Donnerstag, 02. Mai 2024

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Walentin Silvestrow - Orchesterwerke

* Musikbeispiel: Walentin Silvestrow - aus: Postludium. Sinfonisches Gedicht für Klavier und Orchester Guten Morgen, diese Musik, die seit der letzten Woche auf dem Schallplattenmarkt in Deutschland erhältlich ist, hat etwas Nostalgisches, etwas auf Vergangenes Verweisendes, wie kaum eine andere Musik. Nicht dass es an nostalgischen Musikarten mangelte. Im Gegenteil. Es gibt heute im späten Postmodernismus sozusagen alle nur irgend denkbaren Neo-Tendenzen in der Musik, Neo-Mittelalter, Neo-Renaissance, Neo-Barock, Neo-Klassik, Neo-Romantik, mit der alle Neo-Stilisierungen im Zusammenhang der neuen Musik Mitte der siebziger Jahre ihren Anfang nahmen, Neo-Impressionismus und Neo-Expressionismus und schließlich als ein quasi illegitimer Balg der Postmoderne die Neo-Moderne. In dieses Raster ließe sich die angespielte Musik, der Schluss einer gut viertelstündigen Komposition, irgendwo zwischen Neo-Romantik und Neo-Impressionismus einordnen. Vielleicht lässt sich das Spezifische dieser Musik an Hand eines zweiten Beispiels leichter beschreiben. * Musikbeispiel: Walentin Silvestrow - aus: Exegi monumentum Der Schluss eines anderen Stücks des gleichen Komponisten drei Jahre später abgeschlossen zeigt ein sehr ähnliches fließendes Bild von nicht enden wollenden melodischen Partikeln, Varianten des immer gleichen Materials in einer fast traumhaften Klangsensibilität angeordnet und wiedergegeben. Nun, es ist natürlich ungewöhnlich, in die Musik eines weithin unbekannten Komponisten mit den Schlussbildungen zweier seiner Stücke einzuführen. In diesem Fall aber ist es höchst charakteristisch für das ganze Werk dieses Komponisten. Der Komponist erläutert seine Konzeption in einer Sprache von Metaphern so: "Der Text eines Verfassers wird in eine ununterbrochen klingende Welt eingetragen. Deshalb glaube ich, dass im entwickelten künstlerischen Bewusstsein immer weniger Texte möglich werden, die bildlich gesprochen 'von vorne' anfangen. Die Form ist offen, aber nicht am Ende, wie es üblich ist, sondern am Anfang. Im Grunde genommen ist die Epiloghaftigkeit für mein Verständnis ein bestimmter Zustand der Kultur. Deshalb verspürte ich statt eines Bedürfnisses nach Formen des Musikdramas zum Beispiel, die sozusagen das Leben widerspiegeln, das Bedürfnis nach einem Kommentar zum Leben, zur Musik. In der Tat bedeutet das nicht das Ende der Musik als Kunst, sondern das Ende der Musik, in welchem sie sich lange aufhalten kann. Gerade im Bereich der Coda ist ein gigantisches Leben möglich ..." Soweit der Komponist. Epiloghaftigkeit, das Ende der Musik, in der sich die Kunst lange aufhalten kann, ein gigantisches Leben im Bereich der Coda, zwar dürfen solche Metaphern deswegen nicht allzu genau genommen werden, weil sie sich einer Übersetzung und zwar einer Übersetzung aus dem Ukrainischen verdanken. Aber auch einige der Musiktitel dieses ukrainischen Komponisten aus Kiew wie "Postludium" oder "Postsinfonia" umkreisen einen sehr ähnlichen Bedeutungshorizont. Wie aber beginnen derartige "Postmusiken"? Hier nun der Beginn des "Postludiums" für Klavier und Orchester mit dem Untertitel "Sinfonisches Gedicht" des ukrainischen Komponisten Walentin Silvestrow aus dem Jahr 1984: * Musikbeispiel: Walentin Silvestrow - aus: Postludium. Sinfonisches Gedicht für Klavier und Orchester Ausgangspunkt der postludischen Kompositionen von Silvestrow ist also zumeist ein akzentuierter Akkord, eine Setzung, der Anfang von einer schier unendlichen Folge von manchmal durch die Instrumentation mit Holzbläsern, Streichern, Harfe oder Soloklavier geradezu idyllisch wirkender Schlussbildungen. Nur sehr selten kommt es über eine Phase zu einer manchmal wagnerartigen sequenzierenden Steigerung des Gesamtklangs, von dessen Höhepunkt, dessen wesentlich vergrößerter Fallhöhe aus die Strecke der Zurücknahmen nur um so länger, vielfältiger und variantenreicher gerät. Diese Musik in einem, wie Silvestrow das nennt, "metaphorischen Stil im Geiste des neuen Traditionalismus und der Neo-Romantik" ist im Bereich der Länder der früheren Sowjetunion singulär. Sie ist natürlich - anders als das zum Beispiel