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Waigel

Münchenberg: Herr Waigel, Sie standen ja selber lange als Finanzminister im Rampenlicht der Öffentlichkeit, genau von 1989 bis 1998. Dann kam bekanntlich Rot-Grün an die Macht, und seither ist es ja um den ehemaligen Finanzminister doch ein bisschen ruhiger geworden. Sie treten nicht mehr so häufig auf im Bundestag; jetzt auch bei der großen Konjunkturdebatte am Donnerstag im Bundestag haben Sie nicht mehr geredet. Juckt es Sie nicht mehr in den Fingern - jetzt gerade in dieser wirtschaftlich schwierigen Lage der Bundesregierung - ihr zumindest verbal die Leviten zu lesen?

Jörg Münchenberg |
    Waigel: Das habe ich getan bei der Debatte über den Euro: dass ich es mir nie hätte vorstellen können, Schlusslicht beim Wachstum zu sein, wieder nahe an die drei Prozent Staatsdefizit heranzukommen. Nur, ich halte es für richtig, nicht mehr in jeder Debatte aufzutreten. Das hätte ich tun können, wenn ich nach der verlorenen Bundestagswahl an die Spitze der Landesgruppe gegangen wäre. Aber ich war der Meinung, alles hat seine Zeit. Und jetzt soll man einer jüngeren Generation die Chance geben. Wir haben unsere Chancen genutzt, als wir 30, 40 und Anfang 50 waren. Ich bin jetzt 62. Damit ist man nicht alt, aber jetzt sollen die eine Chance haben – die Chance, die wir uns genommen und gewünscht haben, als wir 15 oder 20 Jahre jünger waren.

    Münchenberg: Die Konjunktur lahmt, die Arbeitslosenzahl wird wohl in diesem Winter erstmals die 4-Millionengrenze überschreiten. Dem Kanzler wird Stillstand vorgeworfen, Tatenlosigkeit. Steigen da bei Ihnen nicht manchmal bei diesen Vorwürfen Déjà vue-Erinnerungen hoch an 1998, wo Schwarz-Gelb ja genau auch wegen dieser Vorwürfe abgewählt worden ist?

    Waigel: Ja, man wundert sich manchmal. Ich wundere mich, dass fast alle Prognosen des Bundeskanzlers nicht aufgehen, das bisher aber keine große Rolle gespielt hat - bei Umfragen jedenfalls. Nun will ich der Regierung eines konzedieren: Die Hälfte der Probleme – konjunkturell und auf dem Arbeitsmarkt – geht sicher darauf zurück, dass wir auch heute noch für die deutsche Einheit vieles bewältigen müssen, was unsere Nachbarn und Konkurrenten nicht bewältigen müssen. Aber was ich ihr verüble, ist, die notwendigen Reformen nicht oder zu spät vorangebracht zu haben – Strukturreformen, Steuerreform, Rentenreform, Sozialrechtsreform, am Arbeitsmarkt ist überhaupt nichts geschehen. Und dann noch das, was wir schon durchgesetzt hatten, was unpopulär war, aber richtig, nämlich eine gewisse Reduzierung von Lohnfortzahlung, Verbesserung beim Kündigungsschutz, dass dies noch rückgängig gemacht wurde und wir als einziges Land in Europa noch draufgesattelt haben durch das 630-Mark-Gesetz, durch Scheinselbständigkeit und durch die Mitbestimmung. Damit haben wir uns die Verschärfung der Situation eingekauft. Und wir dürfen nicht bis nach den nächsten Bundestagswahlen warten, sondern es wäre jetzt die höchste Zeit, diese Dinge in Angriff zu nehmen.

    Münchenberg: Herr Waigel, da spricht natürlich jetzt ganz klar auch der Parteipolitiker; jetzt frage ich mal den ehemaligen Kollegen von Herrn Eichel. Sie selber mussten ja den Bundeshaushalt so manches Mal durch turbulente Zeiten bringen. Ich erinnere nur an 1996/97, da ging ja das Stichwort von der ‚kreativen Buchführung‘ durch die Medien. Damals ging es vor allen Dingen darum, die Maastricht-Kriterien zu erfüllen, damit Deutschland auch an der Währungsunion teilnehmen kann. Aber ungeachtet dessen – von diesem Erfahrungshorizont ausgehend: Haben Sie da nicht manchmal heute auch Verständnis für die Notlage, in der sich Hans Eichel derzeit befindet?

