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Wandlung als Konzept

Von allen namhaften Literaten der DDR hat Franz Fühmann wohl am hartnäckigsten die Frage nach den ideologischen Verwerfungen des Ichs gestellt. Er sah darin eine Forschungsaufgabe und war in dieser Arbeit unerbittlich – vor allem gegen sich selbst.

Von Wilfried F. Schoeller |
    An ihm wurde die Glaubensgeschichte zweier Großsysteme exerziert, ihre existenzielle Wucht und ihre Zerstörungskraft. Fühmann besaß die Leuchtkraft des Solitärs, aber da er an allem teilhatte, was seine Gesellschaft ausmachte und, sich den Spiegel vorhaltend, ihrer auf einmalige Weise gewahr wurde, ist er auch ihr Repräsentant.

    Franz Fühmann ist 1984, vor fünfundzwanzig Jahren, in Berlin gestorben. Sein Werk ist zu vielfältig mit Erzählungen, Essays, Lyrik, Kinderbüchern, Träumen, Nachdichtungen, Interpretationen, Meditationen, Mythen, Episteln, als dass es mit einem Zugriff zu überblicken wäre. Es steht unter dem Zeichen der Wandlung. Sie ist sein Lebenskonzept und sein Arbeitsprinzip. Es gibt wohl keinen DDR-Schriftsteller, der sich so oft und so gründlich häutete und daraus auch jeweils ästhetische Konsequenzen zog.

    Wo liegt die Einheit dieses Werks? Vor allem in den Dispositionen der Person. Der Biograf ist gefragt, sie zu ermitteln. Gunnar Decker, Redakteur der Zeitschrift "Theater der Zeit" und durch Bücher beispielsweise über Rilkes Frauen, Hermann Hesse und Gottfried Benn ausgewiesen, hat sich dieser schwierigen Aufgabe gewidmet. Er hat nicht die erste Biografie Franz Fühmanns geschrieben, aber die bisher gründlichste; sie ist auf bemerkenswert genaue Weise dem Zusammenspiel von existenziellen Erfahrungen und Werkprozess gewidmet. Fühmann wusste es selbst, dass seine Biografie keine vollzogenen Wegstrecken von dort nach hier markiert; sie ist auf Wiederholung angelegt, führt die gleichen Fragen öfter in neuer Beleuchtung vor: sie sei ähnlich einer "Drehscheibe auf einem Bahnhof":
    "Entscheidende Knotenpunkte des Lebens, Punkte einer möglichen Wandlung, aber auch einer möglichen Nichtwandlung, und die Summe der Wegstücke zwischen solchen offenen Punkten ist die Biografie."
    In der Beleuchtung dieser Schwierigkeiten ist Gunnar Decker ziemlich weit gekommen.

    Franz Fühmann, Jahrgang 1922, wurde im Alter von zehn Jahren ins Internat der Jesuiten von Kalksberg bei Wien gesteckt –
    " ... eine Kaderschmiede des mittel- und südosteuropäischen Katholizismus, zu der mir ein Gönner meines Vaters, ein Graf H., selbst ehemals Kalksburger Zögling, den Zugang, den für Söhne bürgerlicher Herkunft zu finden, nicht eben leicht war, geöffnet hatte"."
    Vor allem Nazitum und allem Stalinismus war die Erfahrung der rigiden alleinseligmachenden Kirche. Den Vater hat Franz Fühmann als Gründer der NSDAP-Ortsgruppe im böhmischen Heimatort Rochlitz bezeichnet, aber kein einziger dokumentarischer Hinweis dafür hat sich bisher finden lassen. Hat er seinen Vater idealtypisch verschlimmbessert, um mit seinem eigenen früheren Selbst großformatiger abrechnen zu können? Der junge Franz Fühmann jedenfalls erweist seine Glaubensbereitschaft als glühender Jungnazi. Als 1939 der Krieg ausbricht, findet man den Siebzehnjährigen in einer Fahrradkompanie des Reichsarbeitsdienstes. Er kommt nach Litauen, an den Fernschreiber in Kiew, dient in Athen der Luftwaffenvermittlung.

