Dienstag, 07. Mai 2024

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Walter Höllerer zum Hundertsten
Der erste moderne Literaturmanager

Walter Höllerer hat in den fünfziger Jahren frischen Wind in die Adenauerrepublik gebracht und den Literaturbetrieb erfunden, wie wir ihn heute kennen. An diesem Montag wäre dieser erste moderne Literaturmanager 100 Jahre alt geworden.

Von Helmut Böttiger | 19.12.2022
Walter Höllerer 1971 als Gesprächleiter der Sendung "Literarisches Colloquium"
Walter Höllerer, Literaturwissenschaftler, Zeitschriftengründer und Netzwerker, im Jahre 1971 als Gesprächleiter der Sendung "Literarisches Colloquium". (imago images / United Archives / United Archives / kpa via www.imago-images.de)

Der Schneider von Ulm
Wenn auch die Donau netzt die Haut
Es ruft der Donauflieger laut
Die Zukunft ist auf Luft gebaut

Es fängt alles damit an, dass Walter Höllerer, Germanistikdozent in Frankfurt am Main, im Jahr 1959 auf den literaturwissenschaftlichen Lehrstuhl der Technischen Universität Berlin berufen wird. Paul Celan, mit dem Höllerer in Kontakt steht, schreibt ihm, als er das hört:

„Lieber Walter Höllerer, meinen herzlichsten Glückwunsch zu Ihrer Berufung nach Berlin: Hoffentlich schaden Sie der Technik!“ 
Celan allerdings verkennt Höllerer da ein bisschen. Der umtriebige Bayer scheint nämlich die Idealbesetzung dafür zu sein, die in Berlin brachliegenden Möglichkeiten zu nutzen, und hat das Talent, die Hochkultur mit den aktuellen Medienentwicklungen kurzzuschließen. Gleich im Herbst 1959 beginnt er, zeitgenössische Autoren im Hörsaal vorzustellen, junge Männer knapp über 30, wie Hans Magnus Enzensberger, Uwe Johnson oder Günter Grass.

Mit Lyrik fing es an

Schnell müssen die Lesungen auch über Lautsprecher in einem Nachbarhörsaal übertragen werden. Und bald startet Höllerer eine internationale Lesereihe in der Kongresshalle vor mit 2.000 Zuhörern jedes Mal ausverkauftem Haus, die Veranstaltungen werden parallel dazu auch live im dritten Fernsehprogramm des SFB übertragen. Walter Höllerer ist der erste moderne Literaturmanager.
Sein Werdegang unterscheidet sich allerdings grundlegend von dem heutiger Kulturfunktionäre. Er beginnt nämlich als Lyriker. Als Dreißigjähriger debütiert er 1952 mit dem Gedichtband „Der andere Gast“. Doch gleich entwickelt er auch schon den Plan für eine Literaturzeitschrift, die das Forum für die junge Literatur sein soll.
Das erste Heft der bis heute existierenden und schnell einflussreichen „Akzente“ erscheint im Februar 1954. Ein Jahrzehnt später wird er auch noch die Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“ gründen. Höllerer, der 1958 auch seine Habilitationsschrift vorlegt, gelingt es, Primär- und Sekundärliteratur miteinander zu verbinden. Und in der von Hans Werner Richter gegründeten berühmten Gruppe 47 gehört er schnell zur Riege der fünf sogenannten „Großkritiker“. Neben ihm sind das Walter Jens, Hans Mayer, Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser. Dieser sieht das Jahre später allerdings eher spöttisch:   
„Ich glaube, dass Richters Respekt vor Höllerer nicht so sehr ein Respekt vor dem Kritiker war, sondern der Höllerer war ja eine unglaubliche Integrationsfigur! Es gab ja keine Institution, wo er nicht Chef war oder Aufsichtsrat oder irgendwas. Was der in Berlin alles – der Höllerer war ja sozusagen beinahe komisch! Überall war er dabei – und das hat natürlich dem Richter auch ein bisschen imponiert.“

Er dachte auch nach

Mancher Schriftsteller zeigte sich von Höllerer jedoch auch äußerst angetan, etwa Jürgen Becker:

„Höllerer dachte ja auch nach! Er überlegte, er reflektierte. Und er konnte sich noch bei schwierigen Texten, wenn andere nichts mehr wussten – fiel ihm noch was ein. Unter dieser Kritikerriege war Höllerer für mich mit der Kompetenteste eigentlich. 
Mit dem Jahr 1968 war Höllerers große Zeit jedoch merkwürdigerweise vorbei. Eine allzu prononcierte Politisierung der Literatur lehnte er ab. Durch die Erfahrung des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs schien er immun zu sein gegen ideologische Verhärtungen und gegen jeglichen Dogmatismus.
„Denn hätten wir uns auf einen ‚ismus‘ eingelassen, dann hätten wir einfach einen ‚ismus‘ bewiesen. Aber das war genau das, was ich glaube, was falsch gewesen wäre und was jetzt genauso falsch ist: nämlich ein Programm zu haben und das dann schreibend auszufüllen.
1972 kuratierte Höllerer in der Akademie der Künste in Berlin noch einmal eine große Ausstellung: Sie hieß „Welt aus Sprache“ und schloss an die gerade Mode werdende Zeichentheorie, die Semiologie an. Sein großangelegter Roman „Die Elefantenuhr“, der davon handelt, wurde allerdings eher skeptisch beurteilt. Auch seine lyrische Produktion lief langsam aus. Mitte der sechziger Jahre noch hatte er, beeinflusst von der amerikanischen Beatlyrik, vieldiskutierte Thesen zum „Langen Gedicht“ veröffentlicht. 1969 erschien dann im Verlag des von ihm 1963 gegründeten und lange nach seiner eigentlichen Bestimmung suchenden Literarischen Colloquiums Höllerers Gedichtband „Systeme“.

Höllerers Systeme

Hier orientierte er sich neu und arbeitete ebenfalls offensiv mit Bezügen zur Sprach- und Zeichentheorie. Neuerdings wird versucht, gerade diesen Band im Zuge aktueller Lyrikdiskussionen wiederzuentdecken: Heribert Tommek, der Vorsitzende des von Höllerer gegründeten Literaturarchivs Sulzbach-Rosenberg, hat gerade eine Studie dazu veröffentlicht, und tatsächlich kann man Bezüge zwischen Höllerers „Systemen“ und im Moment starken Strömungen innerhalb der Gegenwartslyrik erkennen, die sehr an akademisch geprägten Sprachoperationen orientiert sind. Doch vielleicht bedeuteten eher die frühen Purzelbäume Höllerers, der im Alter von 81 Jahren nach langer Krankheit im Mai 2003 gestorben ist, seine beste Zeit, seine frischen und offenen Texte aus den fünfziger und sechziger Jahren:

Ich sehe dich im Schneegestöber Purzelbäume,
so schöne, flitzig-schnelle schlagen, dass das Schneegestöber in die Morgenträume
zu mir hereinfliegt in mein Morgenfass –

Heribert Tommek (Hrsg.): „Flecken. Walter Höllerer und die Epiphanien der Moderne“
Edition Text + Kritik, München. 190 Seiten, 29 Euro.