    Waigel: Ich habe Verständnis für den Finanzminister, aber er soll nicht hochmütig sein. Und bei Hans Eichel ist in den letzten zwei Jahren manchmal der Hochmut durchgegangen. Da hat er gemeint, er könne alles. Er hätte aber wissen müssen, dass jeder Finanzminister sehr bald in die gleiche Situation kommt. Da kommt ein Konjunktureinbruch – aus welchen Gründen auch immer –, die Zahlen sind plötzlich andere, aber dann soll man nicht manipulieren. Dann hilft nichts anderes als ‚die Hosen runterlassen‘, der Wahrheit ins Auge sehen und den bitteren Weg eines Nachtragshaushalts oder einer Ergänzung des Haushalts zu machen. Ich halte es für unverantwortlich, für das nächste Jahr 1,25 Prozent Wachstum zugrunde zu legen, obwohl jetzt schon fast alle Sachverständigen in Deutschland, aber vor allen Dingen Brüssel und der Internationale Währungsfonds sagen: ‚Ihr müsst froh sein, wenn Ihr 0,5 bis 0,7 Prozent erreicht‘. Er hofft jetzt, über die Bundestagswahl hinwegzukommen. Das kann ihn aber früher einholen. Oder wenn die Steuerschätzung anders kommt - da habe ich viel Mitgefühl mit Hans Eichel, ich habe das auch erlebt. Plötzlich sagen einem die Sachverständigen der Steuerschätzung: So und so viel Milliarden weniger. Bei der Steuerschätzung sind dabei das IFO-Institut, die Bundesbank, der Sachverständigenrat, die Länder, die Kommunen, lauter gescheite Leute. Aber wenn eine Änderung kommt, dann bleibt allein der Bundesfinanzminister. Ich habe noch nie jemanden von diesen Prognostikern erlebt, der gesagt hätte danach: ‚Wir haben uns geirrt und deswegen dem Bund falsche Zahlen geliefert‘.

    Münchenberg: Nun wird ja seitens der Opposition aber auch seitens mancher Wirtschaftsforschungsinstitute gefordert, zumindest einen Teil der Steuerreform vorzuziehen, also von 2003 auf 2002. Eichel hat das bislang immer zurückgewiesen mit dem Verweis auf die exorbitant hohen Staatsschulden. Müsste diese Haltung Ihnen eigentlich nicht aus dem Herzen sprechen?

    Waigel: Wenn er sagt: ‚Ich erhöhe die Schulden nicht, um die Steuern zu senken‘, ist das an sich richtig. Aber es gibt auch einen anderen Weg, aber der ist natürlich schwierig – nämlich Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, Vereinfachung des Steuerrechts, weg mit Subventitionstatbeständen im Steuerrecht und Wegfall von Ausnahmetatbeständen...

    Münchenberg: Aber nun wissen Sie aus eigener Erfahrung, wie schwierig es ist. Es heißt dann immer, Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, da . . .

    Waigel: . . . ja, aber ich habe mich vor den Schwierigkeiten nicht gedrückt, ich habe das 1997 in den Petersberger Vorschlägen vorgeschlagen, ich habe mich hingestellt, ich habe die Prügel dafür bezogen. Bestimmte Ausnahmetatbestände gehören nicht in die Landschaft, das wäre der Weg, um Steuersenkungen – Steuersatzsenkungen – zu finanzieren mit einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage. Und genau das tut er nicht.

    Münchenberg: Staatsverschuldung ist ein großes Problem, und damit zusammenhängend kommt dann auch sehr schnell der Stabilitätspakt ins Spiel, dessen Vater Sie zweifelsohne sind. Und der Stabilitätspakt besagt ja, die Staatsverschuldung darf nicht höher sein als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Würde man . . .

    Waigel: . . . das waren die Kriterien von Maastricht, der Stabilitätspakt sagt mehr. Der sagt nämlich: Es darf auch nicht das dauerhafte Ziel sein, nur so knapp unter die drei Prozent zu kommen . . .

    Münchenberg: . . . gut. Nur würden manche Vorschläge der Union, aber auch der FDP umgesetzt, dann würde das dazu führen, dass Deutschland diese Kriterien sehr schnell verletzen würde. Nimmt denn die Union den Pakt ernst genug?