    Kurz vor dem Untergang des Reiches setzte er erste Zeichen als Dichter: Er veröffentlichte einige Poeme in Ellermanns Reihe "Das Gedicht" und wurde in der Wochenzeitung "Das Reich" von Joseph Goebbels abgedruckt. Am 6. Mai 1945 findet er sich am elterlichen Kaffeetisch in Rochlitz ein, drängt jedoch wieder weg, will beim Endsieg dabei sein, anstatt sich in die Büsche zu verdrücken. Es gibt kaum etwas Gespenstischeres als diesen zwischen Durchhalte-SS und russischen Soldaten herumtaumelnden jugendlichen Desperado in den böhmischen Wäldern. Fühmann kommt in russische Kriegsgefangenschaft. Er gibt schon damals als Berufsbezeichnung "Schriftsteller" an. Ein Gedicht begleitet ihn, wird ungewollt zum heraldischen Bild seiner Wegsuche: Georg Trakls "Psalm". Im Februar 1947 wird er in eine Antifa-Schule aufgenommen: aus dem gläubigen Nazi soll ein gläubiger Kommunist werden.
    ""Auf die Schule war ich durch einen Zufall gekommen, den ich bis heute nicht recht durchschaue; der Anlaß mag läppisch gewesen sein, eine Namensverwechslung, ein Verschlampen, wahrscheinlich der Auftrag irgendjemanden zu schicken, und die aufs Geratewohl gegriffene Schindel trug meinen Namen; der Anlass mag läppisch gewesen sein; die Wirkung ist heute noch nicht geendet: ein Sprung in eine andere Lebensbahn in einer anderen Gesellschaft."
    Eine Art Gehirnwäsche findet statt.

    Gunnar Decker hat eine treffende Charakteristik für Franz Fühmann gefunden: Er sei "glaubensbedürftig bis zum Fanatismus, skeptisch bis zum Misstrauen" gewesen. Bis in die sechziger Jahre hinein ist seine marxistische Glaubensbereitschaft ungebrochen. Zurück in Deutschland, nun in der DDR, schafft er als ehemaliger Nazijunge die Aufnahme in die SED nicht, er kommt in die Blockpartei der nationalen Hintersassen, in die Nationaldemokratische Partei und dient seine Verse dem damaligen lyrischen Guru Johannes R. Becher an. Er macht in kürzester Zeit eine Doppelkarriere: Wird bereits 1952 Kandidat für den Parteivorstand der NDPD, ein Jahr später, da hat er noch nicht einmal ein Buch veröffentlicht, ist er im Vorstand des Schriftstellerverbandes.

    Sein erster Gedichtband, "Die Nelke Nikos", ist der "Märchenkonzeption" unterstellt: Im Sozialismus werden die Märchen in Erfüllung gehen. Er ist, weil politisch überzeugt, auch literarisch selbstbewusst. 1953 veröffentlichte er das Großpoem "Fahrt nach Stalingrad". Es gibt darin hinreißende Wendungen in freien Rhythmen und daneben platten Politkitsch. 1954 ließ er sich als geheimer Informant der Staatssicherheit anwerben, aber er lieferte nicht die gewünschten Berichte und wurde fünf Jahre später wieder abgeschaltet. Nach dem XX. Parteitag der Sowjetunion, auf dem Chruschtschow die Verbrechen Stalins enthüllte, befasst sich die Stasi seinerseits mit dem unzuverlässigen Funktionär Fühmann. Seine Karriere in der NDPD geht abrupt zu Ende. Er wird aus dem Parteivorstand entfernt und beschließt nun, als freier Schriftsteller zu leben. Sein Glaube, dass das Märchen in der DDR sich mit einem Happyend erfülle, ist erschüttert. 1958 erlischt diese "Märchenkonzeption" und der Lyriker Fühmann verstummt ein- für allemal. Gunnar Decker hat diese Etappen der marxistischen Gläubigkeit, der ideologischen Unduldsamkeit und der Hingabe Fühmanns ans Dogma so exakt wie bisher niemand erzählt.
    Es beginnt eine neue Etappe: 1959 macht er sich auf die Suche nach der Wirklichkeit der Produktion, nach der Rostocker Warnowwerft, auf den Bitterfelder Weg.
    "Zehn Jahre lang hatte ich im Gehäuse der Theorien und dem Schattenreich der eigenen Vergangenheit gelebt; nun aber war ich frei und wollte die Republik kennenlernen und wusste doch nicht wie."

