Zu Beginn jeder Führung lotst Eren Yetkin seine Besucher lieber erst einmal in den Garten der Wannsee-Villa. Der Blick fällt von dem schlossartigen Anwesen auf den spiegelglatten See. Idylle pur.
"What do you see on your way?" – "Suburban, beautiful lake." – "A beautiful panorama."
Die 15 Collegestudenten aus New York nicken. Ein Unternehmer aus Potsdam ließ die herrschaftliche Villa bauen, erzählt Eren Yetkin. Sie war komfortabel eingerichtet, mit einem Fahrstuhl bis in den zweiten Stock, mit Gesellschaftsräumen, einem Musik- und Billardzimmer.
"Now we are in the room where the conference took place on January the 20 1942."
Geheimtreffen von Bürokraten des Nazi-Regimes
20 Minuten später stehen die Studierenden aus den USA in einem stuckverzierten Saal. An der Wand gegenüber hängen die Fotos der fünfzehn Männer, die in diesem Raum vor 75 Jahren an der Wannsee-Konferenz teilnahmen. Kaum einer der US-Gäste kennt ihre Namen oder Gesichter. Denn es waren nicht Hitler, Göring oder Himmler, die an dem Geheimtreffen teilnahmen, sondern Bürokraten des Nazi-Regimes. Staatssekretäre aus den verschiedenen Ministerien sowie Akteure aus dem Sicherheits- und Polizeiapparat, sagt Hans-Christian Jasch, Direktor der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz.
"Für mich macht das besonders deutlich, dass es um einen Verwaltungsmord ging, dass es um ein modernes, arbeitsteiliges Vorgehen ging, was hier abgestimmt wurde. Das sieht man an der Sprache, es wird so eine juristisch, versachlichende, euphemisierende Tarnsprache verwendet, um einen solchen Vorgang wie den Massenmord kommunizierbar zu machen innerhalb der Verwaltung."
Auch wenn es in der Öffentlichkeit oft anders dargestellt werde, in dem anderthalbstündigen Gespräch sei die Ermordung der Juden nicht beschlossen worden, sagt Jasch. Vermutlich sei die sogenannte Endlösung schon Wochen vorher von Adolf Hitler bei einem Treffen mit seinen Gauleitern angeordnet worden. Einen offiziellen Führerbefehl gebe es jedoch nicht, sagt Jasch, aber Joseph Goebbels, Propagandaminister und engster Vertrauter Hitlers, notierte nach dieser Besprechung: "Der Führer ist entschlossen, reinen Tisch zu machen mit den Juden". Fest steht auch: Bereits im Sommer 1941 wurden nach dem Überfall auf die Sowjetunion Zehntausende Juden planmäßig erschossen.
Es ging nicht um das Ziel, sondern die Ausführung
"Es ist schwerer vermittelbar, dass es hier um einen komplexen Prozess ging, wo tatsächlich die unterschiedlichen Tötungsarten erst einmal ausprobiert wurden. Wo man im Herbst '41 in Auschwitz mit Zyklon B an sowjetischen Kriegsgefangenen experimentierte als Mordmethode, während eben gleichzeitig die mobilen Gaswagen entwickelt wurden und andernorts massenweisen Menschen erschossen wurden."
Nichts desto trotz ist die Villa am Wannsee ein Ort der Täter. Das Protokoll der interministeriellen Besprechung wurde wenige Jahre nach Kriegsende von den Alliierten in einem Aktenstapel entdeckt. Aus ihm geht hervor, dass die Anwesenden längst wussten, worum es ging. Diskutiert wurde nicht das Ziel, sondern die Ausführung. Hans-Christian Jasch:
"Töten und Vernichten steht nicht drin, sondern da heißt es, dass im Zuge der Endlösung Menschen zum Arbeitseinsatz nach dem Osten gebracht werden. Und dann heißt es wörtlich in einem Nebensatz, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. Und dann heißt es weiter, dass der endlich allfällig verbleibende Restbestand entsprechend behandelt werden muss."
Fast 50 Jahre sollten vergehen, bis aus diesem Ort der Täter ein offizieller Gedenkort wurde. Erst nach der Wiedervereinigung wurde das Haus der Wannsee-Konferenz 1992 eröffnet. Direktor Hans-Christian Jasch sucht nach Erklärungen.
Tätergruppen unterhalb der Ebene von Hitler, Himmler und Göring
"Ich glaube, man tat sich generell schwerer mit dem Namhaftmachen der Täter und den Verantwortlichen als mit der Empathie für die Opfer. Auch das war kein leichter Weg, aber sozusagen deutlich zu machen, wer die Täter waren und eben auch Tätergruppen zu benennen, die unterhalb der Ebene von Hitler, Himmler und Göring waren, damit tat sich die Nachkriegsgesellschaft schwer."
Leon Henry Schwarzbaum hat den Holocaust überlebt - und auch die meisten NS-Täter. Heute ist er 96 Jahre alt. Mit Anfang 20 wurde er nach Auschwitz deportiert. Die Nazis schickten seine Eltern sofort in die Gaskammer. An den letzten Blick seiner Mutter kann er sich noch gut erinnern.
"Man sah die Schornsteine Tag und Nacht brennen. Tag und Nacht kam aus dem Schornstein Feuer raus. Das waren Menschen, die man gerade verbrannt hat. Die hat man verbrannt mit einem Brandbeschleuniger. Grauenvoll. Und das roch fürchterlich, fürchterlich."
Vor einem Jahr war er Nebenkläger in einem der wohl letzten Auschwitz-Prozesse. Das Landgericht Detmold verurteilte den früheren SS-Wachmann Reinhold Hanning zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 170.000 Fällen. Statt einer Strafe wünschte sich Leon Henry Schwarzbaum lieber eine Einsicht des Täters.
"Die Menschen sollen wissen, was damals passiert ist"
"Mir ging es hauptsächlich darum, dass er die Wahrheit sagt, was er in Auschwitz getan hat. Er war Unteroffizier, der die Mannschaften eingeteilt hat. Wenn die Züge nach Auschwitz kamen, hat er die Leute eingeteilt, dass sie die Bewachung der Waggons teilnehmen, dass da keiner flieht. So wie wir als Opfer reden, sollte er auch als Täter reden für die Nachwelt. Für die Geschichte. Den Wunsch hat er mir nicht erfüllt."
Darum sei es so wichtig, an solchen Jahrestagen wie der Wannsee-Konferenz an die Verbrechen der Täter aus der NS-Zeit zu erinnern, sagt Leon Henry Schwarzbaum.
"Die Menschen sollen wissen, was damals passiert ist. Da es doch heute noch Menschen gibt, die das Verneinen. Das ist doch ein Mord, der in der Geschichte der Menschheit noch nie dagewesen ist."