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Walter Moers: "Der Bücherdrache"
Schnitzeljagd durch die Weltliteratur

Der Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz steigt als gereifte Dichter abermals in die Katakomben von Zamonien, um unglaubliche Dinge zu erfahren. "Der Bücherdrache" von Walter Moers liefert dabei eine Schnitzeljagd durch die Weltliteratur - und das alles im gewohnt parodistischen Plauderton.

Von Tanya Lieske | 27.07.2019
Der Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz, gezeichnet von Walter Moers und sein neuer Roman "Der Bücherdrache"
Der Lindwurm Hildegunst von Mythenmetz ist Haupdarsteller in "Der Bücherdrache" (Buchcover Penguin Verlag und (c) Walter Moers)
Der Dichter auf der Höhe seiner Kunst begibt sich erneut auf die Reise. Hildegunst von Mythenmetz heißt der glückliche Mann, er lebt auf dem Kontinent Zamonien, der, wir wissen es aus früheren Romanen von Walter Moers, von allerlei fantastischen Kreaturen bevölkert ist. Und auch von versunkenen Buchkulturen: Hier lebt man nur fürs Lesen. Da das bekanntlich schlecht für die Augen ist, kam die Evolution den Bücherfreaks der Stadt Buchhaim zu Hilfe. Sie hat so genannte Buchlinge geschaffen, amorphe Zyklopen, die auf einem unendlich langen Hals ein einzelnes Lese-Auge bewegen. Zugegeben, schön sind sie nicht gerade, diese Buchlinge, jedenfalls weniger stattlich als Hildegunst von Mythenmetz. Der steht aufrecht auf zwei Echsenfüßen, er trägt seinen Umhang zierlich über der Ritterrüstung und erweist sich gleich zu Beginn des Romans als echter Schöngeist. Hildegunst von Mythenmetz liest ein klassisches Gedicht und stellt sich dann drängende Fragen zur eigenen Existenz.
"Alles was wir sehn und schaun
Ist nur ein Traum in einem Traum"
Das schreibt Perla La Gadeon in einem seiner Gedichte.
Tja ...
Oder meint er: Alles ist nur eine Geschichte? Eine Geschichte in einer Geschichte?
Wer hier an den spanischen Barockdichter Calderón de la Barca denkt, oder auch an Michael Endes Unendliche Geschichte, der liegt richtig. Auch dieser Roman von Walter Moers liefert eine Schnitzeljagd durch die Weltliteratur. Das Buchstabenlabyrinth, in dem Hildegunst von Mythenmetz dann später verschwinden wird, entspricht dem Erzähllabyrinth, welches Walter Moers, er taucht hier wie üblich als Übersetzer aus dem Zamonischen auf, für seine hoffentlich buchaffinen Leser konstruiert.
Ein Roman mit Wendeltreppenarchitektur
Nach allen Regeln der Kunst. Da gibt es die Geschichte in der Geschichte in der Geschichte und den Erzähler in der Erzählung, es gibt zamonische Wiedergänger irdischer Literaten und Philosophen sowie großformatig aufgehängte Zitate a la "Ich weiß, dass ich nichts weiß." Der Bücherdrache ist ein Roman mit Wendeltreppenarchitektur, man schaut von einer Etage der Weltliteratur in die nächste. Und man darf sich freuen, wenn man wieder mal ein Zitat gesichtet hat.
"Äh ... Guten Tag!", versuchte ich die Konversation aufzunehmen. "Da... das hier ist die schlechteste aller Welten?"
Diesen parodistischen Plauderton kennt man aus früheren Büchern des Walter Moers, die sich allesamt am Stoff der Heldenreise orientieren, mit vielfältigen Bezügen zur Tradition der Komik, zur Grotesken und auch zur Schauerliteratur. So musste Hildegunst von Mythenmetz einst ausziehen, um einen echten Unterweltfiesling zu enttarnen und zu erlegen. Die vorliegende Heldenreise aber erreicht ihre Leser gebraucht, quasi second hand. Denn Hildegunst von Mythenmetz erlebt diesmal kein eigenes Abenteuer, sondern er fällt in eine Geschichte hinein, in der ihm ein Abenteuer erzählt wird. Man kann diese Wendung auch als Metapher lesen: der reife Dichter unternimmt einen Streifzug durch sein eigenes Unterbewusstsein. Dort begegnen ihm die Bücher, die er geschrieben hat - und er begegnet sich selbst.
"Und dann begegnete ich mir selbst! Nun ja, das ist eigentlich nichts Ungewöhnliches in einem Traum, oder?
Aber was mir da aus dem Spiegel entgegentrat, trug zwar meinen Namen, aber ich war es nicht selbst! Klingt das irre genug? Es war Hildegunst Zwei – der Buchling, der mein gesamtes Werk auswendig lernt."
In der Zyklopengestalt des Buchlings
Der Held trifft nicht auf einen äußeren Gegner, sondern auf seinen Doppelgänger, seine Schatteninkarnation, auf eine frühere Version seiner Selbst. Der Andere trägt die Zyklopengestalt des Buchlings, ist der eifrigste Leser von Hildegunst Eins und behauptet, diesem Dank zu schulden.