    Waigel: Wir nehmen ihn sehr erst. Es gibt niemanden bei uns, der den Pakt in Frage stellt. Wenn es jemand täte, würde er mich sofort als Gegner auf den Plan hervorrufen. Ich würde das nicht akzeptieren.

    Münchenberg: Nun will ja der Finanzminister bekanntlich bis 2006 einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen, sprich die Neuverschuldung auf null drücken. Halten Sie denn diesen Zeitplan für realistisch angesichts der Haushaltsrisiken, angesichts der Tatsache, dass wir auch im nächsten Jahr, wenn es denn klappt, eine Neuverschuldung von immer noch knapp 42 Milliarden Mark haben werden?

    Waigel: Ich halte die grundsätzliche Zielsetzung für richtig, sie entspricht ja auch dem Stabilitätspakt. Und sie ist schon notwendig aus demografischen Erwägungen, weil wir durch das längere Leben und durch die längere Lebenszeit von Renten, Pensionen und vielem mehr – was alles wünschenswert ist und was wir uns selber für uns erwünschen – natürlich auch höhere Kosten der sozialen Sicherungssysteme haben. Darum ist das schon notwendig. Ich würde mich nicht auf ein einzelnes Jahr festlegen, denn wenn man es dann nicht erreicht, dann sind natürlich die Klagen und auch die Vorwürfe groß. Und: Es darf nicht nur abgestellt sein auf den Bund. Was hilft es, wenn der Bund jetzt etwas besser da steht, weil er sich durch die Einnahmen bei den Privatisierungserlösen – vor allem UMTS – saniert hat, damit aber eine Branche vernichtet hat und die Länder und die Kommunen die Abschreibungen über die Steuer mindestens zur Hälfte finanzieren müssen. Solche Kurzschlüsse und Kurzschüsse helfen niemandem. Und darum hat der Bundesfinanzminister natürlich auch die Pflicht für den Gesamtstaat, und da sind wir leider nicht vorangekommen.

    Münchenberg: Die Bundesregierung steht zweifelsohne derzeit unter Druck. Heißt das denn im Umkehrschluss: Die Union ist derzeit willensfähig, die politische Machtwende herbeizuführen?

    Waigel: Jedenfalls, das politische Klima ist so volatil, das heißt so beweglich, so schnell beweglich wie das Klima auf den Finanzmärkten. Früher gab es politische Stimmungen, die langfristig getragen haben. Das ist heute nicht mehr der Fall, heute kippt etwas ganz schnell. Und deswegen sollte der Bundeskanzler sich nicht auf die ruhige Hand verlassen. Ich bin überzeugt, dass der – so wie ich ihn kenne – auch mit dem Gespür für Medien und für Wirksamkeit Anfang des Jahres auch strukturell versucht, etwas auf den Weg zu bringen, weil ihm ja andere Möglichkeiten nicht mehr zur Seite stehen. Und da muss die Opposition gerüstet sein, muss ihre Konzepte, muss ihre Strategien stärker noch an die Öffentlichkeit bringen . . .

    Münchenberg: . . . ist sie fit genug? . . .

    Waigel: . . . ja, die Union hat gute Konzepte erarbeitet, sowohl zur Steuerreform wie zum Arbeitsmarkt, wie zu den sozialen Sicherungssystemen. Und was die internationale Finanzpolitik anbelangt, da sind wir ganz sicher den Vorstellungen der SPD gegenüber überlegen. Und je mehr Zustimmung zum Euro kommt, desto mehr wird man auch wissen, wer das durchgesetzt hat und wer nicht.

    Münchenberg: Nun steht ja die ‚K‘-Frage ganz oben auf der Themenliste der Union, trotz des viel beschworenen Zeitplans, den Kandidaten oder die Kandidatin erst Anfang des Jahres 2002 zu bestimmen. Wie groß ist denn bereits der angerichtete Schaden durch diese anhaltende Debatte?

    Waigel: Da ich diese Dinge seit den 60er Jahren verfolge und seit Anfang der 70er Jahre Mitglied des Präsidiums der CSU gewesen bin, habe ich einen relativ langen Einblick – vielleicht den längsten von den gegenwärtig Agierenden. Und ich muss schon sagen: Sehr viel aus den Fehlern der Vergangenheit haben CDU und CSU nicht gelernt. Den Vorwurf kann ich allen zusammen nicht ersparen. Trotzdem: Ich halte den Zeitplan für richtig, ich würde daran festhalten. Es muss nur jeder der Kandidaten oder Kandidatin wissen, dass er – wie immer die Entscheidung fällt – den anderen danach dringend braucht. Und darum sollte man tunlichst Beschädigungen und Verletzungen vermeiden.

