Archiv

Walerjan Pidmohylnyj: „Die Stadt“
Kiew, mon amour

Sodom und Gomorrha – so erlebt der junge Stepan anfangs das Kiew der Zwanzigerjahre mit seinen Menschenmassen, den Kinos, Autos und Verlockungen. Doch dann verfällt er selbst der Großstadt und ihren Frauen. Wundersam vollzieht sich sein Aufstieg vom Dorfmenschen zu einem Jungstar der ukrainischen Literatur. Ganz wie beim Autor Walerjan Pidmohylnyj.

Von Christoph Haacker |
Walerjan Pidmohylnyj und sein Roman „Die Stadt“ von 1928
Der Schlüsselroman "Die Stadt" von Walerjan Pidmohylnyj entführt uns an der Seite eines jungen Autors in das prosperierende Kiew von 1928. Heute stoßen russische Truppen auf dem selben Weg in die ukrainische Metropole vor. (Guggolz Verlag)
Schon sein markanter Titel, im Original ein einziges Wort, nennt die Bühne für den berühmtesten Roman der ukrainischen Moderne: „Misto“. Die Stadt. Und die Großstadt, das Kiew um das Jahr 1925, wird zu einer bestimmenden Kraft, die die Figuren zu steuern scheint, sie verändert und verschlingt, sie anzieht und abstößt.

Expedition in die Großstadt

Es sind drei Dörfler, die mit dem Dampfer den Fluss Dnipro heraufschippern, der Metropole entgegen wie einem anderen Stern, bang und voller Hoffnungen. Unter ihnen ist der 25jährige Stepan. Die neue Welt wird mit seinen Augen gesehen, und diese Augen machen schon unterwegs erste Entdeckungen: Frauen. Sie werden, neben dem Urbanen, zu einem Hauptthema des Romans. Kiew befindet sich, wie sein neuer Bewohner, auf der Suche nach sich selbst. Erst 1919 war es dem sowjetischen Machtbereich einverleibt worden. Hier kommt Stepans Mission ins Spiel: Er ist beseelt, am sozialistischen Aufbau mitzuwirken, und die Städter, eine ihm unbekannte Spezies, zu neuen Menschen zu formen. Doch schon auf dem Weg vom Hafen sinkt ihm das Herz in die Hose.
„Würde er hier scheitern und dann als Bettler zurückkehren? Warum diese kindlichen Träume von der Hochschule und von Kyjiw?“
Als hartnäckiger Autodidakt hat Stepan jedoch spielend Erfolg an der Universität, wird zum Lehrer für Ukrainisch. Denn dieses ist den Menschen vertraut-unvertraut. Als Literatursprache steht es, lange unterdrückt, nun vor dem Durchbruch, gemäß dem Programm zur Entfaltung der multinationalen Sowjetliteraturen. Selbstironisch empfindet sich Stepan als ein „Ritter der Ukrainisierung“.
„Klar und sicher leitete er die Zuhörer, wie Dante seinen Vergil, durch die immer enger werdenden Höllenkreise, ins Zentrum, wo der Beelzebub höchst persönlich saß: die ukrainische Sprache.“

Selbstreflexiv erzählt der Roman über das Schreiben

Aus dieser Tätigkeit – aber auch schierer Geldnot – erwächst Stepans Genese als ein ukrainischer Schriftsteller. Zu seinem Debüt wird eine Erzählung aus den Bürgerkriegswirren. Sie ist als Binnenerzählung in den Roman integriert; auch die Geschichte seiner ersten Geliebten, fast zwanzig Jahre älter, wird zu einer Art Text im Text. Stepan verdient seinen Lebensunterhalt bald als Drehbuchschreiber, was sich in Exkursen über den modernen Film und das junge antirealistische Theater niederschlägt. Er wird im Staatsverlag tätig und erlebt den Literaturbetrieb, der durch den Kakao gezogen wird.
Der Roman wird zunehmend zum Reflexionsraum darüber, wie man schreiben soll – und worüber. Stepan stellt seine eigenen vielgelobten Erzählungen in Frage:
„Nirgends auf den über hundert Seiten konnte er einen echten Menschen entdecken. Tot schienen diese Erzählungen, in denen der Mensch unter dem Druck der Dinge und Ideen unsichtbar wird.“
Stepan entschließt sich, über Menschen zu schreiben, über die Großstadt und die Ukrainisierung. Raffiniert ist, wie er einen Roman konzipiert, dessen Form und Stoff ganz mit dem vorliegenden, der davon erzählt, übereinstimmen. Dabei schimmern Vorbilder durch: der 1913 verstorbene bedeutendste ukrainische Erzähler Mychajlo Kozjubynskyj sowie Maupassant, den Pidmohylnyj ins Ukrainische übersetzte.

