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"Wahlrecht muss vom Grundsatz her verständlich sein"

Das Verfassungsgericht wird die 2011 von Schwarz-Gelb beschlossene Wahlrechtsreform aufheben, ist Dieter Wiefelspütz (SPD) überzeugt. Die Regelung könne bei einem knappen Ergebniss einen Wahlsieger zum Wahlverlierer machen - Ziel müsse eine Regelung sein, die diese Verzerrungen nicht enthält.

Das Gespräch führte Mario Dobovisek | 25.07.2012
    Mario Dobovisek: Bei der Bundestagswahl darf jeder Wahlberechtigte zwei Kreuze machen: eines als Erststimme für den Direktkandidaten seines Wahlkreises und ein weiteres als Zweitstimme für die Listen der Partei. Die einen machen schon seit Jahrzehnten ihre beiden Kreuze bei ein und derselben Partei, andere dagegen wählen jedes Mal aufs neue, splitten gar ihre Stimmen. Das führt dazu, dass eine Partei durchaus mehr Direktkandidaten in den Bundestag schickt, als ihr Sitze über die Listen zustünden, denn die direkt gewählten Kandidaten dürfen trotzdem ins Parlament einziehen, sie erhalten ein Überhangmandat, und die eigentlich festgelegte Zahl von 598 Bundestagsabgeordneten, sie steigt. Im Moment zum Beispiel sitzen 22 Abgeordnete mehr im Reichstagsgebäude.
    So weit, so gut. Doch jetzt wird es wirklich kompliziert. Aus einem theoretischen Rechenbeispiel wurde bei der Bundestagswahl vor sieben Jahren eine Art demokratischer Störfall, denn als in Dresden nachgewählt werden musste, führten weniger Zweitstimmen seltsamerweise zu mehr Sitzen an anderer Stelle, zum sogenannten negativen Stimmgewicht. Rechnerisch wären bei mehr Stimmen auch weniger Mandate möglich, der Wählerwille würde damit ins krasse Gegenteil verkehrt, sagten auch die Verfassungsrichter in Karlsruhe. Ein neues Wahlrecht musste also her, doch auch die von der schwarz-gelben Bundesregierung im vergangenen Jahr verabschiedete Reform steht in der Kritik. Heute ergeht das neue Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
    Eigentlich waren wir an dieser Stelle jetzt verabredet mit dem SPD-Politiker und Kläger Thomas Oppermann von der SPD, der hat uns leider kurzfristig abgesagt. Umso glücklicher sind wir, dass wir den innenpolitischen Experten der SPD im Bundestag erreichen. Guten Morgen, Dieter Wiefelspütz.

    Dieter Wiefelspütz: Guten Morgen.

    Dobovisek: Wäre das nordrhein-westfälische Modell mit Überhang- und Ausgleichsmandaten und damit einem aufgeblähten Parlament eine Alternative auch für den Bundestag?

    Wiefelspütz: Ja, das wäre eine der denkbaren Alternativen, und zwar deshalb, weil es eben halt nicht zu diesen möglichen Verzerrungen kommt, dass ein Wahlverlierer unter Umständen ein Wahlsieger sein kann. Das ist in der Demokratie nicht zulässig und dann hätten wir ein Riesen-Legitimationsproblem. Und deswegen, glaube ich, ist heute ein wichtiger Tag, weil wir eine endgültige Entscheidung über das Wahlrecht bekommen. Das ist für alle sehr wichtig.

    Dobovisek: Wenn wir uns das mal genauer anschauen, was in Nordrhein-Westfalen passiert ist, 25 Prozent mehr Abgeordnete sitzen im Parlament, wenn wir das mal weiterrechnen für den Bundestag und da mal ein Drittel mehr drinsäße, kämen wir plötzlich auf 700, 800, vielleicht sogar 900 Abgeordnete. Wie wäre das zu schaffen?

    Wiefelspütz: Das kann ich mir nicht wirklich wünschen. Ich denke, das ist auch nicht das Ziel. Die Möglichkeit, bei den jetzigen Problemen eine Lösung zu finden, sind Ausgleichsmandate, aber unser Plan von der SPD sah vor, dass Wahlkreise vergrößert werden und dadurch würde die Wahrscheinlichkeit, dass Überhangmandate entstehen, verringert werden. Das wiederum hat zur Folge, dass Ausgleichsmandate nicht so oft anfallen können. Also das würde man alles in den Griff kriegen können, da will ich jetzt gar nicht so sehr in die Details einsteigen. Das Grundproblem ist, dass das jetzige Wahlrecht für den Bundestag von der Koalition aus CDU/CSU und FDP alleine nach ihren Interessen gestaltet worden ist. Das geht so nicht und deswegen bin ich auch davon überzeugt, dass das Gericht in Karlsruhe dieses Wahlrecht aufheben wird.

    Dobovisek: Die Bundesregierung erhält allerdings verhaltene Zustimmung auch aus der Wissenschaft, etwa vom Berliner Staatsrechtler Christoph Möllers, der ja für Sie, also die SPD, sogar als Gutachter in der Sache tätig ist. Trotzdem sagt er:

    O-Ton Christoph Möllers: "Ich denke, es ist durchaus politisch nicht dumm, dass die Regierungsmehrheit jetzt einen sozusagen kleinen Entwurf macht, der in gewisser Weise den Bedenken des Bundesverfassungsgerichts Rechnung trägt, wohl wissend, dass damit das Kernproblem so nicht gelöst werden kann. Es ist sozusagen auch ein Angebot, wenn man so will sogar ein gesichtswahrendes Angebot an alle Akteure."