    Münchenberg: Wäre denn ein Bayer mehrheitsfähig als Kanzler in der Bundesrepublik?

    Waigel: Wenn er gewählt wird. Ludwig Ehrhardt war ein Bayer, er hatte allerdings seinen Wahlkreis in Ulm, und er war selbstverständlich mehrheitsfähig. Aber klar ist: Die CSU hat eine klare Kontur, hat ein klares Profil, lebt auch manchmal von der Absetzung gegenüber der CDU. Das steht einem Kanzlerkandidaten, wenn er aus Bayern kommt, danach nicht mehr zur Verfügung, sondern er muss sanft und auf Samtpfoten durch die Unionslandschaft gehen, um alle mitzunehmen. Man kann dann zum Beispiel nicht mehr eine Länderneugliederung verlangen und die Auflösung des Saarlandes, wenn man den saarländischen Ministerpräsidenten dann als Mitstreiter benötigt.

    Münchenberg: Wäre denn Stoiber der aussichtsreichere Kandidat als Frau Merkel?

    Waigel: Das lässt sich nicht nur an den Umfragewerten ablesen. Kohl hatte nie gute Umfragewerte, ganz selten, vielleicht kurz nach der Wiedervereinigung, sondern meistens gab es Unionspolitiker, die die besseren Umfragewerte hatten als er. Und trotzdem ist niemand auf die Idee gekommen, ihn durch jemand anderen auszutauschen.

    Münchenberg: Lange Zeit hat der bayerische Ministerpräsident Stoiber die Einführung des Euro kategorisch abgelehnt und damit Ihnen als damaliger Finanzminister durchaus das Leben schwer gemacht. Fühlen Sie sich denn heute, wenige Tage vor der Euro-Bargeldeinführung bestätigt in Ihrer Hartnäckigkeit?

    Waigel: Ja, da fühle ich mich sehr bestätigt. Und ich habe mir oft in diesen letzten zwölf, dreizehn Jahren überlegt: Ist der Weg richtig? Ich bin da nicht mit geschlossenen Augen durchs Leben gegangen und habe immer wieder überlegt, mit Freunden, mit Sachverständigen die Dinge diskutiert. Und es gab auch mehrfach die schwierige Situation, wo wir überlegten, ob wir das Projekt abbrechen müssten, verschieben könnten und ob wir es durchsetzen könnten. Um so froher bin ich, dass die Kriterien erfüllt worden sind und dass wir in der Lage waren 1998, die wichtigsten Entscheidungen zu treffen, und dass auch heute gesagt werden kann: ‚Ja, die Einführung war ein Erfolg‘. In einer solchen Zeit vergisst man vieles an Ärger, aber man vergisst auch nicht, wer einen besonders unterstützt hat und wer einem auch das Leben schwergemacht hat. Ich sage aber auch ganz ehrlich: Wenn die bayerische Staatsregierung im Bundesrat dagegen gestimmt hätte, wäre ich in der gleichen Sekunde sowohl als Bundesfinanzminister wie als Parteivorsitzender zurückgetreten. Dieses Doppelspiel hätte ich keine Sekunde mitgemacht.

    Münchenberg: Herr Waigel, die Skepsis bei den Bundesbürgern ist trotz Euro-Bargeldeinführung, die kurz bevorsteht, noch immer relativ groß. Ist das nicht doch auch eine schwere Hypothek für diese junge Währung, wenn gerade in der wichtigsten Volkswirtschaft in Europa noch so viel Skepsis vorhanden ist?