"‘Ich habe deine sämtlichen Bücher auswendig gelernt. Du hast mir all deine Gedanken geschenkt. Und ich konnte dir nie etwas zurückgeben.‘ – ‚Keine Ursache! Das ist doch mein Beruf! Und ist das nicht das normale Verhältnis zwischen dem Autor und seinem Leser?‘ – ‚Aber ich möchte mich trotzem revanchieren. Mit einer eigenen Geschichte.‘ – ‚Das klingt großartig! Was für eine Geschichte ist es denn?‘ – ‚Das ist ja das Problem. Ich weiß nicht, wo ich eine herbekommen soll. Und wie man sie erzählt.‘
Es braucht nur wenig Ermutigung, und schon fällt dem Buchling doch etwas ein. Es geht um eine Geschichte aus seiner frühen Jugend, um eine Begegnung mit einem echten Drachen. Der wird meist Thanaviel genannt und haust im legendären Ormsumpf. Er ist der titelgebende Bücherdrache, und trägt noch weitere Namen, allesamt Anagramme des biblischen Seeungeheurs Leviathan:
"Elivathan, Thanaviel, Levanthia, Ilathevan."
Der Einfachheit halber aber wird Thanaviel aber meistens Ormdrache genannt, er ist nämlich der Hüter des Orm. Orm, das ist die geheime Substanz der zamonischen Kreativität, man denke sich alles zwischen Weltgeist, Tao und Tinte.
An jeder Ecke ein Meistersinger
Mit Orm fluppt es bei den Künsten, ohne Orm bleibt man höchstens ein armer Plagiator. Deshalb soll der junge Buchling eine ormgetränkte Drachenschuppe stehlen, was ihm nach etlichen Gefahren und einigen zugegeben berechenbaren Erzählwindungen auch gelingt. Hildegunst von Mythenmetz aber bezweifelt, dass es den Ormdrachen je gegeben hat. Er verweist die Erinnerung seines Buchling-Lesers in den Bereich zamonischer Mythen. Alles Quatsch, denkt er sich.
"Noch so ein Mythos: Von jener legendären Epoche, in der sämtliche Künstler von Orm erfüllt waren – und zwar ausnahmslos. Von einer Zeit, in der an jeder Ecke ein Meistersinger stand, der nicht nur ein Virtuose mit Stimme und Laute war, sondern auch Texte und Kompositionen von überirdischer Qualität vortrug. Wo jedes Ölbild ein Meisterwerk darstellte, jedes Gedicht eine Erleuchtung und jeder Roman eine Offenbarung. Ein nostalgischer Früher-war-alles-besser-Mythos, geradezu anrührend, in seiner naiven Redlichkeit. Und natürlich waren die Bücher all der Dichter dieser ‚güldenen Epoche‘ heute verschollen oder sammelten sich im Ormsumpf. ‚Davon habe ich gehört‘, sagte ich, lächelte milde und verkniff mir eine ironische Bemerkung.
Ein Blick in den Maschinenraum von Zamonien
Die Geschichte wird also ex negativo erzählt, nichts muss sich so zugetragen haben. Dabei wird dann aber doch jede erzählerische Stufe zur Schau gestellt. Es ist ein Blick in den Maschinenraum von Zamonien, es geht ums Erzählen an sich. Da gibt es den Abstieg des armen Buchlings ins tiefste Dunkel, es folgen dramatische Verzögerungen, bravouröse Rettungen sowie die geläuerte Heimkehr des jugendlichen Helden. Dazwischen: Viele, viele Exkurse zu Sinn und Unsinn der Literatur, und zum Gemütszustand aller, die sich gerne mit ihr beschäftigen. Und auch mit zahlreichen Einladungen zum Schenkelklopfen, etwa wenn es um echte Schriftsteller geht:
"Außer denen unterhalten sich nur Kinder und Geisteskranke in Gedanken mit Figuren, die sie sich selbst ausgedacht haben. Genau das ist es, was Dichter eigentlich tun: Sie drehen durch, ganz langsam und systematisch. Satz für Satz, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel, Buch für Buch, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Bis sie endlich aus Papier und Buchstaben ihre ganz eigene Irrenanstalt gebaut haben, in der sie alleine hausen dürfen. Wer will den so was? Nur Bekloppte. Ich jedenfalls nicht."
Der Charme des kurzsichtigen Flugsauriers
So viel schwarze Tinte, das ist neu in Zamonien. Wenn man auf einen früheren Dichter dieses Universums zurückblickt, er hieß Danzelot von Silbendrechsler, war ein begabter Grabredner und Gelegenheitsdichter, erfüllt von Schaffensdrang und auch mit einiger Demut versehen, dann fällt auf, dass Walter Moers die eigenparodistische Schraube in diesem Roman um eine ganze Windung angezogen hat. Man findet sich in einem gut geölten Erzählwerk wieder, das bisweilen sogar zu gut funktioniert.
In einem Universum, in dem die Zufälle vorhersehbar und pünktlich sind, in dem man sich verstohlen nach dem Charme des kurzsichtigen Flugsauriers sehnt, der einst für Rettungen in letzter Minute zuständig war, und der immer fast zu spät kam. Alles funktionier in diesem Roman, aber se funktioniert eben zu gut. Wie alle vorhergehenden Romane hat der Übersetzer Walter Moers auch dieses Manuskript Der Bücherdrache kundig aus dem Zamonischen übertragen.
Walter Moers: "Der Bücherdrache"
Penguin Verlag, 192 Seiten, 20 Euro