    Fühmann nimmt die Vorgaben, über die Arbeit im neuen Staat zu schreiben, ernst, so wörtlich ernst, dass die Ungereimtheiten und Schwächen der eigenen Position zum Vorschein kommen:
    "Wie war das organisiert, nach welchen Plänen und war das Ganze gesteuert, von welchen Kräften war das bewegt, wer beherrschte diesen Strudel von Menschen und Maschinen, welche Gesetze regierten diese Werft, deren Oberfläche mich verwirrte? Ich wusste es nicht; es war lächerlich, aber ich wusste es nicht; ich wusste nichts vom Großbetrieb; ich lebte, ein Zeitgenosse der Weltraumraketen, in dieser Beziehung am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts!"
    Seine Reportage "Kabelkran und blauer Peter" ist der Ausdruck dieser Verstrickung, die sich aus dem Zusammenprall von Ideologie, Schreiben und industrieller Wirklichkeit ergibt.
    Fühmann sucht einen Ausweg: Er vertiefte sich in Mythengeschichte. Sie enthält für ihn die Spiegelschrift des Jetzt, der Mythos ist geronnene Erfahrung der Menschheitsgeschichte. Die Wirklichkeit ist auf realistische Weise nicht zu entziffern: sie enthält zu viel Innenzensur, bietet nicht den notwendigen Raum zum freien Sprechen und sie ist blind für sich selbst. So entsteht das Modell der spiegelbildlichen Lektüre, in der etwas zu enträtseln ist, was sich in der Wirklichkeit nur kaschiert zeigt oder verstecken möchte. In den sechziger Jahren häufen sich die inneren und die politischen Krisen. Nach dem 11. Plenum von 1965 mit seiner Abstrafung der Intellektuellen, Schriftsteller und Künstler zog sich Fühmann aus dem Vorstand des Schriftstellerverbands zurück. 1967 erhielt er den Auftrag, in den Spuren Fontanes die Mark Brandenburg zu erkunden und scheiterte kläglich. Er war in eine seiner größten Krisen gerutscht. Wenige Monate nach der Okkupation der CSSR 1968 durch Truppen des Warschauer Pakts zog er sich in die Klinik zu einer Entziehungskur zurück: er hatte sich durch Alkoholsucht in eine schwierige Lage manövriert:
    "Der Golfstrom der Zeit hat mich in ein stilles, weiches, warmes Bett gespült. Es ging nicht mehr, ich musste eine Generalüberholung machen. Die Zeit ist eben gnadenlos mit ihren Geschöpfen."
    Auf die Frage, wie lange die Vorstellung von einer ideologisch gebundenen Literatur bei ihm angehalten habe, erklärte er bündig:
    "Das kann ich Ihnen ganz genau sagen: bis zu den Aufzeichnungen '22 Tage oder Die Hälfte des Lebens'. Mit diesem Buch möchte ich meinen eigentlichen Eintritt in die Literatur ansetzen. In allen vorangegangenen Büchern habe ich etwas geschrieben, was ich fertig im Kopf hatte. Ich habe in der Frage von Erkenntnis und Bewusstsein bis dahin nur gegeben, was vordisponiert war."