    Waigel: Diese Skepsis bestand gegenüber Ludwig Ehrhardt und der Einführung der sozialen Marktwirtschaft, diese Skepsis bestand gegenüber der Wiederbewaffnung und dem Eintritt in die NATO, und doch waren alle diese Entscheidungen unabdingbar notwendig für die Entwicklung der Republik, sowohl ökonomisch wie auch politisch. Insofern: Es ist etwas völlig Neues, es ist ein Jahrhundertereignis: Seit 2000 Jahren zum erstenmal wieder eine europäische Währung. Und da registriere ich: Die Jugend ist begeistert, die mittlere Generation ist aufmerksam und skeptisch, und ein Teil der älteren Generation lehnt das Projekt ab. Ich habe auch viel Verständnis für ein Stück Wehmut und dass man sich an die tollen Zeiten der D-Mark erinnert, das ist legitim. Das ist völlig richtig. Und dennoch ist der Euro die Antwort Deutschlands auf die Globalisierung der Welt, weil wir mit zehn oder fünfzehn verschiedenen Währungen in Europa die Dinge nicht bewältigen könnten und weil uns in den letzten Monaten und drei Jahren die Währungen um die Ohren geflogen wären – bei den Krisen, die wir hatten. Ich denke mit Schaudern an die letzten Währungsturbulenzen 1993 und 1995, wo die Bundesbank viele, viele Milliarden intervenieren musste für eine andere Währung, ohne dass das Erfolg hatte.

    Münchenberg: Trotzdem hat der Euro gegenüber dem Dollar ja immer noch einen schweren Stand, er hat derzeit rund 20 Prozent an Wert verloren. Das ist angesichts der Wettbewerbsvorteile in den USA kaum verwunderlich. Und schaut man sich auch die Reformmüdigkeit in Europa an, könnte es ja durchaus sein, dass sich an dieser Währungskonstellation auch mittelfristig wenig ändert. Hat man da vielleicht nicht auch zu viele Erwartung geweckt – jetzt innerhalb der Bevölkerung zum Beispiel –was den Euro und seine Zukunftsfähigkeit betrifft?

    Waigel: Der Außenwert ist durchaus wichtig, aber viel wichtiger ist der Innenwert, die Kaufkraft. Nur darauf ist die Europäische Zentralbank verpflichtet, auf die Stabilität – nicht auf ein Wechselkursziel. Es hat sich niemand in Deutschland darüber aufgeregt, dass 1984 für 1 Dollar 3,45 DM aufgewendet werden musste. Und es ist auch nicht viel darüber diskutiert worden und ich bin nicht besonders gelobt worden, als im Jahr 1995 für 1 Dollar nur mehr 1,36 Mark bezahlt werden musste. Das heißt, den Deutschen ist eigentlich früher der Außenwert relativ gleichgültig gewesen. Und wenn heute der Euro im Außenwert wesentlich besser liegt als die D-Mark vor 15 Jahren, dann sollte man das ruhig betrachten. Dennoch: Ich nehme es natürlich schon ernst, wenn der Außenwert die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der deutschen und der europäischen Volkswirtschaft symbolisiert. Und es gibt zwei Szenarien in der gegenwärtigen Situation: Entweder, die Amerikaner knüpfen wieder an ihre unglaubliche Dynamik Anfang der 90er an, kommen schnell aus der Krise raus, wofür Zinssenkungen, Steuererleichterungen und ein Konjunkturprogramm den Weg weisen könnten - und Europa tut nichts, dann bleibt der Dollar stark und der Euro eher schwächer. Oder Europa besinnt sich seiner Kräfte, macht die Strukturreformen, geht bei der Konsolidierung weiter voran, dann hat der Euro ein echtes Potential – ein echtes Aufwertungspotential – und würde damit ganz sicher zur zweiten großen Weltreserve-Währung. Mir sagte jedenfalls Alan Greenspan vor wenigen Tagen: ‚Ich war früher skeptisch, aber jetzt stimme ich all den positiven Beurteilungen von Dir zu und ich bin froh, dass es den Euro gibt‘. Dass es möglich war, am Montag, den 17. September, nur wenige Tage nach der Katastrophe vom 11. September, an einem Montagmorgen zwischen Greenspan und Duisenberg eine konzertierte Aktion zu machen - mit Zinssenkungen und Liquiditätszurverfügungstellung und damit die Märkte zu beruhigen -, ist ein Ereignis, das ohne den Euro nicht möglich gewesen wäre.

    Münchenberg: Sie haben schon mal die Inflationsrate angesprochen; die befindet sich ja derzeit auf dem Rückgang, weil die Energiepreise sehr stark gesunken sind. Eröffnet das Ihrer Einschätzung nach auch der Europäischen Zentralbank den Spielraum für weitere Zinssenkungen, um zum Beispiel die lahmende Konjunktur nach vorne zu puschen?