im "New Grove Dictionary of Music and Musicians" bezeichnet wurde, gerade nicht "sowjetische" Musik, widersetzte sich schon mit seinen ersten öffentlich aufgeführten Stücken seit Anfang der sechziger Jahre jeder dezidierteren Vorstellung von sozialistisch-realistischer Musik und damit auch jeder neoromantisch-heroischen Vorstellung einer Dramaturgie "durch Nacht zum Licht", durch Kampf zum Sieg. Anders als die meisten seiner etwa gleichaltrigen Komponistenkollegen in Moskau, Leningrad/Petersburg, Tibilissi, Baku, Vilnius, Riga und Tallinn ist Silvestrows Musik nicht religiös. Die künstlichen Paradiese, die Silvestrow gegenüber der grauen Sowjet-Realität in seiner Musik ausmalt, versichern sich keinen religiösen Vorstellungen, sondern ausschließlich musikimmanenten. Nachtragen möchte ich noch ein Minimum an biographischen Daten: Walentin Silvestrow ist 1937 in Kiew geboren. Mit Musik in Form von Klavierunterricht kam er erst im Alter von fünfzehn Jahren in Berührung, erst bei einem privat unterrichtenden Klavierlehrer, dann in einer Abendschule für Musik. Nach dem Schulabschluss studierte er zunächst am Institut für Bauingenieurwesen, erst drei Jahre später nahm er ein Studium der Komposition bei Boris Ljatoschinski am Konservatorium in Kiew auf. In seiner Studienzeit komponierte Silvestrow viele sehr unterschiedliche Stücke, unterrichtete danach an verschiedenen Kiewer Musikschulen und lebt seit 1970 als freier Komponist vergleichsweise isoliert in seiner Heimatstadt. Gelegentlich hat er sich mit Hilfe eines Stipendiums außerhalb der Ukraine aufgehalten, so Ende der achtziger Jahre mit Hilfe der Belaieff-Stiftung im Frankfurter Raum und im letzten Jahr als Gast des Berliner Künstlerprogramms der Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin. Mit den wenigen Aufführungen seiner Musik in Deutschland war er nach der Uraufführung von "Mysterium" für Altflöte und sechs Schlagzeuger von 1964 mit Severino Gazzelloni in Köln bei Aufführungen beim Schostakowitsch-Festival in Duisburg und bei der Musik-Biennale Berlin in den achtziger und in den neunziger Jahren unzufrieden. Zu der Haltung einer klangsensibilistischen Perfektion gehört es gleichwohl mit den einzelnen Aufführungen nie ganz zufrieden zu sein. So wird es womöglich auch den Aufnahmen der beiden Compactdiscs beim SPACE-Label der Deutsche Schallplatten Berlin mit Orchestermusik von Silvestrow ergehen, die vom Philharmonischen Orchester des Ural in Jekaterinenburg unter Andrej Borejko und dem mit Silvestrows Musik wohl vertrauten Moskauer Pianisten Iwan Sokolow 1992 aufgenommen worden sind. Der Solist der Sinfonie "Exegi monumentum" für Bariton und Orchester von 1987, aus der das zweite Beispiel stammt, ist Sergej Jakowenko. Die Platten enthalten außerdem die Vierte Sinfonie von 1976 und die Fünfte Sinfonie von 1982, die Silvestrow als "Post-Sinfonie" bezeichnet, und das frühe Stück mit dem Titel "Monodia" für Klavier und Orchester von 1965, das einen ganz anderen Ansatz zeigt. Hier gibt es Zwölftonigkeit, Atonalität, Aleatorik auch Geräusch- und Klanggeräuschkomposition zumeist mit der Vorstellung von klingenden Landschaftsbildern verbunden und eine Art dramaturgischer Anordnung der klanglichen Ereignisse. Die Platten enthalten, wenn auch extrem klein gedruckte, aufschlussreiche unter der Mitwirkung des Komponisten entstandene Einführungen von Tatjana Frumkis. Hinweisen möchte ich schließlich für die an dieser Musik interessierten Hörer auf ein Compactdisc mit den drei Klaviersonaten und der Sonate für Violoncello und Klavier, die 1992 bei ERATO erschienen ist und auf das hier schwerer zugängliche belgische Label Megadisc, das gleich eine ganze Reihe von Komponistenplatten aus der früheren Sowjetunion herausgegeben hat, darunter vier Platten mit Musik von Walentin Silvestrow. Zum Abschluss hier als ein Beispiel aus der frühen, wenn man so will modernen Phase der Musik von Walentin Silvestrow, ein Ausschnitt aus der schon erwähnten "Monodia" für Klavier und Orchester von 1965 mit Iwan Sokolow und dem Philharmonischen Orchesters des Ural aus Jekaterinenburg unter Andrej Borejko. Vielen Dank fürs Zuhören. Guten Morgen: * Musikbeispiel: Walentin Silvestrow - Monodia

Reinhard Oehlschlägel | 21.04.2000