Ein Kiewer Bel Ami

Während er seinen Weg als Autor schon klar vor sich sieht, scheint Stepan bei seinen amourösen Abenteuern noch auf der Suche. Die Großstadt verwandelt ihn, er verfällt Frauen, zu deren Unglück:
„Er roch an der Frau … er atmete sie ein wie die Frische des Frühlings, das Harz eines Kiefernwaldes oder den morgendlichen Dunst der Erde. Nur beim ersten Zug ekelte es ihn ein bisschen, wie es einem vom ungewohnten Rauch einer Zigarette zuerst ekelt, bis sie einen in ihren Bann schlägt und zu einer Sucht wird. Schaudernd dachte er, dass er auch diesen duftenden Körper, wie jeden anderen, in Besitz nehmen könnte.“
Stepan begegnet Frauen in einer Mischung aus Machtausübung, die sogar in sexueller Gewalt gipfelt, und fast sklavischer Unterwerfung. In der großstädtischen Zoya findet er erstmals einen Widerpart, und dem verdanken sich wunderbare Dialoge – so nach seinem ersten Überrumpelungskuss:
„‚So eine Frechheit!‘ entfuhr es Zoya.
‚Ich liebe Sie‘, murmelte Stepan traurig.
‚Das habe ich Ihnen nicht erlaubt‘, antwortete sie so streng wie möglich, und ging davon.
‚Zoya, wann sehe ich Sie wieder?‘
‚Niemals!‘“

Beklemmende Lektüre vor dem Hintergrund des Kriegs

Diesen oft hinreißend komischen, wunderbar frischen Kiew-Roman lesen wir anders als seine damalige Leserschaft. Ihr haben wir das Wissen voraus, dass sein Verfasser im GULAG gefoltert und 1937 erschossen wurde. Dieses Schicksal teilte Pidmohylnyj mit fast der gesamten ukrainischen literarischen Moderne, die unter Stalin gezielt ausgelöscht wurde.
Die genaue Schilderung von Kiews Topographie lässt nachvollziehen, wie Stepans sozialer Aufstieg ihn in mehreren Etappen aus dem nördlichen Armenviertel Podil in ein lichtes Zimmer im Stadtzentrum führt. Verstörend wird klar, wie nun, rund hundert Jahre später, russische Truppen auf genau diesem Weg vorstoßen wollen. In diesen Wochen und Stunden verwandeln sie Kiew in ein Schlacht-, Trümmer- und Gräberfeld. Ein harmloses Friedensbild von spielenden Kindern ruft auf einmal beklemmend Bilder des heutigen Kriegs wach:
„Aber der Ball kam wie eine Bombe heruntergerast, was eine Explosion närrischer Freude unter den Kindern hervorrief.“
„Die Stadt“, dieser lange verbotene ukrainische Schlüsselroman über Kiew, kann nun erstmals auf Deutsch gelesen werden. Mit Stepan schuf Pidmohylnyj eine Variation des vereinsamten Großstadtmenschen und selbstverliebten Beaus, die fasziniert und mitfühlen lässt, amüsiert und empört.

Walerjan Pidmohylnyj: "Die Stadt". Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok. Guggolz Verlag, Berlin. 416 Seiten, 26 Euro.