    Waigel: Die EZB verfolgt zwei Ziele: einmal das Geldmengenziel und zum anderen das Inflationsziel. Beides berücksichtigt sie, wenn sie ihre Entscheidungen trifft. Nun hat sie nicht - wie die Federal Reserve - auch noch die unmittelbare Aufgabe der Konjunkturpolitik, aber sie betrachtet natürlich auf mittelfristige Sicht auch die Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung. Nun habe ich aus gutem Grund in der Vergangenheit der EZB keinen Ratschlag gegeben, und wenn ich mir Zinssenkungen erhofft habe, habe ich nie die Bundesbank öffentlich dazu aufgefordert. Insofern rate ich den Politikern: Lasst die EZB in Ruhe. Je mehr sie in Ruhe souverän entscheidet, je größer ist die Chance unter Anbetracht aller Gesichtspunkte, auch nochmal etwas für die Konjunktur zu tun.

    Münchenberg: Die amerikanische Zentralbank hat ja insgesamt in diesem Jahr zumindest bislang elf mal die Zinsen gesenkt, um die Konjunktur zu stützen. Was halten Sie denn grundsätzlich von einem geldpolitisch motivierten Konjunkturaufschwung? Der wird ja auch durchaus sehr kritisch gesehen von Fachleuten.

    Waigel: Ja, man muss Acht geben, dass man nicht in eine Zinsfalle gerät. Irgendwo stößt man an die Grenzen der Wirksamkeit, das zeigt ja auch das Beispiel Japan, wo mit Null-Zinsen oder Minuszinsen ebenfalls nichts mehr bewegt worden ist. Insofern muss der Druck da sein in Europa auf Strukturreformen. Die Strukturreformen sind es, die uns noch am meisten behindern. Da hat Europa einen Nachholbedarf – und leider auch Deutschland.

    Münchenberg: Herr Waigel, Sie haben ja nicht nur den Euro auf den Weg gebracht, Sie sind ja auch sein Namensgeber. Und vor einigen Tagen habe ich im Bundestag gelernt, dass Sie auch den Füller, mit dem damals die Maastrichtverträge unterzeichnet worden sind, dass Sie den eingesteckt haben. War denn diese Unterzeichnung der Maastrichtverträge – jetzt im Rückblick – mit eine Ihrer wichtigsten Amtshandlungen?

    Waigel: Ja, das war es ganz sicher. Und mir ist das besonders deutlich geworden, als ich am Abend heim kam in meine Heimat, Oberrohr in Mittelschwaben. Da war damals mein Sohn extra nach Hause gekommen und sagte zu mir: ‚Ich bin heute bewusst da, damit Du nicht allein bist. Ich wollte Dir mal sagen, wie großartig dieses Projekt für eine junge Generation ist‘. Und wenn ich mir überlege – das Leben meines Vaters, 1895 geboren, den Ersten Weltkrieg gegen Frankreich mitgemacht, im Zweiten wieder eingezogen –, mein Bruder mit 18 Jahren in Lothringen gefallen –, und meine Kinder, die studieren in Frankreich und in London, in Israel und in der Vergangenheit in den Vereinigten Staaten: Was hat sich da geändert! Und insofern glaube ich schon, dass das eine unglaublich positive Entwicklung ist und dass Maastricht wirklich einen Paradigmenwechsel der Politik – einer positiven Politik – herbeigeführt hat.

    Münchenberg: Nun ist das Ihre letzte Legislaturperiode im Bundestag, dem Sie – glaube ich – seit 1972 angehören. Ein schwerer Abschied?

    Waigel: Ein ganz normaler Abschied, ein selbst gewählter Abschied, ein Abschied, den ich also körperlich und geistig bei vollem Verstand mache. Wo ich noch selber gehen möchte zu einem Zeitpunkt, wo noch viele im Wahlkreis und vielleicht auch hier in Berlin sagen: ‚Es ist eigentlich schade, dass er geht‘. Ich möchte nicht eine Situation erleben, dass – wenn ich durch den Bundestag, durch den Reichstag gehe - alle vor einem flüchten, weil sie von den Erzählungen des ‚Alten‘ nichts mehr wissen wollen und nur noch die Ober stehenbleiben, um Bestellungen entgegenzunehmen.