischen Präsidenten geführt.

    Heinemann: Im Deutschlandfunk sprachen wir mit dem FDP-Vorsitzenden und Bundesaußenminister Guido Westerwelle. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Westerwelle: Auf Wiederhören!