Sonntag, 28. April 2024

Archiv

Wahlprogramm der Grünen
"Es gibt eine größere Nähe mit der SPD"

Der Grünen-Vorsitzende Özdemir will das Thema soziale Gerechtigkeit im Bundestagswahlkampf in den Mittelpunkt stellen. Özdemir sagte im Deutschlandfunk, man müsse Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht immer lösen, indem man Arbeitnehmer in den Ruhestand schicke. Man könne ja auch den Arbeitsmarkt ändern.

Cem Özdemir im Gespräch mit Christoph Heinemann | 10.03.2017
    Der Grünen-Bundesvorsitzenmde Cem Özdemir
    Der Grünen-Politiker Cem Özdemir (picture alliance/dpa - Marijan Murat)
    Christoph Heinemann: 8,4 Prozent – kein strahlendes Ergebnis. Obendrein (ärgerlich für die Partei) knapp hinter der Linken. Aber es reichte für den Bundestag. Das war 2013. – Später sind die Grünen hoch gestiegen in den Umfragen: Mitte 2016 noch satt zweistellig. Seither geht es bergab: Fast halbiert, zwischen sechs und sieben Prozent irgendwo. Warum und wie ändern wir das, fragen sie sich? Die Antwort sollte im Wahlprogramm stehen, dessen Entwurf heute vorgestellt werden soll.
    Am Telefon ist Cem Özdemir, der Vorsitzende der Grünen und zusammen mit Katrin Göring-Eckardt Spitzenkandidat seiner Partei für die Bundestagswahl. Guten Morgen.
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Heinemann!
    Heinemann: Herr Özdemir, warum sind die Grünen in den Umfragen so schwach?
    Özdemir: Darf ich kurz noch was zur Anmoderation sagen?
    Heinemann: Gerne!
    Wettbewerb zwischen CDU und SPD gehe zulasten anderer Parteien
    Özdemir: Die Legislaturperiode geht vier und nicht fünf Jahre [*] und das war, glaube ich, nicht das einzige Klischee in dem Beitrag. Ich meine, dass wir konservativ wären, ich weiß nicht, wo die Moderatorin das her hat. Ich bin grün und meine Co-Spitzenkandidatin ist auch grün.
    Heinemann: Kurz zur Klärung. Moderator bin ich und das war eine Berichterstatterin, nämlich Barbara Schmidt-Mattern. Wo wir gerade bei den vielen Korrekturen sind. – Noch mal zur Frage: Warum sind die Grünen in den Umfragen so schwach?
    Özdemir: Wenn es einen ernsthaften Wettbewerb zwischen SPD und zwischen CDU gibt, was ja erst mal erfreulich ist, dann geht das logischerweise auch zu Lasten der anderen Parteien. Vergessen Sie nicht: Das letzte Mal vor vier Jahren hatten wir 8,4 Prozent bei einer SPD, die in der Nähe der 20 Prozent war. Jetzt ist die SPD gerade bei über 30 Prozent, wir sind in den Umfragen aber immer noch bei acht Prozent. Das hätte auch schlimmer kommen können.
    Jetzt war es vor einem Monat so: Wenn wir das Interview geführt hätten, dann hätten Sie mich gefragt, wer koaliert mit der CDU. Jetzt ist es so, dass Sie fragen, könnte auch Martin Schulz der Kanzler einer Großen Koalition sein. Und ich kämpfe dafür, dass es hoffentlich ab jetzt nicht mehr nur um die Große Koalition geht, sondern um den Wechsel. Und den Wechsel, den kann es nur mit den Grünen geben.
    "Es gibt immer eine größere Nähe mit der SPD"
    Heinemann: Und mit welchem Partner?
    Özdemir: Mit dem Partner, mit dem man am meisten grüne Politik umsetzen kann. Wir haben eine Eigenständigkeit, aber wir haben auch immer gesagt, Eigenständigkeit heißt nicht, dass uns alle Partner gleich lieb sind. Wenn Sie ein Politikwissenschaftsseminar besuchen, dann lernen Sie in der ersten Stunde, wenn die Grünen zwischen der SPD und der CDU/CSU wählen könnten, wenn es mit beiden ginge, dann würden wir immer erst mit der SPD koalieren. Umgekehrt ist es übrigens nicht anders. Wenn die CDU/CSU mit der FDP kann, wird sie immer mit der FDP koalieren. Es gibt immer eine größere Nähe selbstverständlich, was die Schnittmengen angeht, mit der SPD, aber das ist kein Geheimnis.
