Lange: Welchen Status haben diese Gefangenen nach Ihrer Auffassung?
Birnbaum: Es ist mir unklar. Zunächst weiß man nicht, was diese Gefangenen sind. Sind sie Taliban? Die Hauptbeschuldigung gegen die Taliban ist, dass sie Bin Laden und seine Leute beherbergt haben. Aber haben diese Leute etwas mit dieser Entscheidung zu tun oder sind sie untergeordnet? Man weiß das auch nicht. Falls sie El-Kaida-Mitglieder oder mutmaßliche Anhänger dieses Terrorismusnetz sind, was hat jeder spezifisch getan? Nach unserer Rechtsauffassung genügt es nicht, dass man durch seiner Nachbarschaft, sondern durch das eigene Tun verurteilt wird. Dies alles ist unklar. Wir haben sozusagen Leute gefangengenommen bzw. gekidnappt und nach Mutmaßungen 6.000 Meilen verschleppt. So kann ein Rechtsstaat nicht vorgehen. Besser wäre es, diese Leute vor einer internationalen Behörde zu stellen, aber das hat unsere Regierung glatt abgelehnt.
Lange: Erweist es sich jetzt als Fehler, dass die USA dem internationalen Strafgerichtshof noch nicht beigetreten sind?
Birnbaum: Ja, viele von uns glauben, dass das ein Fehler ist, aber das hat mit dieser seltsamen Mischung aus Arroganz und Provinzialismus zu tun, die unsere Weltanschauung charakterisiert. Alle anderen Leute könnte man vor solche Gerichte bringen, nur nicht Amerikaner. Deswegen haben wir nicht unterzeichnet. Unsere Regierung und unsere außenpolitische Elite wollte auch nicht die Kontrolle über gewisse Dinge verlieren.
Lange: In den USA selbst soll es nach dem 11. September über 1.000 Verhaftungen gegeben haben. Mehr als die Hälfte der Betreffenden sind angeblich immer noch in Haft. Was erfahren Sie über dieses Vorgehen von Polizei und Justiz? Was ist davon zu halten?
Birnbaum: Es ist auch sehr dunkel. Gegen viele dieser Leute liegt nichts außer Übertretungen des Einwanderungsgesetzes vor, aber trotzdem unterliegen sie oft furchtbaren Haftbedingungen. Sogar unser Justizminister hat gesagt, dass man die Unterhaltungen zwischen Rechtsanwälten und Mandanten mithören dürfen wird. Das ist ein Verstoß gegen unser Rechtssystem. In dieser Hinsicht sind die Rechter dieser Leute abgeschnitten. Wir hatten diese Art von Maßnahmen, diese Beschränkungen schon vorher. Während der Französischen Revolution gab es Fremdenunterminierungsgesetze, es gab während den zwei Weltkriegen repressive Maßnahmen, regelrechte Hexenverfolgungen gegen Andersdenkende, die angeblich Kommunisten oder kommunistenfreundlich waren. Aber hier haben wir eine Art kalkulierte Maßnahmen, die direkt gegen unsere Rechtstradition gerichtet sind, und ich muss sagen, es gibt zwar Kritik bei vielen Richtern, Rechtsanwälten und Bürgerrechtlern, aber generell nimmt das Volk dies gutmütig hin, weil das als eine Art Notwehrmaßnahmen dargestellt wird. Das ist eine Fortsetzung von dem, was wir als National Security State bezeichnen, und unter diesem Vorwand werden auch die Rechte von gewöhnlichen Bürgern abgeschnitten.
Lange: Manche Verfassungsgerichte, liberale wie konservative, klagen, dass sich seit dem 11. September die Macht des Präsidenten ohnehin zu Lasten von Parlament und Justiz vergrößert hat. Ist die Balance gefährdet?
Birnbaum: Solange diese Atmosphäre von Notstand herrscht, haben wir eine Fortsetzung oder eine Vertiefung davon, was ein Historiker imperiale Präsidentschaft genannt hat, d.h. die Ausdehnung unter Notstandsumstände von exekutiver Verfügungsgewalt, die es dem Präsidenten auch erlaubt, einfach über die Verfassung und Gewaltenteilung hinweg zu schauen und so zu handeln, wie er gutheißt.
Lange: Das heißt, erst wenn sich dieses Notstandsgefühl legt, wäre ein Umschwung möglich, dass sich das wieder in eine neue Balance begibt?
Birnbaum: Richtig. Und es gibt auch die Möglichkeit, dass verschiedene Rechtsanwälte und andere sozusagen Verfassungsklagen einreichen oder gegen die Tatsache vorgehen, dass gewisse Maßnahmen nicht verfassungskonform sind. Aber das ist ein langwieriger Prozess. Da viele Richter Republikaner sind, sind die Gerichte sehr zurückhaltend, wenn es darauf ankommt, Präsidentenrechte oder Befugnisse im Sicherheitsbereich einzuschränken. Von unserem jetzigen Obersten Gericht, dem Supreme Court, ist nicht viel zu erwarten.
Lange: Vielen Dank für das Gespräch.
Link: Interview als RealAudio