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Wahlkampf in Großbritannien
Labour zwischen Brexit und Antisemitismus-Vorwürfen

Im Wahlkampf versucht Labour-Chef Corbyn mit seiner Brexit-Politik einen Spagat zwischen den Lagern. Er selbst bezeichnet sich als neutral beim EU-Austritt - und verspricht ein neues Referendum. Der Wahlkampf der Oppositionspartei wird zudem von Antisemitismus-Vorwürfen belastet.

Von Friedbert Meurer | 11.12.2019
Labour-Chef Jeremy Corbyn
Der Chef der britischen Labour-Partei Jeremy Corbyn: Ihm wird vorgeworfen, einen linken Antisemitismus in seiner Partei zu tolerieren (imago / ZUMA Press)
Southfields, ein Stadtteil im Londoner Westen. Einige Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer von Labour stehen vor dem Bahnhof und haben ein großes Poster aufgebaut. "Die letzte Chance, den Brexit noch zu stoppen", steht darauf. Sally Morgan spricht die Passanten direkt an. "Kann ich Sie davon überzeugen, taktisch zu wählen?" - "Ich werde definitiv taktisch wählen!"
Sally Morgan würde eigentlich lieber die Liberaldemokraten wählen. Deren Kandidat hat aber nur über wenige Chancen im Wahlkreis. Also wirbt die Lehrerin dafür, aus taktischen Gründen Labour zu wählen.
Taktische Stimmen für Labour?
Ein Passant vor dem Bahnhof muss von Sally Morgan gar nicht umgestimmt werden. Er will eine Zusammenarbeit der Oppositionsparteien, um Boris Johnson zu verhindern. "Am wichtigsten ist mir eine Kombination von Parteien, die den Brexit verhindern. Ich habe starke Vorbehalte gegen Labour. Aber mir ist alles lieber als Boris Johnson."
Jetzt diskutiert Sally Morgan mit einem älteren Mann aus Wales. Er arbeitet in einer Fabrik in Wales, hat früher Labour gewählt. Aber diesmal will er das nicht tun. "Sie haben gewählt, was sie gewählt haben. Wenn sie für die EU gewählt hätten, bleiben wir. Wenn sie den Austritt aus der EU gewählt haben, gehen wir."
"Aber wir haben ein System von Wahlkreisen. Wir brauchen Abgeordnete, die für den Wahlkreis arbeiten." Im Wahlkreis Putney und Southfields haben 72 Prozent für die EU gestimmt. Doch den Mann aus Wales beeindruckt das nicht. Er wird nicht Jeremy Corbyn wählen.
"Ich wähle ganz bestimmt nicht Corbyn. In oder out. Ich bin definitiv für out. Wir wollen ein eigenes Land sein mit eigenen Gesetzen, und die Zuwanderung kontrollieren wir selbst. Labour will jetzt ein zweites Referendum. Nein, wir haben out gewählt, also gehen wir raus."
"Wir sind seit drei Jahren ein tief gespaltenes Land"
Corbyns Brexit-Politik ist ein Spagat zwischen den Lagern. Er selbst bezeichnet sich als neutral beim Brexit. Selbst seine Anhänger haben ein wenig Schwierigkeiten, das hier am Wahlkampf-Stand den Wählern zu erklären. "Ich habe 2016 dafür gestimmt, in der EU zu bleiben. Aber das ist ehrlich gesagt für mich nicht das Wichtigste bei der Wahl. Neutral zu bleiben, ist zwar okay. Aber ich denke schon, dass Corbyn ein Recht auf eine eigene Meinung hat."
Ihm und seinen Mitstreitern ist die soziale Gerechtigkeit wichtig, das Gesundheitswesen, Schulen oder Wohnungen. Rosalee Dorfman ist Amerikanerin mit deutschen Vorfahren. Sie brauchte einige Zeit, das mit dem zweiten Referendum zu schlucken.
"Ich habe zunächst nicht gedacht, dass eine neue Volksabstimmung notwendig wäre, um das Land zu einen. Wir sind seit drei Jahren ein tief gespaltenes Land. Der Brexit spaltet Familien und Freundschaften. Aber wir müssen das Land in eine positive Richtung führen."
Sally Morgan war schon früh auf den Beinen und macht kurz Pause in einem Café gegenüber. Morgan ist Jüdin. Ihre Mutter kam mit 16 Jahren aus Dortmund nach England, die Großeltern flohen in die USA. Sally Morgan war Mitglied bei Labour, hat aber ihre Mitgliedschaft nicht verlängert. Sie ist betroffen, dass es auf einmal linke Antisemiten in ihrer alten Partei gibt.
Boris Johnson ist klarer Favorit für die Wahl
"Corbyn hat einige dumme Fehler gemacht. Manchmal glaube ich, er ist nicht besonders klug. Er schreibt das Vorwort zu einem Buch, das zu Teilen antisemitisch ist. Du denkst: Hat er das Buch jemals gelesen? Dann gab es ein offensichtlich antisemitisches Poster. Er fand es gut. Dabei konnte man das sofort erkennen."
Hinzu kam vielleicht noch ein weiterer Fehler, jedenfalls aus Sicht derjenigen, die ein zweites Referendum wollen. Corbyn hat immer darauf gedrängt, dass es erst zu Neuwahlen kommt, und danach dann eine neue Volksabstimmung zum Brexit. Jetzt hat ihm Boris Johnson die Neuwahlen aufgedrängt und die Idee mit der zweiten Volksabstimmung könnte jetzt am Freitagmorgen nach der Wahl Geschichte sein. "Es hätte anders herum sein müssen. Die Volksabstimmung hätte vor den Neuwahlen kommen sollen."
Umso mehr lautet jetzt für Sally Morgan das Motto: "Anybody but Boris". Hauptsache Boris Johnson verhindern. Einer ihrer beiden Söhne lebt in Paris. Sie hat den deutschen Pass beantragt und lernt deutsch. Boris Johnson ist klarer Favorit für die Wahl. Aber Sally Morgan hofft noch auf die Wende, und jede Stimme kann dabei entscheidend sein. Deswegen verteilt sie Infozettel und appelliert, taktisch zu wählen. "Ich möchte gerne weiter europäisch bleiben. Ich vermag nicht einzusehen, warum mir jemand meine europäische Staatsangehörigkeit wegnehmen kann."