    Heinemann: Darauf legen Sie sich heute Morgen fest?
    Özdemir: Darauf legen wir uns nicht heute Früh fest, sondern das haben wir sehr erfolgreich von _98 bis 2005 im Bund gemacht. Die Koalition hat Deutschland sehr gut getan, modernisiert, viele Erfolge, Atomausstieg, die eingetragene Lebenspartnerschaft, Geburtsrecht. Das haben wir ja damals mit der SPD durchgesetzt. Danach wollten wir es ja ein paar Mal; es ist bekanntermaßen ja nicht nur an uns gescheitert, sondern an den Ergebnissen der SPD, die damals eher bei 20 Prozent war.
    Heinemann: Herr Özdemir, was würde sich garantiert ändern, wenn Grüne im Bund mitregierten?
    Özdemir: Viel! Es gibt ja noch einiges, was wir Grünen in Deutschland machen wollen. Das Entscheidende ist: Der Stillstand würde enden. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel. Die Große Koalition tut so, als ob der Elektromotor in Deutschland einen Bogen drum herum macht und es keinen Unterschied macht, ob wir den in Deutschland herstellen, oder ob er aus Japan, aus Südkorea oder von Toyota aus den USA kommt. Ich will aber als jemand, dessen Wahlkreis in Stuttgart ist, nicht in Stuttgart ins Bett gehen, in Ingolstadt, in Wolfsburg, und dann vielleicht in Detroit aufwachen, in einer Industrieruine. Wenn man das nicht will, dann muss man jetzt was tun und nicht beliebig warten.
    "Wir brauchen auch eine Wirtschaft, die sich umstellt"
    Heinemann: Nämlich was?
    Özdemir: Na ja, kraftvoll anpacken. Schauen Sie, wir sind weit entfernt beim Ausbau der Lade-Infrastruktur. Die Leute kaufen doch keine Elektromobile, weil sie dagegen sind, sondern sie kaufen keine, weil sie noch zu teuer sind. Sie kaufen keine, weil die Reichweite nicht stimmt, weil die Lade-Infrastruktur nicht da ist, weil es zu lange dauert beim Laden. Das sind alles lösbare Probleme, andere kriegen es doch auch gelöst. Wir kriegen es nicht gelöst, weil bei uns Qualifikation kein Kriterium ist, um Verkehrsminister zu sein. Bei uns reicht es aus, wenn man von der CSU in Bayern ist und sich mit der Maut beschäftigt.
    Heinemann: Das heißt, der Staat installiert in Zukunft Steckdosen?
    Özdemir: Der Staat nicht alleine. Wir brauchen auch eine Wirtschaft, die sich umstellt. Das tut sie aber vielfach schon. Dem Staat fehlt allerdings ein Partner und der Partner muss eine Politik sein, die weiß was sie will.
    "Die am besten organisiert sind, sind nicht immer die Allerbedürftigsten"
    Heinemann: Stichwort Partner. Die SPD möchte das Arbeitslosengeld I zu einem Qualifizierungs-ALG verlängern. Die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" hat mal nachgerechnet: Wer über 58 Jahre alt ist, der kann dann insgesamt auf bis zu vier Bezugsjahre kommen. Er ist dann 62. Selbst Franz Müntefering warnt inzwischen, wir brauchen keine Frühverrentungskonzepte. Hat er Recht?
