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Warum wir Dinge manchmal buchstäblich falsch sehen

Joke van Leeuwens zeigt uns in "Augenblick mal. Was wir sehen, wenn wir sehen", dass wir manchmal in das, was wir sehen, ganz schön viel reininterpretieren. So, wie wir in einem knorrigen Ast ein Gesicht zu erkennen glauben, zum Beispiel. Und sie erklärt uns auch, warum. In "Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor" geht es dagegen um ein Mädchen, das zum Flüchtling wird - und lernen muss, die Welt anders zu sehen.

Von Martina Wehlte |
    "Wo jasel dö?
    Brallewosewie, dussel! - Wiesel jö wu wis Jamjam?
    Tömölind!
    Wiesel jö wu hirre Schlaferie?
    Ö no gripsel."


    Nein, das ist nicht aus dem elbischen Wörterbuch nach Tolkien, das im Buchhandel erhältlich ist und bei Herr-der-Ringe-Fans Kultstatus hat. Aber es klingt genauso kryptisch, nicht wahr? Und weil man ja den Sinn nicht versteht, bekommt die Phonetik der Wörter einen besonderen Reiz. Der kurze Dialog – er kreist ums obligatorische "Wie geht's?" und gastronomische Fragen - stammt aus dem Sprachkästchen Joke van Leeuwens.

    Für die renommierte niederländische Schriftstellerin und Grafikerin ist ein erfindungsreicher, spielerischer Umgang mit der Sprache, und eine kongeniale Verbindung von Text und Zeichnung, in ihren dreieinhalb Schaffensjahrzehnten charakteristisch geworden. Ebenso wie Humor und ein Erproben immer neuer Sichtweisen, die den Blick auf scheinbar Eindeutiges schärfen und versteckte Sinnebenen oder manipulative Absichten erkennen lassen.

    Und genau darum geht es in ihrem Buch "Augenblick mal. Was wir sehen, wenn wir sehen". Auf den ersten Blick meint man ein Kinderkunstbuch in der Hand zu haben, doch es geht an Beispielen aus Kunst und Werbung nicht nur ums Anschauen und Deuten, sondern um ein kritisches Sehen an sich; und das ist ein höchst komplexer subjektiver und auch recht unzuverlässiger Vorgang, wie die niederländische Autorin weiß:

    "Ich wollte nicht nur ein Buch schreiben über Kunst. Ich wollte ein Buch schreiben über Sehen, über Beobachten. In jedem Kapitel nehme ich ein Thema, zum Beispiel, wie man beeinflusst wird von Werbe (-ung) oder wie man andere Sachen imitiert oder Symbole."

    Über den Sehsinn erhalten wir etwa 80 Prozent unserer Informationen, die wir dann im Gehirn verarbeiten. Wie das vor sich geht – nämlich in Rückkopplung und Abgleichung mit schon Bekanntem und Erlebtem – zeigt Joke van Leeuwen an Bildausschnitten, die unser inneres Auge vervollständigt: an einem knorrigen Ast, der in unserer Fantasie ein Gesicht wird, an der Suggestion von Bewegung durch bestimmte Darstellungsmethoden, an Fotomontagen oder der Kombination von Zeichnung und Sprache im Comic. Sie behandelt in ihren zwölf Kapiteln Bild und Text gleichwertig und in kurzen Einheiten.

    "Meine ersten Bücher – das ist jetzt fast dreißig Jahre her - waren auch Bild und Text zusammen. Ich denke auch, dass es gut ist, dass Comic, Graphic Novel, dass die auch interessant sein können und nicht nur Entertainment. Das hat angefangen, - ich denke mit der 'Maus' in den neunziger Jahren und es gibt sehr viele interessante Graphic-Novel-Bücher, ja."