    Dobovisek: Warum jagen Sie dennoch als SPD der Utopie eines perfekten Wahlrechts nach, wenn das, so die Wissenschaft, kaum möglich ist?

    Wiefelspütz: Ich kenne Herrn Möllers sehr gut. Herr Möllers räumt auch selber mit seinem kleinen Beitrag ein, dass das Wahlrecht nicht in Ordnung ist und dass es bestenfalls eine Vorlage ist für das Bundesverfassungsgericht, sozusagen endgültig etwas Vernünftiges dem Gesetzgeber vorzugeben. Ich würde Ihnen insoweit recht geben wollen, ein absolutes perfektes Wahlrecht gibt es nicht. Unser Wahlrecht ist auch gar nicht schlecht. Wir von der SPD sind der Auffassung, dass unser Wahlrecht zu 98 Prozent sehr, sehr gut ist. Es geht um die letzten zwei Prozent, und da sind einfach Dinge drin, die so nicht in Ordnung sind. Eine Wahl kann auch sehr eng ausgehen, sehr eng, und dann geht es eben halt um ein, zwei Prozent, um genau diesen entscheidenden Punkt, und daran kann doch wirklich niemand Interesse dran haben, dass nach einer Wahl, wenn das Volk gesprochen hat, hinterher Streit darüber entsteht, wer denn eigentlich die Wahl gewonnen hat. Da geht es doch um eine ganze Menge, denn Wahlrecht ist nichts anderes als die Spielregel für Politik, und insoweit ist das sozusagen das Fundament, auf dem wir Demokratie machen. Deswegen kann man das nicht einfach so locker vom Hocker gering achten, oder sagen, na gut, im Überwiegenden ist das ja in Ordnung. Nein, es geht darum, dass es eng ausgehen kann und auf einmal wir einen Wahlsieger haben, der eigentlich der Wahlverlierer ist.

    Dobovisek: Als Anfang Juni vor dem Bundesverfassungsgericht die schwarz-gelbe Wahlrechtsreform verhandelt wurde, da bekam die Richterin Gertrude Lübbe-Wolff einen Lachanfall. Es ging um sehr theoretische, höchst mathematische Verhältnisrechnungen. Können Sie nachvollziehen, Herr Wiefelspütz, dass dem Wähler selbst ob dieser Kompliziertheit längst das Lachen im Halse stecken bleibt?

    Wiefelspütz: Also ich schätze Frau Lübbe-Wolff sehr, das kann ja mal passieren, das ist ja alles sehr, sehr menschlich. Aber eins ist sicherlich völlig klar: Mathematik-Kenntnisse auf der Qualitätsebene, ich sage mal, eines Abiturienten reichen nicht, um Spezialitäten unseres bundesdeutschen Wahlrechtes auf der Bundesebene zu verstehen.

    Dobovisek: Aber das zeigt uns doch, dass das Wahlrecht so, wie es bisher besteht, grundsätzlich infrage gestellt werden müsste.

    Wiefelspütz: So weit würde ich nicht gehen. Aber diese Subsidiarität ...

    Dobovisek: Aber Sie wollen den Wähler schon noch mitnehmen, Herr Wiefelspütz?

    Wiefelspütz: Die Subsiditäten sind schon ein Riesenproblem. Wahlrecht muss vom Grundsatz her verständlich sein, und wenn es so kompliziert ist, dass es ein normaler Bürger nicht versteht, es sei denn, er hat Mathematik-Kenntnisse kurz vorm Nobelpreis, oder so etwas, dann haben wir ein Problem, und auch dies muss geregelt werden.

    Dobovisek: Aber wie wollen Sie dieses Problem lösen, weil das wird sich mit keiner Reform auf dem basierenden Wahlrecht ändern?

    Wiefelspütz: Was Sie so alles wissen! – Also ich würde ja nicht behaupten wollen, dass wir jetzt den Stein des Weisen als SPD jetzt gefunden hätten. Wir haben einen ganz vernünftigen Entwurf vorgelegt, wie ich finde. Der muss auch nicht in dem letzten Komma perfekt sein, aber er muss negatives Stimmgewicht lösen und er muss das Problem mit den Überhangmandaten lösen. Dazu gibt es nicht nur eine Lösungsmöglichkeit, sondern verschiedenste, und da hoffe ich heute auf einen sehr klugen Spruch des Bundesverfassungsgerichtes. Dann werden wir uns endlich gemeinsam zusammensetzen müssen und nicht nur eine Mehrheit im Parlament, eine knappe Mehrheit, und dann werden wir ein vernünftiges Wahlrecht machen müssen, das diese Verzerrungen nicht enthält. Ich kann nur sagen, das ist für eine lebendige Demokratie von überragender Bedeutung. Bedenken Sie bitte: wir haben immer mehr Parteien im Bundestag. Das ist der tiefere Grund dafür, dass Überhangmandate potenziell häufiger entstehen in der Zukunft, und da müssen wir ran. Wir brauchen ein Wahlrecht, das jedenfalls nicht hundert Prozent perfekt ist, aber so gut, dass wir in den nächsten 15, 20 Jahren auf diesem Sektor keine Probleme haben, und dann wird man eines Tages wieder erneut darüber nachdenken müssen. Das ist die große Aufgabe, die ist lösbar, die sollten wir aber im Parlament gemeinsam lösen und nicht mit einer knappen Mehrheit aus einer aktuellen Mehrheitssituation, die im Bundestag besteht.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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