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Warschauer Getto
Ein Leben mit Schmutz, Läusen und kaputten Schuhen

Durch die Augen seines Protagonisten Aron beschreibt der Schriftsteller Jim Shepard in seinem Roman "Aron und der König der Kinder" die miserable Situation der Juden im Warschauer Getto. Statt Schicksalsbetrachtungen und Innerlichkeit widmet er sich dabei den Äußerlichkeiten, die die Menschen zum Äußersten trieben.

Von Sascha Verna | 21.07.2016
    Zwei Juden, die sich in einem Haus versteckt hatten, werden von SS-Soldaten gefangen genommen. Die Aufnahme entstand während des Warschauer Ghetto-Aufstands, der vom 19. April 1943 bis zu seiner blutigen Niederschlagung am 16. Mai 1943 dauerte. Die Nationalsozialisten hatten ein Jahr nach der Besetzung Polens im November 1940 in Warschau ein Ghetto errichtet und dorthin annähernd eine halbe Million Juden verschleppt. Zwischen Juli und September 1942 wurden 300 000 Opfer in den Todeslagern, die meisten in Treblinka, ermordet. Als am 19. April 1943 die SS mit der Verschleppung der restlichen 60 000 Ghetto-Einwohner begann, leisteten mehrere hundert militärisch organisierte Juden bewaffneten Widerstand. Bei den Kämpfen wurden etwa 14 000 jüdische Aufständische getötet.
    Zwei Juden werden während des Aufstands im Warschauer Ghetto von SS-Soldaten gefangen genommen (1943). (picture alliance / dpa)
    Wer einen Roman über das Leben im Warschauer Ghetto schreibt, kann nur alles falsch machen. Wie viel Jim Shepard dennoch versucht hat, richtig zu machen, zeigt die umfangreiche Bibliografie am Ende seines Buches. Unter dutzenden anderen Titeln sind da Emanuel Ringelblums "Tagebücher aus dem Chaos" aufgeführt, ebenso wie "Die Vernichtung der europäischen Juden" von Raul Hilberg. Der Autor ist nach Polen gereist, hat Archive durchforstet und mit Zeitzeugen gesprochen. Das ist das Mindeste an Legitimation, die ein Beitrag zur Holocaust-Literatur heute vorzuweisen hat.
    Die Ereignisse in "Aron und der König der Kinder" werden aus der Perspektive eines Jungen geschildert. Aron ist zu Beginn des Romans sieben und am Ende dreizehn Jahre alt. Er ist erfunden. Beim "König der Kinder" handelt es sich um eine historische Figur. Janusz Korczak war der bekannte Arzt und Pädagoge, der im August 1942 mit den zweihundert Kindern und Mitarbeitern seines Warschauer Waisenhauses nach Treblinka verladen und dort ermordet wurde.
    Aron wird im letzten Drittel des Buches zu Korczaks Schützling. Davor ist er das zweitjüngste Mitglied einer Familie, in der er als Nichtsnutz gilt und die vor der Armut in einem Schtetl in die Armut der Hauptstadt flüchtet. Für die Rozyckis bedeuten der Einzug der Deutschen und die Errichtung des Ghettos zunächst nur eine unwesentliche Verschlechterung von ohnehin schon miserablen Verhältnissen. Doch wird die Lage bald auch für sie unerträglich. Aron hält die Seinen mit Schmuggeln über Wasser, bis von den Seinen niemand mehr übrig ist.
    Erzählung in gegenwärtiger Vergangenheit
    Erzählt wird in einer Art gegenwärtiger Vergangenheit. Ohne die Einsichten oder die Distanz eines Zurückblickenden gibt das Ich wieder, was um es herum geschieht. Meistens sind es Dialoge oder indirekte Dialoge:
    "Meine Mutter sagte, wir lebten wie Schiffbrüchige und die Wohnung sei schmutzig, und mein Vater sagte, wenn wir kein Geld für Brot hätten, hätten wir auch keines für Seife. Sie sagte, wenn wir erst einmal Fleckfieber hätten, bräuchten wir auch kein Geld für Seife, und mein Vater erwiderte, wenn wir erst einmal Fleckfieber hätten, müsse er sich nie wieder ihr Gejammer anhören. Mein älterer Bruder sagte zu ihnen, seiner Meinung nach sollten Ehepaare nicht so streiten."
    Statt mit Kategorien wie Gut und Böse operiert Jim Shepard mit Schmutz, Läusen und kaputten Schuhen. Statt Schicksalsbetrachtungen und Innerlichkeit widmet er sich den Äusserlichkeiten, die die Menschen zum Äussersten treiben. Auch Janusz Korczak, der sich am ehesten für die Rolle eines Heiligen eigenen würde, lässt er von sich sagen:
    "Ich bin nicht dazu da, um geliebt zu werden, sondern um zu handeln. Wenn man hier arbeiten will, muss man herzlos sein. Man muss mit Scheisse beschmiert sein, man muss stinken, man muss listig sein."
    Mit jeder Diskussion des Holocaust ist die Frage des "Warum?" verknüpft. Was Holocaust-Literatur betrifft, sollte man sich dieselbe Frage stellen. Warum noch ein Bild dessen, was vielleicht so gewesen ist, vermutlich aber ganz anders war?
    Keine üblichen Peinlichkeiten fiktiver Holocaust-Szenarien
    "Aron und der König der Kinder" ist Jim Shepards siebter Roman. Bisher hat sich dieser amerikanische Schriftsteller auch in seinen vier Erzählungssammlungen mit einem ganzen Strauss von Themen befasst: mit russischen Kosmonauten in Liebesnot und mit französischen Mördern des 15. Jahrhunderts, mit Lawinen in den Schweizer Alpen und mit dem Schöpfer des japanischen Filmmonsters Godzilla. Häufig drehen sich Shepards Werke um reale Gegebenheiten und Personen, immer geht ihnen eine intensive Recherche voraus. Mit seiner Version des Warschauer Ghettos hat sich Jim Shepard in einen Bereich der Phantasie gewagt, in dem im Grunde jegliche Phantasterei verboten ist. Es sei denn, Wissen wird dadurch um die Dimension des Verstehens erweitert.
    Shepards Protagonist bleibt keine Zeit zum Verstehen. Aron fungiert als Spiegel, der nicht reflektiert. Das ist ein weises Stilmittel, weil es die üblichen Peinlichkeiten fiktiver Holocaust-Szenarien zu vermeiden hilft, nämlich Pathos, Sentimentalität und obszöne Panoramen des Schreckens. Aber es ist zu wenig, um die Frage "Warum noch einen solchen Roman?" zu beantworten. Vom anderen "Warum?" ganz zu schweigen. Wer belletristisch über das Leben im Warschauer Ghetto schreibt, kann fast nur daran scheitern. Wenigstens ist das Scheitern im Fall von Jim Shepard lesbarer als das von manchen anderen.
    Jim Shepard: "Aron und der König der Kinder"
    Aus dem Amerikanischen von Claudia Wenner.
    C.H. Beck Verlag, München 2016. 270 Seiten. 19.95 Euro