    Er hatte ursprünglich ein kleines, beschwingtes Reisebuch für DDR-Bewohner schreiben wollen, aber es setzte sich der Stoff gegen die Intentionen durch, unter dem Eindruck der Ereignisse von 1968 entstand eine Rechenschaft sehr persönlicher Art: drei Wochen Diarium der Fahrt nach Ungarn, eine Selbstbefragung und Impressionen vor allem von Budapest, Essay und Erzählung, Erprobung der Baedeker-Haltung zum Scherz, Sprachspiel und schmerzhafte Ich-Analyse, Sondierung der Vergangenheit und Traumprotokoll, Prinzipielles und Spaziergänger-Flüchtigkeiten ineinander gemischt. Die Form des Tagebuchs legitimiert den willkürlichen Wechsel vom Ich zur Fremdbeobachtung, die Sprünge der Wahrnehmung, die Brüche zwischen den Tonlagen; sie fordert einerseits zur intimen Selbstaussprache heraus und ermöglicht andererseits Erkundungen an der Peripherie des vorgefundenen Terrains. Das Tagebuch als Kunstform der Divergenzen: Entblößung und Verhüllung des Einzelnen, Konstitution eines Ichs, das sich gleichwohl nur in Gegensätzen erfährt.

    Es findet auch eine Verwandlung des Autors in einen Konzept-Künstler statt. Was wird nicht alles an Möglichkeiten zur Darstellung gefunden und geplant, aufgelistet und annotiert. Der Pläneschmied ist von seinem "Prometheus"-Projekt gefangen, aber er erwägt auch eine Sammlung "Neonröhrenpoesie", denkt daran, den fragmentarischen "Komet"-Roman von Jean Paul zu Ende zu bringen, will eine der "Kinogeschichten" schreiben, also wohl seinen Band "Der Jongleur im Kino" ergänzen. Das eine Projekt steckt im anderen: Schon wird die "Wandlungszeit im Lager" bedacht, die dann im Erzählessay "Der Sturz des Engels" beinahe zehn Jahre später reflektiert wird. Die assoziative Klangwirkung einzelner Wörter lockt auch Nonsens hervor. Er denkt an ein "ABC-Menübuch" in Stabreimen, an ein "Einsiedlerspiel" mit Wörtern, das er später mit dem Buch für Kinder "Die dampfenden Hälse der Pferde" auch verfasst hat. In den Bereich des Konzept-Künstlers gehört auch das Autodafé und die bloß virtuelle Verfertigung von Poesie:
    "Oder diese gemeine, hinterhältige Freude, sich eine Geschichte oder auch ein Gedicht auszudenken und es im Kopf fertigzumachen und dann ins Formlose zurückfallen zu lassen und zu sehen, wie es untergeht. Das wäre, nebenbei, die einzige Haltung, die den Terminus 'freier Schriftsteller' rechtfertigte."

    Ein Wortklauber und Satzverdreher, ein Taschenspieler mit Buchstaben produziert sich. Der Konzeptkünstler und Sprachspieler ist dem Biografen Gunnar Decker leider nicht recht zugänglich; er reiht viel lieber einen biografischen und literarischen Ernstfall in der Lebens- und Produktionskette Fühmanns an den anderen. Sein Ziel ist es, so der Untertitel seiner Biografie, die "Kunst des Scheiterns" bei Fühmann zu beschreiben.

    Ein Unterfangen mit Raffinement: das Scheitern der persönlichen Lebensentwürfe als ästhetische Leistung. In dieser mäandernden Spurensuche bringt es Gunnar Decker ziemlich weit, aber die kindliche Sprach- und Experimentierlust Fühmanns bleiben ihm fremd.

    Fühmann entdeckte in den siebziger Jahren für sich die Romantik, vor allem E.T.A. Hoffmann. Es ging ihm wie Christa und Gerhard Wolf, denen dieser geschichtliche Vorrat zum Projektionsraum wurde für das, was in der Gegenwart nicht zu sagen war. Das war neu in der DDR. Getreu der Doktrin des Literaturpapstes Georg Lukacs hatte die Romantik bis dahin
    als die Unvernunft, die Gegenschrift zur Vernunft, das Kranke gegolten.