    Joke van Leeuwen hat originelle Einfälle, um den allbekannten Satz "Das Bild entsteht im Auge des Betrachters" anschaulich zu machen. Da sind ihre eigenen Zeichnungen in dem charakteristischen vereinfachenden Stil und mit ihrem großnasigen Personal. Da ist ein schlichtes Küchenmesser, das ebenso gut als Vogel - oder eben nur als Druckerschwärze auf Papier gesehen werden kann. Und das Foto von Wladimir Putin, der etwas verloren inmitten von europäischen Staats- und Regierungschefs steht, von denen mehrere zu Boden blicken. Suchen sie gemeinsam nach Putins Kontaktlinse, wie uns die Bildunterschrift glauben machen will, oder was ist da los? Die Diskrepanz zwischen Wort und Bild und den Umstand, dass man in ein Bild alles hineindeuten kann, macht die folgende Begebenheit deutlich, die Joke van Leeuwen in ihrem Buch schildert:

    "Ich war einmal in einem Dorf auf einer Insel an der Ostküste von Afrika. Dort wurde eine Fernsehreportage gedreht, und ich sollte dazu ein Tagebuch auf Band sprechen. In einer großen Hütte sangen kleine Kinder ein Lied. Ein Mädchen war Vorsängerin: Sie sang jeweils eine Liedzeile vor, die dann von den anderen nachgesungen wurde. Ich hatte so kleine Kinder noch nie so schön und kraftvoll singen hören. Draußen vor dem Fenster standen ein paar zehnjährige Jungen und starrten neugierig nach drinnen. Dann kam der Kameramann zur Tür herein, ein großer weißer Mann mit einer großen schwarzen Kamera. Dieser fremde Riese mit dem fremdartigen Ding auf der Schulter machte den kleinen Kindern große Angst. Sie fingen fast alle an, zu weinen. Und das wurde gefilmt. Später konnte man bei uns im Fernsehen weinende kleine afrikanische Kinder sehen, und es sah aus, als weinten sie vor Hunger. Was ja nicht stimmte. Und die Jungen draußen vor dem Fenster warteten auch nicht auf Essen, sondern waren einfach neugierig. Jeden Tag werden von dem, was auf der Welt passiert, neue Fotos und Filme gemacht. Was sie zeigen und was nicht, entscheiden die Leute, die sie machen. Und die entscheiden auch, wie sie es zeigen."

    So sind wir "Augentiere" durch die Medien und ihre Bilder beeinflussbar. Das ist ein wichtiger Aspekt, auch in der Kunst, der in anderen Büchern viel zu kurz kommt. Wie manipulativ mit Bildern umgegangen wird, wie suggestiv sie wirken und wie sehr jede Bewertung abhängig ist von der Zeit, den Vorkenntnissen und dem Interesse des Betrachters, das zeigt Joke van Leeuwen am Wandel von Schönheitsidealen, die sie an einem antiken Relief, einem halb entblößten jungen Paar auf einem Werbeplakat, der Barbiepuppe und an einer opulenten Plastik von Botero vorführt:

    "Ja, ich denke, dass ich auch darüber geschrieben habe, dass die Idee, was schön ist und was nicht, sich ändert. In einer anderen Zeit hat man einen anderen Blick darauf gehabt."

    Eine mindestens ebenso große Rolle spielt bei der Auswahl ihrer Bildbeispiele der Humor. Zum Beispiel in Jan Molenaers lustiger Alltagsszene einer Mutter, die ihrem Kind den Po abwischt, während sich der Vater die Nase zuhält, - ein typisches holländisches Genrebild des siebzehnten Jahrhunderts, innerhalb einer Reihe von Darstellungen zu den fünf Sinnen als Allegorie des Geruchssinns aufgefasst.

    Das Leben mit einem Lächeln oder Augenzwinkern zu sehen, das ist Joke van Leeuwens Kunst, denn:

    "Dann bekommt man etwas, das leicht und schwer zusammen ist, so muss das sein."

    Und dann kommt man auch besser mit der Einsamkeit zurecht, dem Auf-sich-gestellt-Sein, wie es Joke van Leeuwen in vielen ihrer Bücher thematisiert und trotz mehrerer Geschwister selbst als Kind erlebt hat. So ist das auch in ihrem gerade erschienenen Buch "Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor". Es behandelt ein ernstes Thema mit den Augen eines Kindes – naiv im unschuldigen Sinne des Wortes. Denn hinter dem grotesken Titel steckt die Geschichte eines kleinen Mädchens, dessen Vater in den Krieg zieht und das deshalb quer durchs nunmehr unsichere Heimatland zu ihrer getrennt lebenden Mutter geschickt wird. Ein Flüchtlingsschicksal, wie es in vielen Krisenregionen der Welt allgegenwärtig ist. Joke van Leeuwen hat es nicht selbst erfahren müssen, aber der unmittelbare Bezug war da. Schon ihre Großeltern hatten im Ersten Weltkrieg belgische Flüchtlinge aufgenommen, ihre Eltern im Zweiten Weltkrieg Flüchtlinge aus Westholland, später Afrikaner aus Eritrea und aus Südafrika; und schließlich sie selbst bosnische Flüchtlinge. Die Begegnung mit diesen Menschen, ihre Erzählungen und ihre Situation der Heimatlosigkeit und Abhängigkeit waren der Auslöser, das Thema aus Sicht eines Kindes aufzugreifen:

    "Dann habe ich gedacht, ich muss eine Geschichte schreiben, nicht über ein Land, das ich nenne, so ein spezielles Land, sondern weiter, das kann belgisch sein, das kann bosnisch sein, - und es ist halb Fantasie, aber es ist nicht nur Fantasie, es ist mit beiden Beinen in der Wirklichkeit. Es sind viele Sachen, die Flüchtlinge erfahren müssen, ..."

    Doch die ganze Dimension eines Krieges, eines Flüchtlingsschicksals bleibt sowohl der Hauptfigur als auch den jungen Lesern der Geschichte – sie wird ab neun Jahren empfohlen - wohlweislich verborgen. Erzählt wird aus der Perspektive einer kleinen Bäckerstochter. Weil sie nichts von Krieg und Militär weiß, sieht sie ihren Vater, der plötzlich eingezogen wird, in der Tarnkleidung als einen Busch, was Joke van Leeuwen grotesk ins Bild setzt, indem sie aus seiner Jacke kahle Äste wachsen lässt. So kam das Buch auch zu seinem Titel "Als mein Vater ein Busch wurde" statt des ursprünglich geplanten "Als mein Vater in den Krieg zog". Doch der Humor, der daraus zu sprechen scheint, ist vordergründig; die scheinbar harmlosen Dialoge und skurrilen Situationen in der Geschichte haben etwas Bedrohliches, das die Schwarz-Weiß-Zeichnungen noch unterstreichen. Joke van Leeuwens Kinderfiguren leben in einer anderen Welt als die Erwachsenen, nicht in einer verklärten Friede-Freude-Eierkuchen-Welt, sondern in einer "normalen", "ehrlichen", gegenüber der die Maßstäbe der Erwachsenen fragwürdig werden, ihre Eitelkeiten lächerlich und gefährlich zugleich wirken. So sitzt das kleine Mädchen, in einem viel zu großen Sessel versunken, einem berühmten General im Ruhestand gegenüber, der es mit zu sich nach Hause genommen hat; und es kann weder mit dessen Namen noch Ehrenabzeichen etwas anfangen. Er ist auch kein liebenswürdiger Opa, sondern ein furchteinflößender, wenn auch inzwischen zahnloser.

    "Ich werde dich testen", sagte er. "Ich habe nämlich einen ausführlichen Test erfunden, mit dem man herausfinden kann, wie viel Angst jemand hat. ... Wir beginnen mit ANGST MACHENDE WÖRTER, danach kommen ANGST MACHENDE BILDER und danach UNERWARTETE SITUATIONEN."

    Da ist sie wieder, die suggestive Macht der Sprache und der Bilder, der wir allzu willenlos erliegen, anstatt sie zu hinterfragen, wie es Joke van Leeuwen tut, - bei ihren Stadtgängen durch Antwerpen, wo sie lebt, und in ihren Büchern.
    Weil aber das Schwere und das Leichte für sie zusammengehören und weil sie – wie sie es selbst ausdrückt – mit einer Seele erzählt, lässt sie ihre Geschichte von dem namenlosen Mädchen hoffnungsvoll ausklingen:

    "Jetzt wohne ich bei meiner Mutter", heißt es am Ende des Buches. "Und ich bleibe hier, bis die einen und die anderen aufgehört haben, gegeneinander zu kämpfen. Ich bleibe hier, bis mein Vater kein Busch mehr zu sein braucht."

    Joke van Leeuwen: "Augenblick mal. Was wir sehen, wenn wir sehen, und warum". Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. 127 S., Gerstenberg Verlag (Originalausg. Amsterdam bei Querido), 2009. Preis: 14, 95 Euro.

    Joke van Leeuwen: "Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor". Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. 121 S., Gerstenberg Verlag. Preis: 12,95 Euro. Ab 9 Jahren.