    Özdemir: Dass die SPD da mit sich im Unreinen ist, was die Agenda 2010 angeht, das kann ich angesichts der früheren Umfragen ja auch verstehen. Und dass sie versuchen möchte, Wähler von der Linkspartei zurückzuholen, wer will ihr das vergraulen. Ich rate aber der SPD, mal genau hinzuschauen, wer denn die eigentlich Bedürftigen sind. Da habe ich manchmal so das Gefühl, dass die SPD in Gefahr ist, auf die zu hören, die am besten organisiert sind. Das sind aber nicht immer die allerbedürftigsten. Die SPD hat die Rente mit 63 gemacht, damit entzieht sie hoch qualifizierte Leute, die eigentlich auch länger arbeiten wollen, dem Arbeitsmarkt. Das sind im Regelfall Männer, die 45 Jahre einbezahlt haben. Was ist mit den Frauen? Was ist mit Erwerbsgeminderten, die hart gearbeitet haben, die ja nichts dafür können, dass die Arbeit sie kaputt gemacht hat, und dann mit Abschlägen in die Rente gehen? Was ist mit Alleinerziehenden, Langzeitarbeitslosen? Wie wäre es denn mal mit einer Qualifizierungsoffensive, dass wir die Jobcenter umbauen? Da ist noch nicht alles rund, was bei der SPD als Sozialpolitik daher kommt. Aber es ist ja gut, dass die SPD die Sozialpolitik wiederentdeckt hat, aber über Grün habe ich nicht viel gehört.
    "Dass wir Leute qualifizieren, ist doch richtig"
    Heinemann: Konkret habe ich jetzt auch nicht verstanden, was Sie eigentlich wollen. Wäre denn für die Grünen das ALG Q, dieses Qualifizierungs-Arbeitslosengeld vom Tisch?
    Özdemir: Nein! Dass wir Leute qualifizieren, ist doch richtig. Das ist doch gut, dass die SPD das endlich entdeckt hat. Die Frage ist nur: Wer hat dann den Arbeitsminister die letzten Jahre gestellt und wer stellt ihn jetzt gerade? Das sind doch nicht wir. Das ist doch die SPD. Warum hat die SPD nicht vieles von dem schon gemacht, was sie jetzt entdeckt hat? Es ist natürlich schon bemerkenswert, dass sie jetzt im Wahljahr entdeckt, dass es Langzeitarbeitslose gibt in Deutschland und dass es ältere Arbeitnehmer gibt, die am Arbeitsmarkt gegenwärtig nicht immer eine Zukunft haben. Ich meine, ein Arbeiterführer Schulz könnte doch auch mal dem einen oder anderen Arbeitgeber in den Hintern treten und sagen, sorg mal dafür, dass es Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmer gibt. Man muss das Problem nicht doch immer dadurch lösen, dass man die Leute in den Ruhestand schickt. Man könnte doch auch die Arbeitswelt umbauen und anpassen an ältere Arbeitnehmer.
    Heinemann: Sehr klare Kursbestimmung. Das haben wir eben im Beitrag aus Berlin gehört. Das hat Katrin Göring-Eckardt gesagt. Der Bundesrat stimmt heute darüber ab, ob Marokko, Algerien und Tunesien sichere Herkunftsländer sind. Die Grünen werden absehbar dafür, nämlich die aus Baden-Württemberg, und dagegen stimmen. Das heißt, mit den Grünen für und gegen sichere Maghreb-Staaten. Ist das ein guter Wahlspruch?
    Özdemir: Nein. Das stimmt auch nicht ganz, weil in Baden-Württemberg sind wir in einer Koalition mit der CDU und dort hat die Koalition vereinbart – das ist halt nun mal so in Koalitionen, da gibt es einen Koalitionsvertrag -, wenn die Bundesregierung zusichert, dass es Garantien gibt für bestimmte verfolgte Gruppen, dass die ein reguläres Verfahren durchlaufen, dass sie dann zustimmen werden. In den anderen Bundesländern haben wir andere Vereinbarungen und in den zehn anderen Ländern, in denen wir beteiligt sind, werden wir dagegen stimmen oder werden wir nicht zustimmen.
    "Wählt bitte nicht ein Regime, in dem ihr selber nicht leben wollt"
    Heinemann: Herr Özdemir, wir müssen noch mal ein anderes Thema anschneiden. Der türkische Außenminister Cavusoglu hat nachgelegt und das heutige Deutschland noch einmal mit der Nazi-Zeit verglichen. Der Nazi-Vergleich beziehe sich auf diverse Praktiken, sagte er der Deutschen Welle. Wie schätzen Sie das ein? Meinen diese Leute das ernst?