    1978 erschienen erzählerische Anwendungen einer Freiheit zur Darstellung der aktuellen Gesellschaft, wie er sie im Tagebuch und durch den Gang in die romantische Ferne gewonnen hatte. In dem Erzählungsband "Bagatelle, rundum positiv" setzte sich Fühmann ironisch von den Nichtigkeiten ab, die er im Titel ankündigte. Bagatellen – das sind in diesen Geschichten kleine Ereignisse, Irritationen, die in Nahsicht und mikroskopisch auf ihre Struktur hin untersucht werden. In der Studie "Drei nackte Männer" zum Beispiel wird beobachtet, wie sich ein bedeutungsschwerer Mann mit zwei Begleitern in der Sauna bewegt: an jenem Ort, der angeblich alle gleichmacht und durchschnittlich in ihrer Nacktheit, wirken die drei wie angezogen, drapiert mit angemaßter Würde und realer Macht. Als der Erzähler zu einer Sitzung "des Verbandes der Freunde ästhetischer Forschung" geht, begegnet er den dreien wieder – sie fahren in der schwarzen Limousine, die für hohe Funktionäre vorbehalten ist. Unversehens erhebt sich das Auto über den Erdboden, hinauf in die höheren Etagen, in die Entrückung. Eine winzige Pointe, zur realistischen Beobachtung eine surreale Volte.

    1982 erschien der Erzählessay "Der Sturz des Engels" als die Summe eines Literaturenthusiasten, Dichtungspädagogen und Poetologen. Fühmann verknüpfte in dieser Studie zweierlei miteinander: einen Essay über die Lyrik Georg Trakls verband er mit der autobiografischen Rechenschaft über seine verschiedenen geistigen Wandlungen seit 1945.

    Ein komplexes und wagnisreiches Unterfangen: In den Erlebnisbericht galt es die Deutung von Gedichten zu integrieren, von Irrtümern war zu erzählen und von der anhaltenden Sicherheit einer Passion, die schlichtweg "Poesie" heißt. Ein überwältigendes, aber auch ein befremdendes Buch – das Ergebnis einer inneren Emigration. Erzählt wird aus der Distanz, die der Autor mithilfe Trakls zur Doktrin gewonnen hat. In gleicher Weise ist jedoch Fühmann selbst das Objekt dieser gewonnenen Distanz. Trakl tritt in seinem Deuter den Kampf gegen eine unmenschlich überpersonale Denkordnung an. Er hilft ihm über das eigene gereimte Aufbaupathos hinweg, zu einer intellektuellen und literarischen Eigenständigkeit.
    "Aber Trakl ist doch gar nicht gescheitert, Trakl hat doch etwas vollbracht? Ja: das Werk eines nicht lebbaren Lebens, das als objektives blieb, Zeichen für die zahllosen Nur-Subjektiven, von denen keine Spur mehr zeugt. – Dass Trakls Leben unlebbar war, macht seine Dichtung nicht geringer, es bestimmt sie genauer; und dass er ein Werk schuf, von dem er ahnte, dass es in die Nachwelt gehe, hat sein Leben dadurch nicht lebbar gemacht, doch in der Einheit von Werk und Leben offenbart sich auf erschütternde Weise ein Zug allen Menschentums."

    Unausgesprochen entwirft er damit ein Gegenbild zu jenem doktrinären sozialistischen "Humanismus", der zur hohlen Phrase erstarrt war. Das Buch berichtet von Versen als einer kryptischen Botschaft, als subversiver Kraft, als unabwendbarem Ereignis, als intellektuellem Bann. Gegen das marxistische Dogma wirkte in ihm die Erfahrung mit Kunst: der Primat des Ästhetischen hat es schließlich aufgerieben.

    Der "Sturz des Engels" sollte einen Gegenpart erhalten. Das "Bergwerk"-Projekt sollte ein Gesamtbild geistigen Lebens, die letzte Abrechnung, eine Enzyklopädie und wiederum eine Verbindung von Erzählung und Essay ergeben. Die Herausforderung ist in dem Essay "Schieferbrechen und Schreiben" notiert:
    "Diese ungeheuerliche Landschaft; das verworrene Schweigen des Berges; die Jahrhunderttradition dieses kriechenden, kauernden, knienden Kampfes mit den Urelementen Erde und Wasser; die Erwartung im verschmierten Gesicht des Häuers, die Fragwürdigkeit meiner Position."
    Zehn Jahre lang beschäftigte sich Fühmann mit den unterirdischen Finsternissen in Kupfer und Kali, trieb er sich bei einer Brigade herum, teilte deren ungewohnte und ihn zermürbende Arbeit, zerstritt sich mit der Führung. Aber alles blieb Fragment, und schon einige Zeit vor seinem Tod hat er das Vorhaben aufgegeben, von seinem Scheitern gesprochen.
    1991 wurde dieses Fragment "Im Berg" aus dem Nachlass publiziert. Er hatte rund eintausend Seiten nach einer strengen inneren Ordnung geplant, rückte das Projekt in die Nähe des "Ulysses" von James Joyce. "Im Berg" konnte, durfte aus einem innersten Grund nicht gelingen: Franz Fühmann hätte, das erweisen die vorliegenden Teile, den ganzen Schuttberg sozialistischer Hoffnungen unterminiert und abgetragen, er hätte, sich in die Literaturgeschichte seines Landes einschreibend wie nie zuvor, unwiderruflich seinen Abschied von ihr genommen. Der Schritt aus der DDR, den andere vergleichsweise leichten Herzens gehen mochten, wurde von ihm bedacht und erprobt, aber aus zwingenden Gründen nicht vollzogen. So wäre dieses Wortmassiv das Grabmal seines Prinzips Hoffnung gewesen – und ist zum Epitaph seiner Mühen geworden.

    Die Frage ist, ob diese Reibung an den Verhältnissen der DDR-Gesellschaft mit deren Untergang erledigt ist, oder ob die Haltung der Kritik, die darin sichtbar wird, nicht selbst verwandelnde Kraft hat. Vielleicht bleiben die Umstände und Konditionen dessen, was vor zwanzig Jahren Geschichte geworden ist, nicht mehr fortsetzbare Geschichte, vor allem in den Haltungen des Widerspruchs sichtbar. Wer interessiert sich heute noch für die DDR-Kulturpolitik mit ihren Definitionen, ihren rigiden Vorschriften, ihrem Vokabular und ihren sogenannten "Ergebnissen". Schon ist weithin vergessen, dass es ein elftes Plenum gegeben hat und zwei Bitterfelder Konferenzen. Aber durch die Gesten des Nein, in den Stimmen der Opposition und nur in ihnen bleibt das Zwangssystem im Gedächtnis. Darüber hinaus enthält der Ernst Fühmanns ein Reservoir an Widerstand: Der schier pietistische Monolog über die Verwandlungen des eigenen Lebens entzieht sich nämlich der Vorstellung, Sprache sei als Kommunikationsmittel und als Einverständnis-Slang genug. In einem extremen Bild hat Fühmann Ethik verstanden: Gegen den Strom der Fliehenden gelte es, in den brennenden Tunnel hineinzugelangen. Er glaubte nicht, dass Wandlung ein abschließbarer Prozess sei: Mit dem Bild des geläuterten Paulus war er nicht einverstanden.

    Gunnar Deckers ausführliche Biografie bringt Fühmanns Glaubensräusche, die Härte seines Selbstgerichts und die Triumphe der Kunst bei ihm noch einmal ins Panoramabild eines bewegten Lebens, das sich der Vergeblichkeit verpflichtet wusste. Fühmann zitierte Michail Bulgakows Roman "Der Meister und Margarita":
    "Gib Rechenschaft auch fürs Ungeschriebene! Im Märchen von der verlorenen Zeit hat eine Fee das Vertane gesammelt und das Ende fängt mit der Fülle des Anfangs an, hier aber zeigt Voland grinsend die schattengefüllten gehöhlten Hände: verlorene, unwiederbringlich verlorene Zeit."