    Özdemir: Ernst im Zusammenhang mit der türkischen Politik fällt einem mittlerweile schon schwer. Das hat schon was von einer Karnevalsveranstaltung, wenn das nicht alles so schlimm wäre für die Betroffenen, die im Gefängnis sitzen. Aber ich glaube, wir müssen trotzdem unseren Zorn noch etwas zügeln und warten bis zu dem Referendum in der Türkei, denn das allergrößte Ziel sollte sein, dass Erdogan dieses Referendum, mit dem er ja versuchen möchte, die Türkei in so eine Art Operettensultanat, allerdings sehr autoritär zu verwandeln. Das sollte scheitern.
    Offensichtlich ist die AKP sehr nervös. Diese Äußerungen muss man auch in dem Kontext verstehen. Man braucht einen Gegner im Inland wie im Ausland, und es scheint so zu sein, dass Deutschland der Gegner im Ausland ist, den man braucht, damit man die Truppen zur Wahlurne bringt. Es klappt immer weniger, das ist eine gute Nachricht für die türkische Demokratie. Wir sollten an der Seite der türkischen Gemeinde hier aktiv dafür werben, dass in Deutschland lebende Deutschtürken nicht hier die Vorzüge der Demokratie benutzen, um in der Türkei eine Diktatur zu errichten. Das ist mein Appell an alle Deutschtürken: Geht wählen, aber wählt bitte so, dass ihr nicht ein Regime errichtet, in dem ihr selber noch nicht leben wollt.
    Wenig Selbstbewusstsein gegenüber Ankara
    Heinemann: Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtet heute, dass Wahlkampfauftritte im Ausland und in diplomatischen Vertretungen außerhalb der Türkei gegen das türkische Wahlgesetz verstoßen. Dort heißt es im Artikel 94a: "Im Ausland und in Vertretungen im Ausland kann kein Wahlkampf betrieben werden." Könnte die Bundesregierung unter Verweis auf diesen Artikel türkischen Wahlkämpfern die Einreise verweigern?
    Özdemir: Das könnte sie, aber da richten Sie sich an eine Regierung, die jetzt nicht gerade viel Selbstbewusstsein gezeigt hat im Umgang mit Ankara und mit der Türkei in den vergangenen Jahren. Und was den Verweis auf Gesetze angeht: Ich habe das gestern mit einem Kollegen aus der türkischen Nationalversammlung von der HDP besprochen, der Jurist ist, und ich kann Ihnen ja mal sagen, was er mir gesagt hat. Er sagte: Na ja, Recht und Gesetz im Zusammenhang mit Erdogan zu zitieren, das haben wir schon längst aufgegeben. Recht und Gesetz ist für Erdogan etwas, was er benutzt, wie es ihm gerade passt. Das gilt leider auch für diesen Punkt.
    Heinemann: Was heißt das für die Bundesregierung?
    Özdemir: Das heißt für die Bundesregierung, dass sie deutlich machen muss, ihr müsst euch an unsere Gesetze halten. Aber es wäre auch nicht schlecht, wenn ihr euch an eure eigenen Gesetze haltet.
    Deniz Yücel endlich freilassen als Geste guten Willens
    Heinemann: Was heißt das für die Einreise?
    Özdemir: Das heißt, wenn die hier in der Bundesrepublik Deutschland sich mit türkischen Organisationen treffen wollen, dann können wir ihnen das ja nicht verbieten. Ich würde das auch nicht machen, damit sie sich nicht als Märtyrer in der Türkei aufbauen können und das dann möglicherweise ihnen noch nutzt beim Referendum. Ich würde aber immer darauf bestehen, ihr müsst euch an unsere und an eure Gesetze halten, und vielleicht wäre es ja auch mal nicht schlecht, wenn die Bundesregierung sagt, wir erwarten aber auch eine Geste des guten Willens. Eine Geste des guten Willens könnte beispielsweise darin bestehen, dass Deniz Yücel, Journalist einer deutschen Tageszeitung, endlich freigelassen wird. Alles andere ist doch eine Frechheit.
    Heinemann: Cem Özdemir, danke schön für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    [*] Anm. d. Red.: An dieser Stelle hat Cem Özdemir recht: Der Beitrag unserer Korrespondentin endete mit dem Satz: "Nur eines wollen die Grünen um keinen Preis: noch einmal fünf Jahre Opposition gegen eine Große Koalition." Hier muss es selbstverständlich "vier Jahre Opposition" heißen.